Gegenwart
Ihr war so übel von der Hitze, die in diesem winzigen, stickigen Raum herrschte, dass sie von ihren heftigen Magenkrämpfen fast ohnmächtig wurde. Mühsam würgte sie die bitter-saure Flüssigkeit, die abermals ihre Speiseröhre heraufdrängte, wieder hinunter. Jetzt bloß nicht übergeben! Sie atmete tief durch. Es war heiß und dunkel. Nur durch eine winzige Ritze fiel ein heller Lichtschein. Erkennen konnte sie trotzdem nichts. Du weißt ja gar nicht, wo du bist! Wieder durchschüttelte eine Krampfwelle ihren Körper, und diesmal schaffte sie es nicht, dagegen anzukämpfen. In einer riesigen Fontäne spie sie ihren Mageninhalt aus. Der saure Geruch breitete sich um sie herum aus und ihr Atem stockte. Angewidert versuchte sie, sich wegzudrehen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Arme und Beine waren fest verschnürt. Sie konnte sich weder vor- noch zurückbewegen. Kraftlos ließ sie den Kopf nach unten fallen und landete dabei mit ihrer rechten Wange direkt in ihrem eigenen Erbrochenen. Gequält fing sie an zu schluchzen. Schon liefen ihr die Tränen in dicken Kullern über die Wangen. Jetzt reiß dich zusammen! Überlege lieber, wie du hier rauskommst! Spare deine Energie! Sie biss sich auf die Unterlippe und der Tränenstrom versiegte. Ihr Atem ging schwer.
Der Käfig, in dem sie gefangen war, veränderte sich unvermittelt. Sie schwebte! Metall schürfte auf Metall und kreischte laut auf. Dann fiel sie nach unten und der Absturz endete mit einem dumpfen Aufprall. Das kreischende Metallgeräusch schien näher gekommen zu sein. Die Schallwellen der schneidenden Laute fraßen sich in ihren Verstand und sie bekam eine Gänsehaut. Sie konnte diese Töne nicht zuordnen. War sie im Vorhof der Hölle gelandet? Was verursachte nur diese schweren Geräusche, die um ihren Kopf dröhnten?
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war ein Gespräch mit einem ihrer Kunden auf einer Abendveranstaltung. Sie sah den großen Cocktail vor sich, aus dem sie genüsslich getrunken hatte. Doch ab diesem Zeitpunkt verlor sich die Spur, und ihr Gedächtnis weigerte sich hartnäckig, die Erinnerung an das danach Erlebte preiszugeben.
…
Jedes Mal, wenn er sie ansah, wusste er, warum man vom schwachen Geschlecht sprach! Sie wollten wie Männer sein, alle ihre Privilegien genießen, doch konnten sie längst nicht dasselbe aushalten. Alleine diese Tatsache war für ihn schon Sünde genug! Er schlug die Bibel auf und begann leise zu lesen:
»Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot. Sie wird aber dadurch gerettet werden, dass sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie in Glaube, Liebe und Heiligkeit ein besonnenes Leben führt.«
Diese Worte stammten aus dem ersten Timotheus Brief. Wütend schlug er die Bibel zu. Sie bereitete ihm viel mehr Arbeit als die Männer. Er musste ihr Erbrochenes beseitigen, wenn der Gestank nicht unerträglich werden sollte. Er stand auf und schlug wütend mit der nackten Faust gegen die Wand. So heftig, dass ein roter Blutfleck an der Stelle zurückblieb. Das würde sie noch bereuen, diese Sünderin! Immer noch wütend schaltete er die Monitore aus und verließ den Platz.
…
Die Spurensicherung stellte auf der Suche nach DNA-Spuren die Wohnung des vermissten Markus Heilkamp komplett auf den Kopf. Sie befanden sich auf dem kleinen Bauernhof an der Stürzelberger Straße am Ortsausgang von Zons. Im Badezimmer und in der Küche wurden Unmengen an genetischem Material sichergestellt, welches jetzt verpackt in großen Plastiktüten verstaut wurde. Auf dem Kopfkissen im Schlafzimmer konnten Kopfhaare des Vermissten gesichert werden. Der Forensiker nahm sie vorsichtig mit einer silberfarbenen Pinzette vom Kopfkissen auf. Er sah dabei aus wie ein Marsmännchen. Eingehüllt in einen schneeweißen Anzug mit einer ebenso weißen Kopfbedeckung. Die Überschuhe, die sie alle anhatten, verliehen ihnen ein absurdes plüschiges Äußeres und raschelten laut bei jedem Schritt.
Oliver hasste diese Überschuhe aus weißer Folie. Sie erinnerten ihn an einen Operationssaal im Krankenhaus, in dem stets auf absolute Sterilität achtgegeben werden musste. Er blickte sich in der Wohnung von Markus Heilkamp um. Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin. Sie hatten keine Koffer vorgefunden und im Kleiderschrank konnten sie ein paar Lücken entdecken. Natürlich waren es vorerst nur Mutmaßungen, aber Oliver glaubte, dass ein paar Hemden und Hosen nicht an ihrem Platz lagen oder hingen. Es sah ganz so aus, als hätte Markus Heilkamp sich auf Reisen begeben.
