III.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein. Das Wasser tropfte stetig von den dicken Mauern des Gewölbes herab und machte aus den sommerlichen Temperaturen draußen ein kaltes, nasses und unerträgliches Klima. Er zitterte am ganzen Körper. Tief in seinem Innersten hatte er schon gehofft, dass sein Peiniger ihn hier unten vergessen hätte und dass er einfach vor lauter Durst und Erschöpfung ohnmächtig werden und schmerzlos und sanft in die erlösenden Arme des Todes fallen würde.

Doch auf einmal löste sich vor seinen Augen fast unmerklich eine dunkle Gestalt von der Felsmauer und schritt langsam und bedächtig auf ihn zu. Die Gestalt erschien riesig und baute sich als ein großer, schwarzer Schatten vor ihm auf. Es war so dunkel, dass er nur die Umrisse erkennen konnte. Wie lange hatte sein Peiniger ihn wohl schon beobachtet?

»Non loqueris contra proximum tuum falsum testimonium«, flüsterte der Schatten plötzlich heiser und im selben Moment sauste eine Gerte durch die Luft und klatschte auf seine zitternde Haut nieder. Er erinnerte sich an diesen Satz. Er stammte aus der Bibel. Es war das achte Gebot. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Der Schatten nahm brutal sein Kinn in eine mit grobem, harten Leder behandschuhte Hand. Er blickte in das namenlose schwarze Gesicht, welches von einer dunklen Kapuze umrandet wurde.

»Ich hatte dir aufgetragen, Buße zu tun!«, dröhnend erhob die schwarze Gestalt erneut die raue Stimme. »Doch du hast weiter gesündigt, ohne dich um die Wünsche deines Herrn zu scheren!«

Verzweifelt versuchte er, den Kopf zu schütteln. Nein, das stimmte nicht. Er hatte nicht gesündigt. Doch die schwarze Hand hielt sein Kinn so fest, dass er sich nicht rühren konnte, und bis auf einen dumpfen Laut kam kein Ton aus seiner Kehle. Seine Hände rissen an den Fesseln, doch die Nägel auf dem Stuhl drangen nur umso tiefer in sein wundes Fleisch. Panisch hämmerte sein Herz in der Brust. Schweiß lief über seine Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in das schwarze Gesicht des Fremden und versuchte, seine Unschuld zu beteuern. Er hatte nichts getan! Er hatte nicht gelogen!

Wie ein Pfeil schoss in dieser Sekunde die Erinnerung durch sein Gehirn. Doch, er hatte gelogen! Gleichwohl waren es keine schlimmen Lügen gewesen! Aber er hatte nicht Buße getan! Ja, durchfuhr es ihn. Er hatte nicht Buße getan, wie es ihm aufgetragen worden war. Aber er hatte doch gezahlt. Der Ablassbrief lag unter seinem Kopfkissen! Dieser Kerl hier durfte ihn nicht bestrafen! Er hatte doch alles richtig gemacht!

Der unheimliche Mund der Schattengestalt rückte ganz dicht an sein Ohr: »Du hast nicht Buße getan, so wie ich es dir aufgetragen habe. Nun lässt Gott der Herr dich Buße tun durch meine Hand, denn ich bin sein Vollstrecker!«

Mit diesen Worten rückte das Böse von ihm ab und der Raum wurde plötzlich durch flackerndes Kerzenlicht erhellt. Er schloss die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen.

»Sieh her!«, zischte der Fremde und er gehorchte augenblicklich.

Der Mann in der schwarzen Kutte hielt ein Tongefäß in seiner rechten Hand. Die linke Hand stieß ein angespitztes Holzstöckchen in das Gefäß hinein und ein wabbeliges, blutrotes Fleischstück kam zum Vorschein.

Kaltes Entsetzen durchzuckte ihn, als er in dem Fleischstück eine Zunge erkannte. Die Gestalt nickte und grinste ihn an.