Oliver blickte aus dem Fenster. Er sah ein riesiges Gerstenfeld vor sich, dessen Ähren sich sachte im Wind hin-und herbewegten. Ein paar große, alte Weidenbäume säumten den Rand des Feldes und luden geradezu zu einem schattigen Picknick ein. Wie gerne würde Oliver an einem so idyllischen Ort leben. Er fragte sich, wie man so einen Ort nur freiwillig verlassen konnte. Ob es Emily hier auch gefallen würde? Erstaunt stellte Oliver fest, dass er sich ein Leben mit ihr an seiner Seite vorstellen könnte. Das hatte er noch nie für eine Frau empfunden. Schon sah er sich mit ihr unter einer dicken Weide sitzen, wie sie vergnügt eine Flasche Rotwein tranken. Unwillkürlich musste Oliver lächeln.
»Was hast du denn für schöne Tagträume!«, raunzte Klaus ihn von der Seite an und holte ihn jäh aus seiner Fantasie zurück. Oliver hatte ihn gar nicht bemerkt. Er musste schon eine ganze Weile neben ihm gestanden haben. Olivers Handy klingelte. Der Name seiner Mutter erschien auf dem Display. Wie immer hatte sie sich einen unpassenden Moment ausgesucht.
»Hallo Mama, wie geht es dir?«
»Das Fenster ist wieder repariert, aber die Polizei hat das Ermittlungsverfahren eingestellt. Stell dir vor, sie haben es als geringfügig bezeichnet. Wie kann ein eingeschlagenes Kellerfenster harmlos sein? Vielleicht wollte mich jemand umbringen!«
»Mama, jetzt beruhige dich. Ich rede noch einmal mit den Kollegen, damit du ganz sicher sein kannst, dass dir nichts zustößt.«
»Kommst du denn am Wochenende nach Hause, mein Junge?«
Oliver kratzte sich am Kopf. Das passte ihm gar nicht. Er wollte das Wochenende unbedingt mit Emily verbringen. Er zögerte mit einer Antwort.
»Was ist los mit dir, mein Junge? Willst du mich denn nicht besuchen kommen?«
»Nein, ich meine: ja«, Oliver lief rot an und versuchte es dann mit einer kleinen Notlüge. »Wir haben ein Seminar von der Polizeiakademie am Wochenende. Ich befürchte, wir müssen das auf ein anderes Mal verschieben.«
Die Stimme seiner Mutter klang enttäuscht und als ob sie ihm nicht glaubte.
»Gut, mein Junge. Aber nächstes Wochenende musst du kommen. Ich möchte sehen, dass mit dir alles in Ordnung ist.«
In Wirklichkeit möchtest du doch nur nicht alleine sein, dachte Oliver, verkniff sich diese Worte jedoch. Er konnte sie gut verstehen. Sie war einsam, und er war alles, was ihr nach dem Tod seines Vaters geblieben war. Oliver hatte ein schlechtes Gewissen, aber er musste sein eigenes Leben führen, und das bestand zurzeit im Wesentlichen aus Emily.
Erneut klingelte sein Handy. Diesmal war es die Polizeiwache in Neuss.
»Guten Tag, Herr Bergmann. Ich habe hier einen jungen Mann vor mir stehen, der auf einem Parkplatz an der Edisonstraße in der Nähe der B9 bei St. Peter Knochenreste gefunden hat. Ich dachte, ich gebe Ihnen sofort Bescheid.«
…
Emily und Anna standen vor dem Kreisarchiv Neuss, welches sich mitten in Zons befand. Direkt gegenüber lag die Touristeninformation, untergebracht in einem kleinen, alten Häuschen. Dort sammelte sich gerade eine Gruppe von Besuchern, die an einer Stadtführung teilnehmen wollten.
Emily und Anna betraten das Kreisarchiv und begegneten einem eilig hin- und her huschenden Archivar. Dietrich Hellenbruch war offenbar damit beschäftigt, seine Sachen zu packen. Dafür, dass er das linke Bein nachzog, bewegte er sich erstaunlich behände. Zuletzt ergriff der Archivar seinen Autoschlüssel und wollte an den beiden Freundinnen vorbei hinaus ins Freie.
»Entschuldigen Sie bitte, wir brauchen Ihre Hilfe.«
Der Archivar blieb stehen und sah die beiden an. Verdammt, er wollte zu McDonald’s. Die Schicht seiner Marie begann in einer Viertelstunde, und er wollte unbedingt der Erste sein, der sie heute zu Gesicht bekam. Die beiden jungen Dinger hier konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Er betrachtete sie. Die kleine Italienerin, die er schon einmal im Winter gesehen hatte, gefiel ihm immer noch sehr gut, wenngleich sie mit Marie natürlich nicht mithalten konnte. Sollte er sie einfach stehen lassen und sie bitten, in zwei Stunden noch einmal wiederzukommen? Nein, er wollte keinen Ärger mit seinem Chef. Marie würde warten müssen. Er seufzte unzufrieden und ließ seine Tasche auf den Tresen fallen.
»Ich habe nicht viel Zeit, meine Damen! Außerdem erinnere ich mich sehr gut an Sie beide. Über den Puzzlemörder kann ich Ihnen nichts weiter sagen und außerdem ist Ihre Reportage doch bereits veröffentlicht, junge Dame!«
Er blickte Emily durchdringend an. Sie schrak zurück. Seine Marie würde ihn nie so ansehen. Er schob seine dicke Hornbrille den Nasenrücken hinauf und setzte ein Grinsen auf.
»Wir suchen Informationen zu den nächsten Mordfällen, die Bastian Mühlenberg untersucht hat. Nach meinen Informationen hat im Sommer 1496 erneut ein Serienmörder sein Unwesen in Zons getrieben.«
»Ach, Sie meinen den Verrückten, der den Sündern mit einer Sichel den Garaus gemacht hat? Ich kann Ihnen sagen, dass dies ganz besonders düstere Tage im alten Zons waren. Jeder hatte Angst, vom Sichelmörder erwischt zu werden. Ob Männer oder Frauen, er war nicht wählerisch! Nur die Kinder hat er verschont, weil sie nach seiner Auffassung unschuldig waren. Aber lesen Sie das am besten selbst. Ich habe heute nicht viel Zeit, wissen Sie«, er schaute demonstrativ auf seine Uhr. »Dringende Termine, die nicht ewig auf mich warten werden.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und lief zum hinteren Raum des Archivs. Emily erinnerte sich noch gut an diesen Raum. Er war viel größer, als man zunächst vermutete, und es standen riesige, verstaubte Regale dort drin. Eine Gänsehaut befiel sie, als sie sich daran erinnerte, wie sie alleine mit dem Archivar dort drinnen stand und die dicke Tür geräuschvoll ins Schloss fiel. Sie hatte damals einen Riesenschreck bekommen, weil sie zunächst glaubte, mit diesem alten, komischen Kauz dort eingeschlossen zu sein. Sie war froh, dass sie heute Anna bei sich hatte.
Sie liefen dem hinkenden Archivar hinterher. Der Raum war immer noch genauso staubig, wie bei Emilys letztem Besuch. Die riesigen Regalreihen waren so lang, dass man das Ende des Raumes nicht erkennen konnte. Der Archivar blieb vor einem kleineren Regal mit Karteikarten stehen. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Dann nickte er kurz und zog eines der oberen Karteikästchen hervor.
»Hier, meine jungen Damen. In diesem Karteikasten sind alle Zonser Vorfälle aus dem Jahr 1496 aufgeführt. Genauer gesagt beginnt alles im Mai des Jahres. Auf jeder Karteikarte finden Sie eine Zusammenfassung der archivierten Unterlagen und eine Angabe, wo diese sich im Archiv befinden. Es handelt sich meist um Kopien. Jede Regalreihe beginnt mit einem Großbuchstaben und die Abschnitte sind mit römischen Ziffern gekennzeichnet. Manchmal ist auch noch die Regalnummer angegeben, sodass man nicht von oben bis unten suchen muss. Ich gebe Ihnen eine Stunde, sich hier umzusehen. Aber alles andere rühren Sie nicht an! Verstanden? Ich muss jetzt kurz zu meinem Termin. Enttäuschen Sie mich nicht!«
Er ließ die Schublade mit den Karteikarten offen, wartete bis Emily und Anna nickten, und humpelte dann eilig aus dem Raum. Krachend schlug die Tür zu und Anna schrak zusammen. Es war kühl in dem von flackernden Neonleuchten matt erhellten Raum.
»Hier ist es unheimlich«, flüsterte Anna, ohne den Blick von den Regalen abzuwenden.
»Wie viele Unterlagen hier wohl insgesamt lagern?«, fragte sie mit Bewunderung in der Stimme. »Das müssen ja Tausende sein.«
Emily, die die düstere Atmosphäre des Raumes bereits kannte, blätterte längst konzentriert durch die Karteikarten. Sie hielt inne und zog eine Karte heraus.
»Sieh mal, Anna. Bastian Mühlenberg hatte ein eigenes Tagebuch über die Morde angelegt. Das muss ich unbedingt haben. Es steht in Reihe B 20.«
Sie trat zurück und betrachtete angestrengt die Buchstaben auf den einzelnen Regalreihen. Das konnte doch gar nicht sein. Die erste Reihe begann mit A und dann folgte eine weitere Reihe mit C, dann kamen D, E, F … und immer so weiter. Wo war die Reihe B hin?
»Anna, kannst du Reihe B sehen? Ich kann sie nicht finden.«
Emily wandte sich um und ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus.
»Anna?«
Sie ging drei Regalreihen weiter und rief lauter:
»Anna, wo bist du?«
Keine Antwort. Panik stieg in ihr auf. Hastig drehte sie sich um sich selbst und lief zu der Stelle zurück, an der Anna eben noch gestanden hatte.
Ihre Fußspuren waren auf dem staubigen Boden zu erkennen. Sie liefen nach links und verschwanden genau zwischen den Regalreihen A und C.
»Ich habe es!«
Eine dunkle Lockenmähne lugte am Ende des Raumes zwischen den Regalen hervor. Emily atmete erleichtert auf.
»Du hast mich erschreckt, Anna!«, schnaubte sie und lief zwischen den Reihen direkt auf Anna zu. Am Ende des Regals A schloss sich nahtlos Regal B an. Eigentlich war es ein und dieselbe Regalreihe. Kein Wunder, dass Emily Schwierigkeiten gehabt hatte, das Regal B zu finden.
»Ich habe sein Tagebuch gefunden.«
Stolz hielt Anna es ihr entgegen. Dann wühlte sie weiter in einer Kiste mit Unterlagen und zog ein kleines Porträt hervor. Es war ein altes Ölgemälde, welches Bastian Mühlenberg in seiner Uniform mit Lanze zeigte. Anna betrachtete das Bild versonnen.
»Du glaubst immer noch, dass du ihn gesehen hast, oder?« Anna seufzte.
»Ach, Emily. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie real sich das Ganze angefühlt hat. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Emily nahm Anna das kleine Gemälde aus der Hand und betrachtete es.
»Eines muss man wirklich festhalten. Er sah verdammt gut aus.« Sie grinste Anna an und gab es ihr zurück.
»Wann musst du die Reportage fertig haben?«
»Oh, ich habe diesmal bis zum Ende des Sommers Zeit. Es sollen wieder drei Teile werden, und ich hoffe, dass sie genauso gut ankommen, wie die letzte Reportage.«
»Da bin ich mir ganz sicher!«, erwiderte Anna.