»Ja, Sünder. Du siehst richtig. Dies hier ist deine Lügenzunge. Ich habe sie eingelegt und haltbar gemacht, damit das Zeugnis deiner Sünde auf ewig sichtbar bleibt, während du im Fegefeuer brennen wirst!«

Panisch schüttelte er den Kopf. Sein Fleisch schmerzte, doch die Angst hatte ihn so fest im Griff, dass er den Schmerz kaum wahrnahm. Sein Fokus war einzig und allein auf den schwarzen Mann in der Kutte vor ihm und seine abgetrennte Zunge gerichtet. Wieder dachte er an den Ablassbrief unter seinem Kopfkissen, und als ob der Fremde seine Gedanken lesen könnte, antwortete dieser:

»Glaubst du, du kannst Buße gegen Geld tauschen?« Fast in versöhnlichem Ton fuhr er fort: »Weißt du denn nicht, dass deine Beichte vollständig und dein Herz recht zerknirscht sein muss, um Gottes Vergebung zu erlangen? Außerdem musst du gute Werke tun!«

Der schwarze Schatten stellte den Tonkrug mit der abgeschnittenen Zunge auf dem Boden ab und baute sich erneut vor ihm auf. Mit einem Ruck packte er seinen Schopf und riss seinen Kopf nach hinten. Seine Kehle lag offen und schutzlos nach oben gereckt vor dem Fremden.

»Du wirst so lange in der Hölle schmoren, wie deine Zunge nicht zu Staub zerfallen ist! Da ich sie haltbar eingelegt habe, wird es eine Ewigkeit dauern! Und jetzt stirb, Sünder!«

Mit diesen Worten holte die dunkle Gestalt eine goldene Bogensichel aus ihrer Kutte hervor und schnitt ihm in einer einzigen fließenden Bewegung die Kehle durch.

Ein letzter Gedanke raste durch seinen Verstand, während das Blut in einer hohen Fontäne aus seiner Halsschlagader schoss und ihm langsam schwarz vor Augen wurde:

Ich bin kein Sünder und mein Name ist Conrad!

 

 

 

 

Bastian und Wernhart saßen gemütlich bei einem Becher Met in der kleinen Zonser Schenke »Zur alten Henne«. Über dem Feuer brutzelte saftiges Fleisch. Es hing ein so herrlicher Duft in der winzigen Stube, dass Bastian das Wasser im Mund zusammenlief. Er konnte es kaum erwarten, endlich einen kräftigen Bissen von diesem wundervollen Braten in seinen ausgehungerten Magen hinunterzuschlingen.

Noch vor ein paar Stunden war er mit Wernhart durch ganz Zons spaziert und hatte sich davon überzeugt, dass kein weiteres Gebäude eingestürzt war. Bis auf den riesigen Wehrturm, der wie ein Kartenhaus vor seinen Augen zusammengefallen war, blieb alles unversehrt. Bastian nahm einen großen Schluck Met und schaute sehnsüchtig in Richtung des Feuers. Ein plötzlicher Luftzug ließ die Flammen kurz höher schlagen. Bastian wandte den Kopf in Richtung Tür und erblickte den Arzt Josef Hesemann. Dieser durchsuchte mit forschendem Blick die kleine, verwinkelte Stube, entdeckte Bastian und durchschritt zügig den Raum.

»Seid gegrüßt! Ich bin auf der Suche nach Conrad. Habt Ihr ihn gesehen?«

»Nein, aber setzt Euch doch zu uns und leistet uns Gesellschaft.«

Josef nickte und nahm Platz. Conrad war sein Vetter. Er lebte als Mönch im Kloster Knechtsteden, war aber oft in Josefs Haus zu Gast und half, die Kranken zu betreuen und zu trösten.

»Lasst es Euch schmecken!«, mit diesen Worten setzte der Wirt eine große Holzplatte mit knusprig braunen Fleischstücken vor ihren Augen auf dem groben Holztisch ab. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, stürzten sich die drei Freunde gierig darauf. Erst nachdem fast nichts mehr übrig war, hob Josef erneut an:

»Wisst Ihr, ich war eigentlich schon vor einer Stunde mit Conrad verabredet. Ich bin mir nur nicht mehr sicher, ob wir uns an meinem Haus oder hier im Wirtshaus treffen wollten.«

Bastian öffnete gerade den Mund und wollte Josef antworten, als erneut ein Windstoß durch die geöffnete Tür der Schankstube eindrang. Es waren die Mitglieder des »Siebener Ausschusses« der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft, die – von einem unheimlichen Schweigen umgeben – zu einem freien Tisch liefen. Fast geräuschlos nahmen sie Platz, steckten die Köpfe dicht zusammen und ein raunendes Flüstern erhob sich über die eingetretene Stille.