Sie sichteten noch eine Weile die Papiere und markierten sich die wichtigsten Stellen, die Emily kopiert haben wollte. Annas Smartphone klingelte. Sie sah Jimmys Nummer auf dem Display und überlegte kurz, ob sie abheben sollte. Aber dann dachte sie daran, wie dringend Matthias Kronberg ihre Kreditzusage erwartete, und nahm ab.
»He Schätzchen«, säuselte Jimmy ihr ins Ohr, »ich habe gute Neuigkeiten für dich. Das heißt, erst musst du mit mir essen gehen, und dann erzähle ich es dir.«
»Mach keine Scherze, Jimmy. Ich habe meinem Kunden versprochen, ihn heute noch zurückzurufen. Es ist schon fast Abend. Eigentlich bin ich schon viel zu spät dran.«
»Du wirkst immer so angespannt«, maulte Jimmy am anderen Ende der Leitung.
»Ich schaue schon den ganzen Tag auf mein Smartphone und habe immer noch keine Entscheidung aus der Risikoabteilung. Hast du mit denen gesprochen?«
»Nicht direkt. Aber wenn du zusätzlich meine neue Swap-Transaktion an den Mann bringst, dann erhöhen sie das Limit.«
»Wirklich?«, Anna staunte. Diese Information lag ihr noch gar nicht vor.
»Ja, kommt direkt aus der Vorstandssitzung. Wenn du mit mir essen gehst, schicke ich dir das Protokoll und du kannst dem Risikomanagement Feuer unterm Hintern machen. Das heißt, wenn dein Kunde den Swap haben will.«
»Ich habe ihm das Geschäft schon erklärt«, erwiderte Anna. Gut, ihm bliebe sowieso nichts anderes übrig. Er brauchte Geld und musste damit jetzt ein paar gute Investitionsentscheidungen treffen, ansonsten wäre er so oder so am Ende.
»Wir reden immer noch von den Swaps, die an den japanischen Yen gekoppelt sind?«
»Ja, Schätzchen, und die Aussichten sind rosig. Vertrau mir!«
Anna dachte kurz nach. Wenn der Deal schiefging, dann war ihr Kunde drei Wochen eher pleite, als nach der jetzigen Prognose. Drei Wochen früher oder später, das war kein großer Unterschied. Sie würde es ihm genau erklären müssen, aber so hatte er überhaupt erst eine Chance. Ansonsten könnte er direkt Insolvenz anmelden und es seiner Frau beichten.
»Also gut, Jimmy. Schicke mir das Protokoll und ich rufe direkt im Risikomanagement an.«
»Erst musst du dein Versprechen einlösen!«, flötete er verführerisch in ihr Ohr.
Anna drehte die Augen nach oben. Typisch Jimmy, er konnte einfach nicht aufgeben!
»Ich habe am Freitagabend eine Kundenveranstaltung. Machen wir einen Kompromiss und essen dort?«
»Nur wenn du mir versprichst, einen Cocktail mit mir zu trinken, Schätzchen.«
»Gut, einverstanden.«
…
Ungläubig stand Oliver auf dem Parkplatz in der Nähe der B9. Hier war ein junger Mann erneut auf Knochen gestoßen. Klaus neben ihm runzelte die Stirn.
»Woran willst du erkennen, dass es wieder ein Fußknochen ist? Bist du jetzt zum Experten geworden?«
»Nein, ich habe einen Mund zum Fragen«, Oliver grinste und deutete mit dem Kopf hinter sich. Klaus blickte auf und sah einen Mitarbeiter der Spurensicherung eintreffen, gefolgt von Frau Scholten, der Laborleiterin.
»Was will die denn hier?«
»Hans Steuermark hat sie hierhergeschickt. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass ein zweiter Knochen auftaucht, ohne dass ein Gewaltverbrechen vorliegt. Ganz ehrlich, Klaus, das denke ich auch nicht.«
Oliver kratzte sich am Kinn und dachte nach. Die ersten Fußknochen waren in den Rheinauen vor Zons aufgetaucht. Heute standen sie an einem Parkplatz, welcher direkt an ein riesiges Gerstenfeld grenzte.
»Sag mal, Klaus, lag der erste Fundort nicht auch direkt neben einem Feld?«
»Ja, hier sind überall Felder. Es gibt zahlreiche Bauern um Zons herum. Wieso fragst du?«
»Ich glaube, es muss etwas mit den Feldern zu tun haben.«
Oliver lief den Rand des Feldes vom Parkplatz her ab. Die noch kleinen, grünlichen Gerstenhalme bogen sich im Wind. Der Himmel war strahlend blau und nur vereinzelt ließ sich eine einzelne Schäfchenwolke blicken. Es war ein perfekter Sommertag. Der Wind drehte sich und blies ihm einen unangenehmen Geruch in die Nase. Er kam ihm bekannt vor. Oliver hielt seine Nase in die Luft und nahm den abscheulichen Gestank auf. Es roch nach Dung. Dieses Feld war frisch gedüngt. Er versuchte, sich an die erste Fundstelle zu erinnern. Hatte es auf dem Weg dorthin nicht genauso gerochen? Jetzt fiel es ihm wieder ein. Klaus, der empfindlich auf solche Gerüche reagierte, hatte sich ein Taschentuch vor die Nase gehalten. Oliver blickte sich zu ihm um. Dieser zwirbelte in seiner Hosentasche herum und zog ein zerknittertes Tempotaschentuch hervor. Klaus legte das Taschentuch auf Mund und Nase, Oliver starrte ihn nur an.
»Was guckst du so? Du weißt, dass ich diesen Gestank nicht ausstehen kann! Ich bin nicht so ein Landei wie du, Oliver. Mich könntest du mit einem Landhaus vertreiben. Ich liebe meine Stadtwohnung und den Geruch von Autoabgasen.«
»Erinnerst du dich an das Getreidefeld, welches an unseren ersten Fundort angrenzt? Das Feld war auch frisch gedüngt.«
»Na und? Die Bauern haben ihren Kalender. Kein Wunder, dass die ganze Landschaft zur gleichen Zeit stinkt!«
Oliver schüttelte den Kopf. Nein, sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es da einen Zusammenhang gab. Doch zuerst wollte er etwas anderes herausfinden. Er nahm sein Handy in die Hand und wählte Steuermarks Nummer.
»Ich brauche Ihre Freigabe für eine Diensthundestaffel!«
…
Drei große Autos kamen mit Blaulicht auf den Parkplatz gefahren. Mit quietschenden Reifen hielten sie genau vor Oliver und Klaus. Die Schiebetüren an den Seiten öffneten sich laut ratschend und kräftig gebaute Männer in dunkelblauen Polizeiuniformen und klobigen, schwarzen Stiefeln sprangen aus den Wagen. Hundegebell begleitete den eindrucksvollen Auftritt. Die Transportboxen wurden geöffnet und mehrere große Schäferhunde sprangen schwanzwedelnd heraus. Ein Pfiff ging durch die Luft und augenblicklich verhallte das Gebell.
»Sind Sie Oliver Bergmann?«
Oliver nickte, er war beeindruckt von dem Schauspiel.
»Wo wurde der Knochen gefunden?«
Oliver zeigte auf die Fundstelle am Rand des Parkplatzes, die von Mitarbeitern der Spurensicherung mit einem roten Fähnchen gekennzeichnet worden war. Der Leiter der Hundestaffel rief seine Leute zusammen und besprach die Situation. Sie teilten das Gerstenfeld in Quadranten auf, die anschließend systematisch abgesucht werden sollten. Vorher ließ jeder Hundeführer seinen Schützling eine Duftprobe des Fußknochens nehmen.
Keine fünfzig Meter vom Parkplatz entfernt schlug der erste Hund mit lautem Gebell an. Axel, so hieß der riesige Kläffer, dessen schwarzes Fell in der Sonne glänzte, hatte ein weiteres Knochenstück aufgespürt. Aufgeregt hechelte er und gab seinem Herrchen das entsprechende Zeichen. Ein weiterer Suchhund wurde am gegenüberliegenden Feldrand fündig. In einer gut halbstündigen Suche konnten sechs weitere Knochenstücke sichergestellt werden.
»Wahrscheinlich liegen hier noch viel mehr menschliche Knochen herum, aber das Feld ist frisch gedüngt, und der aggressive Gestank beeinträchtigt den Geruchssinn der Tiere. Wir sollten in ein paar Tagen noch einmal wiederkommen.«
Oliver nickte und fragte sich, warum die Knochen nicht einfach auf einem Haufen abgelegt worden waren. Warum hatte der Täter sie nicht einfach vergraben, sondern sich die Mühe gemacht, sie kreuz und quer auf dem Feld zu verstreuen? Oliver betrachtete die acht roten Fähnchen. Es schien keine Systematik hinter den Ablagestellen zu stecken. Aus welchem Blickwinkel er es auch betrachtete, die Fähnchen standen chaotisch auf dem Feld verteilt. Verband man sie miteinander, konnte man keinerlei Prinzip oder gar geometrische Figuren erkennen. Etwas stimmte hier nicht! Warum wurden die Knochen wahllos verstreut? Welche Technik hatte der oder hatten die Täter genutzt?
Eine wütende Stimme riss Oliver aus seinen Gedanken.
»Was fällt Ihnen ein, mit Ihren wild gewordenen Viechern hier auf meinem Feld herumzutrampeln? Das ist Privatbesitz!«
Ein pausbackiger älterer Mann mit Gummistiefeln, dunkler Cordhose und einem ausgeleierten, karierten Hemd versuchte aggressiv, die Absperrungen zu überwinden. Axel mit dem schwarzen Fell fing bedrohlich an zu knurren, doch den alten Mann störte das nicht.
»Guten Tag, wir befinden uns hier in polizeilichen Ermittlungen. Wie ist Ihr Name?«
»Fritz Kallenbach. Ich untersage Ihnen, auf meinem Feld herumzulaufen und meine Pflanzen zu ruinieren!«
Die Gesichtsfarbe des Bauern lief bedenklich tiefrot an. Fritz Kallenbach richtete sich zu gesamter Größe und auch beachtlicher Breite auf und starrte Oliver und Klaus mit wütend funkelnden Augen an.
»Herr Kallenbach. Es tut uns sehr leid, dass wir Sie vorher nicht informieren konnten, aber wir ermitteln in einem möglichen Kapitalverbrechen und haben auf Ihrem Feld menschliche Überreste gefunden. Können Sie uns sagen, wie es dazu kommen konnte?«
»Menschliche Überreste? Wie meinen Sie das?«
Fritz Kallenbachs Blick wurde plötzlich von der Box mit den in Plastiktüten verpackten Knochenresten angezogen. Blass geworden trat er ein paar Schritte zurück.