»Seht«, begann nun auch Bastian zu flüstern, »der Siebener Ausschuss! Was führen die wohl im Schilde?«

Unauffällig drehten Wernhart und Josef ihre Köpfe zu den Neuankömmlingen. Bis vor ein paar Jahren hatte die Bruderschaft einen hervorragenden Ruf unter den Zonser Bürgern genossen. Sie existierte seit fast einhundert Jahren. Nachdem der ältere Brudermeister Henricus Krumbein vor ein paar Jahren mit der Trauerfahne zu Grabe getragen worden war, hatte ein neuer Brudermeister, Huppertz Helpenstein, die Führung der Bruderschaft übernommen. Während sich die Bruderschaft unter Henricus im Neusser Krieg – bei der Befreiung der belagerten Stadt Neuss durch das Reichsheer von Kaiser Friedrich III. im Jahr 1475 – durch besonderen Mut und militärische Tapferkeit hervorgetan hatte, waren diese Eigenschaften der alten Bruderschaft jetzt überwiegend einer extrem religiösen Gesinnung gewichen. Huppertz war ein strenger Fanatiker, der völlig neue Regeln für die Sebastianus-Brüder aufgestellt hatte. Es wurde weniger Wert auf die Wehrhaftigkeit und Kampfeskunst der einzelnen Mitglieder, sondern viel mehr auf ihre Gottesfürchtigkeit gelegt. Huppertz hat den St.-Sebastianus-Altar in der Zonser Kirche St. Martinus gestiftet und die Brüder zu einer monatlichen Beichte verpflichtet, obwohl das vierte Laterankonzil – welches im Jahr 1215 von Papst Innozenz III. im römischen Lateran, dem offiziellen Papstsitz in Rom, einberufen wurde – die Beichte für Christen nur einmal im Jahr vorsah.

Alle sieben Brüder hatten sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt. Die hohen, spitz zulaufenden Filzhüte mit breiter Krempe waren ein typisches Kleidungsstück der Sebastianus-Brüder und lagen übereinandergestapelt auf einer Bank neben dem Tisch, an dem sie Platz genommen hatten. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die anderen Gäste der Schenke gar nicht wahrnahmen. Der Wirt stellte ihnen wortlos einen Krug Wein auf den Tisch und verschwand zügig wieder hinter der Feuerstelle. Der älteste Bruder hob plötzlich die Hand und zeigte mit dem Finger auf einen der anderen Brüder auf der gegenüberliegenden Tischseite. Dieser senkte das Haupt und griff sich in den Nacken. Für einen kurzen Moment konnte Bastian eine silberne Kette aufblitzen sehen. Die Kette wurde über den Tisch gereicht und verschwand im Wams des Ältesten, Huppertz.

»Habt Ihr das gesehen?«, fragte Bastian die beiden Freunde an seinem Tisch.

»Ja, ich glaube, an der Kette hing ein Schlüssel«, flüsterte Wernhart. »Mein Vater hat mir erzählt, dass es drei Schlüsselhüter gibt. Zwei in der Bruderschaft und einen Schlüssel besitzt stets der Pfarrer. Nur mit allen drei Schlüsseln zusammen kann die Schützentruhe geöffnet werden. In der Truhe werden die geheimen Schriften der Bruderschaft und das Königssilber aufbewahrt.«

Bastian zuckte zusammen. Der Bruderälteste hatte sich unerwartet zu ihm umgedreht. Während Wernhart immer mehr über die Schützentruhe erzählte, hatte Bastian die ganze Zeit hinüber zu den Sebastianus-Brüdern geschaut, ohne auch nur eine Sekunde die Augen abzuwenden. Irgendwie musste Huppertz seine Blicke gespürt haben, denn obwohl er mit dem Rücken zu Bastian saß, sah er ihn nun mit einem durchdringenden Blick an. Bastian hielt seinem Blick stand. Es entstand ein Moment einer unheimlichen stummen Kraftprobe, doch nach einer Weile nickte der Älteste kurz und wandte sich wieder seinen Brüdern zu.

Bastian atmete tief durch. Es war wirklich beunruhigend, wie Huppertz ihn angestarrt hatte. Fast so, als wolle er sein Innerstes durchforsten und alle seine Gedanken lesen. Bastian schüttelte unwillkürlich den Kopf. Er schlang die letzten Fleischbissen von der großen Holzplatte hinunter und erhob sich. Er musste dringend hier raus, weg von dieser unheiligen Bruderschaft.

»Nichts für ungut, Wernhart, ich habe Marie versprochen, nicht so spät nach Hause zu kommen. Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang am eingestürzten Wehrturm.«

Bastian nickte dem Arzt zum Abschied zu und steuerte, ohne die Bruderschaft eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die Schenkentür zu. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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