»Das kann nicht sein!«
»Können Sie uns sagen, was zuletzt auf diesem Feld passiert ist und welche Personen daran beteiligt waren?«
»Ich mache alles noch selbst. Aber das war ich nicht.«
Kraftlos fing der schwere Körper von Fritz Kallenbach an zu schwanken. Klaus sprang zu dem jetzt hilflosen Mann und stützte ihn. Er schien einen Schock zu erleiden. »Setzen wir uns erst einmal, und dann erzählen Sie uns in Ruhe, was Sie in den letzten zwei Wochen alles auf diesem Feld getan haben.«
Mit diesen Worten bugsierte Klaus den Bauern zu einem Einsatzwagen und platzierte den schwankenden Mann auf einen der Sitze. Schwer atmend kramte dieser in seiner Hosentasche und zog schließlich ein zerknautschtes Taschentuch hervor. Dann tupfte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Klaus wartete ab, bis der Alte damit fertig war, und fragte dann mit beruhigender Stimme:
»Wann waren Sie zuletzt auf Ihrem Feld, Herr Kallenbach?«
»Mit dem Jungen, vor einer Woche. Ich habe ihm genau gezeigt, wo er die Gülle ausbringen muss.«
»Sie haben also nicht selbst gedüngt?«
»Nein, das erledigt immer Frederick. Er verdient sich etwas nebenher. Armer Junge. Wissen Sie, er ist nicht der Hellste. Aber den Güllewagen kann er fahren.« Der Alte hustete und seine Gesichtsfarbe nahm wieder eine bedenklich tiefrote Farbe an. »Frederick ist der Sohn meiner Cousine. Er kam viel zu früh auf die Welt und wäre um ein Haar auch nicht lange auf ihr geblieben. Aber er hat es geschafft, das kleine Frühchen, obwohl schon niemand mehr daran geglaubt hatte. Na ja, der liebe Gott hat ihm das Leben mit einem gesunden Körper geschenkt, in seinem Kopf jedoch ist leider nicht viel Grips angekommen. Sie nennen ihn: geistig zurückgeblieben.«
»Sonst waren Sie mit niemandem auf diesem Feld?«
»Nein, das habe ich doch schon gesagt!«
»Ist Ihnen vielleicht irgendetwas Besonderes aufgefallen? Parkende Fahrzeuge oder fremde Personen, die sich auf Ihrem Feld oder in der Nähe aufgehalten haben?«
»Nein. Ich habe alles unter Kontrolle! Sie habe ich schließlich auch sofort entdeckt!«
…
»Guten Morgen, Jimmy. Du scheinst ja Langeweile zu haben!« Anna stellte sich direkt hinter ihren Kollegen und betrachtete die zahllosen Kontakte, die ihr auf seiner Facebook-Seite entgegenleuchteten. Er hatte über dreihundert Freunde in seinem Netzwerk. Einige Gesichter waren Kollegen aus der Bank.
»Was machst du so früh in meinem Büro?« Jimmy klickte die Internetseite weg. Dann drehte er sich um, er war rot angelaufen.
»Ich wollte dir nur danken. Die Risikoabteilung hat den Kredit endlich abgesegnet, und mein Kunde hat jetzt zumindest die Chance, sein Unternehmen zu retten.«
»Oh, und dafür kommst du extra zu mir, Schätzchen? Aber du willst mir jetzt nicht für Freitagabend absagen? Oder?«
»Nein, Jimmy. Ich wollte mich persönlich bei dir bedanken. Ohne das Vorstandsprotokoll hätte es viel zu lange gedauert und wahrscheinlich würde ich mich immer noch mit dem Risikomanagement herumplagen.«
Annas Smartphone durchschnitt mit einer lauten Melodie das Gespräch. Schnell zog sie es aus der Tasche und blickte auf das Display. Es war Matthias Kronberg, der wahrscheinlich endlich seine Mailbox mit ihrer Kreditzusage abgehört hatte. Gestern hatte sie ihn den ganzen Abend nicht mehr erreichen können. Sie blickte Jimmy an, zuckte mit den Schultern und nahm ab.
»Guten Morgen, Herr Kronberg. Ich hoffe, Sie haben die gute Nachricht bereits erhalten? Ich konnte Sie gestern leider nicht persönlich erreichen.«
»Danke, Frau Winterfeld. Ich war gestern Abend unterwegs. Ich hatte einen dringenden Termin und keinen Empfang …«
Die Telefonverbindung wurde durch einen lauten, hohen Piepton unterbrochen. Erschrocken hielt Anna den Hörer von ihrem Ohr weg. Das Fiepen war so laut, dass selbst Jimmy es hören konnte. Es hörte sich wie ein völlig übersteuerter Lautsprecher auf einem Rockkonzert an.
»Hallo?«
»Hallo, Herr Kronberg, sind Sie noch dran?«
Der Ton blieb für ein paar Sekunden aus, und Anna konnte die Stimme ihres Kunden nur undeutlich verstehen; dann war die Leitung tot.
»Ich dachte, dein Kunde ist Unternehmer und kein Rockmusiker? Wenn er seinen Laden so schlecht führt wie seine Telefonanlage, dann wette ich, dass er pleitegeht.«
Jimmy starrte angestrengt auf seine Facebook-Seite, die er mittlerweile wieder geöffnet hatte. Neugierig versuchte Anna, einen Blick auf seinen Kontakt zu erhaschen, doch als sie sich Jimmys Bildschirm näherte, klickte er die Seite blitzschnell wieder weg. In letzter Sekunde konnte Anna noch das Bild einer Frau erhaschen. Sie kam ihr bekannt vor, doch der Name fiel ihr nicht ein.
Gerade als sie Jimmy etwas entgegnen wollte, klingelte ihr Smartphone erneut. Diesmal war es Emily. Sie hatte sich gestern Abend wieder mit Oliver getroffen und Anna war schon gespannt auf die Neuigkeiten.
»Tut mir leid, Jimmy. Aber ich muss jetzt los. Wir sehen uns am Freitag!« Anna ließ den verdutzten Investmentbanker sitzen und lief zurück in ihr Büro, wo sie ungestört telefonieren konnte.
…
Oliver blätterte mit gerunzelter Stirn durch die Laborberichte. Dann nahm er noch einmal die Unterlagen zu den fünf möglichen Opfern hervor und überflog sie abermals. Mittlerweile hatte die Hundestaffel auch das erste Feld und die angrenzende Rheinaue abgesucht und noch drei zusätzliche Knochen sichergestellt. Der erste Fußknochen war höchstwahrscheinlich von einem Hund auf dem angrenzenden Feld aufgespürt und dann von ihm in den Rheinauen vergraben worden.
Die Laborarbeiten waren in vollem Gange. Die zwei vermissten russischen Männer kamen nicht mehr in Betracht. Auch wenn Oliver der russischen Mafia ohne Weiteres die Entsorgung von Leichen mithilfe von Salzsäure zugetraut hätte, waren die Laborergebnisse eindeutig. Oliver blätterte weiter. Seine heißeste Spur hatte sich ebenfalls verflüchtigt. Die DNA-Spuren von Markus Heilkamp, dem neunundvierzigjährigen Chemiker und Verantwortlichen für die Salzsäuretanks im Chemiepark Dormagen, stimmten nicht mit der DNA der Knochen überein.
Es blieben nur noch zwei mögliche Opfer übrig: Peter Schreiner, ein sechsundvierzigjähriger Kfz-Mechaniker, tätig in einem Autohaus in Dormagen, und Peter Hirschauer, der neunundvierzigjährige suspendierte Banker, dessen Verschwinden bisher ein Rätsel war. Bei Peter Schreiner gingen sie bisher davon aus, dass er seine Frau verlassen hat und untergetaucht ist. Oliver dachte nach. Eigentlich hatte er sich mit Klaus darauf verständigt, zunächst die weiteren Laborergebnisse abzuwarten. Schließlich konnten die neuen Knochenfunde zu jeder der fünf vermissten Personen gehören. Es war nicht auszuschließen, dass es doch noch Übereinstimmungen von DNA-Spuren mit den beiden russischen Männern oder auch mit Markus Heilkamp gab.
Doch eine innere Stimme sagte Oliver, dass er sich auf Peter Hirschauer, den Banker, konzentrieren sollte. Es würde nichts schaden, sein Haus auf DNA-Spuren zu untersuchen. Er würde mit seinem Chef darüber sprechen. Steuermark konnte es nie schnell genug gehen, und Oliver war sich sicher, dass er trotz der mageren Hinweise, wenn man diese überhaupt als solche bezeichnen konnte, einen Durchsuchungsbeschluss erhalten würde. Er blickte auf die Uhr. Wo blieb Klaus nur? Sie wollten sich heute noch diesen Frederick Köppe vornehmen.
Das Telefon klingelte.
»Wir haben eine weibliche Leiche an einer Tankstelle an der Landstraße B9 bei Zons. Kommen Sie schnell!«
…
Er hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen. Eine solche Panne war ihm noch nie passiert. Um ein Haar wäre er entdeckt worden! Schon die bloße Erinnerung an die gestrige Nacht ließ ihm einen kalten Schauer über den Leib fahren. Nachdenklich klickte er die Überwachungskameras auf seinem Computer durch. Alles war ruhig. Routiniert überprüfte er die Webseiten, die er regelmäßig besuchte.
Bei Facebook hielt er inne. Drei seiner Zielpersonen waren online. Er klickte auf das Bild einer hübschen Brünetten. Das Foto vergrößerte sich und smaragdgrüne Augen lächelten ihn an. Noch so eine Sünderin, dachte er und spürte, wie die kalte Wut in ihm hochkam. Ob sie wohl genauso schwach war, wie die letzte Sünderin, die er mit Gottes Gnade durchs Fegefeuer gehen ließ? Ein weiteres grünes Licht blinkte auf. Da war der nächste Todsünder online. Geld schläft nie! Aber Gott auch nicht!
Er legte seine Hand auf die Bibel und sprach ein Gebet. Mit geschlossenen Augen murmelte er lateinische Worte vor sich hin. Dann sang er eine Melodie. Eine Melodie, wie sie seit Hunderten von Jahren immer wieder in Gottes Hallen ertönte. Er begann, sich ein wenig zu entspannen. Wieder fiel sein Blick auf den Monitor. Alles lag verschlafen in der Morgendämmerung. Wenn er Glück hatte, würde sein Geheimnis nie entdeckt werden.
Abermals durchfuhr ihn ein Schauer bei dem Gedanken an die letzte Nacht. Er hatte alles perfekt vorbereitet gehabt. Der Ort, an dem er Gottes Urteil vollstreckte, war ruhig. Niemand verirrte sich nachts dorthin. Doch in der letzten Nacht war es anders. In dem Moment, in welchem er dieser gottlosen Sünderin mit seiner goldenen Sichel die Kehle durchtrennte, störte ihn plötzlich lautes Gegröle direkt nebenan.
Wie vom Donner gerührt hatte er die Leiche fallen lassen und sich geradezu ängstlich an das kleine Fenster der Waschanlage geschlichen. Fensterscheiben klirrten. Betrunkene Jugendliche brüllten herum und posaunten ihre pubertären Sprüche laut in die stille Nacht hinaus.
Offensichtlich hatten sie es auf den Alkohol in der Tankstelle abgesehen. Dann heulte die Alarmanlage ohrenbetäubend los. Also beschloss er, zu verschwinden. Er schaffte es gerade noch, die auffälligsten Spuren zu beseitigen, bevor die Polizei mit grellem Blaulicht eintraf, um dem Tumult ein Ende zu setzen. Die Leiche versteckte er in einer Bodennische, in der sich normalerweise Werkzeug für die Autoreinigung befand. Er musste sie ein wenig quetschen, doch sie war klein und zierlich genug, um schließlich ganz hineinzupassen. Mit ein wenig Glück würde sie bis zur nächsten Nacht unbemerkt bleiben.
Dann könnte er zurückkehren und sie für immer entsorgen. Sollte die Leiche entdeckt werden, würde er schleunigst verschwinden müssen. Aber er hatte vorgesorgt. Sünder gab es überall auf der Welt und so könnte er seiner Berufung auch an einem anderen Ort nachgehen.
…
»Schau mal her, Anna! Ist das nicht großartig?« Stolz schwenkte Emily drei uralte Schlüssel vor Annas Nase.
»Wo hast du die denn her?«
»Ich habe sie aus dem Stadtarchiv. Sie waren versteckt und lagen ganz weit hinten in einem verstaubten Kästchen. Der alte Stadtarchivar hat mich alleine recherchieren lassen und da habe ich sie entdeckt.«
Hastig blätterte Emily in den verblichenen Notizen von Bastian Mühlenberg. Ihr Finger glitt über die Zeilen und hielt in der Mitte eines Blattes an. Angestrengt versuchte Emily, die Zeilen zu entziffern. Sie war so aufgeregt, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. Ihre Wangen waren mit einer rosigen Farbe überzogen. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und Emily strich sie mit einer schnellen Bewegung zurück. Im Geiste sah sie bereits ihre neue Reportage für die Rheinische Post vor sich. Sie spürte, dass diese drei unscheinbaren Schlüssel eine große Bedeutung hatten. Die Journalistin in ihr witterte eine aufregende Story und die Enthüllung eines historischen Geheimnisses, welches im Laufe der Jahrhunderte vergessen worden war.
»Wolltest du mir nicht von deiner Verabredung mit Oliver erzählen?« Anna lehnte sich gelangweilt an den Heizkörper vor dem Fenster in Emilys Schlafzimmer. Sie konnte an diesen Schlüsseln nichts Besonderes finden. Ganz im Gegenteil. Sie wollte lieber nicht wissen, welche Tür sie öffneten. Sie stellte sich einen schmierigen Spind vor, in welchem der alte Stadtarchivar Fotos aus dem Playboy oder womöglich aus noch schlimmeren Magazinen aufbewahrte. Nein, das wollte sie sich wirklich nicht vorstellen. Aber Emily reagierte gar nicht auf ihre Frage. Sie hatte sämtliche Unterlagen auf ihrem Bett und auf dem Boden ausgebreitet und las angestrengt. Dann blickte sie zu Anna auf.
»Aus diesen Notizen werde ich nicht schlau. Alles was ich bisher von Bastian Mühlenberg gelesen habe, war glasklar und verständlich niedergeschrieben, doch an dieser Stelle hier fängt er plötzlich an, in Rätseln zu schreiben. In den Kapiteln vorher schreibt er über die St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft aus Zons und über den ermordeten Fahnenträger Benedict Eschenbach.
Dann folgt ein kurzer Abschnitt über verschwundene Personen. Sie sind alle innerhalb von ein paar Monaten verschwunden und waren wie vom Erdboden verschluckt. Hier steht auch, dass der Vetter des Arztes Josef Hesemann plötzlich verschwand. Er hieß Conrad und war Mönch im Kloster Knechtsteden. Er war oft bei Josef in Zons und half ihm, die Kranken zu betreuen und zu trösten. Doch hier hört die Schrift einfach auf. Er schreibt von einem Treffen mit Pfarrer Johannes und dann sehe ich nur noch Hieroglyphen. Die drei Zeichen hier sehen aus wie Schlüssel. Auf der nächsten Seite ist ein großer Schlüssel abgebildet.«
Emily legte einen der Schlüssel auf die Abbildung. Die Umrisse stimmten genau überein.
»Sieh dir das einmal an, Anna!«
Anna runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich noch gut an die letzten Recherchen von Emily. Sie konnte alte Schriften hervorragend entziffern. Doch teilweise waren die Seiten des Notizbuches beschädigt und vergilbt. Die Jahrhunderte hatten ihre Spuren hinterlassen. Und wenn das Original nichts mehr hergab, konnten die Kopien schließlich auch nicht besser sein.
»Hattest du nicht damals ein Spezialunternehmen damit beauftragt, die Seiten wiederherzustellen?«
»Ja, aber das hier ist anders. Die Zeichen sind nicht verschwommen oder undeutlich. Sieh doch selbst.«
Viel lieber hätte Anna mit Emily über Oliver Bergmann gesprochen. Sie wäre selbst gerne wieder einmal verliebt und im Augenblick konnte sie Emilys Euphorie für die neue Reportage nicht recht nachvollziehen. Es war doch nur ein Job!
Anna stieß sich von der Heizung ab. Dabei wäre sie fast auf einem Blatt Papier auf dem Boden ausgerutscht. Es musste unter dem Heizkörper gelegen haben.
»Was ist das denn für ein altes Papier?«