IX.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian träumte wieder von dieser wunderschönen Frau. Er wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. Sie hatte blütenweiße Haut und große smaragdgrüne Augen. Ihre langen, lockigen Haare flossen in weichen Wellen ihren schlanken, weißen Hals hinab und endeten an einer ebenso schlanken Taille. Er kannte diese Frau. Er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, woher. In ihren Augen schien Angst. Warum nur?

Bastian trat näher an sie heran und sofort veränderte sich der Ausdruck in ihren Augen. Sie strahlte ihn an und sein Herz machte einen Satz. Er wollte sie berühren, doch eine unsichtbare Macht hielt ihn davon ab, ihr noch näher zu kommen. Sie entfernte sich von ihm. Ihr Bild verschwamm vor seinen Augen. Er suchte sie. Wo war sie nur hin? Er lief durch düstere Mauergewölbe aus verschlungenen Gängen, die sich wanden wie Würmer, sodass er nicht mehr herausfand. Doch, dort vorne stand sie. Bastian lief auf sie zu. Ein jäher Lichtstrahl katapultierte ihn in eine andere Welt. Plötzlich war es wieder Tag. Er saß am Rhein. Sie saß neben ihm. Ihr Mund war so rot und so nahe. Er konnte ihren Duft wahrnehmen.

Bastian wachte auf. Wo war er? Er blickte sich um. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Er befand sich in seinem Schlafgemach. Marie lag ruhig atmend neben ihm. Ihr hübsches Gesicht leuchtete im Mondschein und ihr Haar glänzte golden. Er sah aus dem Fenster. Es war Vollmond. Kein Wunder, dass er schlecht geträumt hatte. So erging es ihm immer bei Vollmond. Vollmond! Die Nacht, in welcher der Puzzlemörder seine Opfer brutal tötete, getrieben von seinem unerbittlichen Gotteswahn. Es war nur ein Traum und auch den Puzzlemörder gibt es nicht mehr. Beruhige dich!

Bastian atmete tief ein. Richtig, die Gefahr war längst vorüber. Er hatte nur geträumt. Bastian dachte an die junge Frau aus seinem Traum. Er wusste nicht genau, wer sie war, doch er war sich sicher, dass er sie schon mehrfach gesehen hatte. Wie war das nur möglich? Wirst du allmählich verrückt, Bastian? Nein!

Langsam schob er die Bettdecke zurück und schlich leise nach unten in die Küche. Dort stand ein Eimer mit Wasser. Schnell benetzte Bastian sein schweißüberströmtes Gesicht mit dem kühlen Nass. Was für eine Wohltat. Langsam klärte sich sein Verstand, und er fühlte, wie der Schleier der Benommenheit von ihm abfiel.

Bringt mir den dritten Schlüssel! Die Worte von Pfarrer Johannes hatten sich in seinem Bewusstsein festgekrallt. Bastian überlegte, wie er seinen Wunsch erfüllen konnte. Die St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft war ihm unheimlich. Es war nicht so, dass Bastian nicht gottesfürchtig war. Wie könnte er es auch nicht sein? Schließlich hatte er sein halbes Leben in der Kirche bei Pfarrer Johannes verbracht. Der Pfarrer strahlte für ihn ein warmes, helles Licht aus und Bastian konnte Gottes Güte durch Johannes sprechen hören. Bei Huppertz Helpenstein hatte er jedoch ein völlig gegenteiliges Gefühl. Jedes seiner Worte erschien ihm dunkel und kalt. Drohung und Bestrafung lagen in seiner Gegenwart in der Luft statt Güte und Vergebung. Die anderen Brüder wirkten heute eingeschüchtert und verhuscht. Vom früheren Stolz der kühnen Kämpfer, die sich mutig im Neusser Krieg bei der Befreiung der belagerten Stadt Neuss hervorgetan hatten, war nicht mehr viel übrig geblieben, wenn er die Brüder in der Kirche vor dem St.-Sebastianus-Altar knien sah, den Huppertz persönlich gestiftet hatte.

Bastian erwog kurz, wieder zu Marie ins Bett zu schlüpfen. Doch dann entschied er sich anders. Er könnte jetzt sowieso nicht mehr einschlafen. Flink zog er sich das Wams über und schlich zur Haustür hinaus. Es war noch viel zu früh, um mit Wernhart zu sprechen. Er war sein treuester Begleiter in der Stadtwache, und mit ihm gemeinsam würde er sicher einen Weg finden, um an den dritten Schlüssel zu kommen. Schließlich schien Wernhart sehr viel über die Schlüssel und diese Schützentruhe zu wissen. Jedenfalls war es mehr, als er je darüber gehört hatte.

Die kalte Nachtluft kühlte Bastians Haut, die vom Schlaf immer noch heiß und schwitzig war. Er lief ein paar Schritte und blieb vor der Mühle seines Vaters stehen. Der Mühlenturm sah beeindruckend aus. Der helle Vollmond leuchtete durch die Flügel und verlieh dem Kopf der Mühle scheinbar einen Heiligenschein. Die Mühlenflügel knarrten ein wenig im Wind und gaben Bastian auf der Stelle das Gefühl, zu Hause zu sein. Die Mühle bildete den Eckpfeiler der südwestlichen Stadtmauer. Die Stadtmauer war riesig. Sie bestand aus drei Meter hohem Felsgestein und bisher hatte kein Feind diese dicken Mauern überwinden können. Die gesamte Architektur der Festungsmauern entsprach dem neuesten Stand der Baukunst, und die Mühle seines Vaters bildete einen wichtigen Bestandteil der Stadtbefestigung, welche als uneinnehmbar galt. Darauf war die ganze Familie Mühlenberg unheimlich stolz.

Bastian beschloss, zu Huppertz Helpensteins Haus zu gehen. Viel erwartete er sich nicht von diesem Besuch, aber vielleicht kam ihm unterwegs eine Idee. Leise und bemüht, nicht auf den kantigen Pflastersteinen zu stolpern, machte Bastian sich auf in Richtung Norden. Huppertz wohnte in der Mauerstraße, im östlichsten Winkel der Stadt. Sein Haus grenzte fast an den Zollturm. Es war eine gute Wohnlage, weil es von hier unmittelbar zur Zollstelle und damit zum Rhein ging. Leise eilte Bastian durch die dunklen Gässchen von Zons. Es war totenstill, kein Geräusch störte den nächtlichen Frieden. Selbst die Ratten, die gerne durch die Dunkelheit huschten, schienen zu schlafen. Bastian blieb am Haus des alten Jacob stehen und vernahm ein leises Schnarchen. Nun gut, ganz geräuschlos konnte es in einer Stadt doch nicht zugehen. Bastian lächelte leise in sich hinein. Der alte Jacob, der behauptete, er würde vor lauter Sorgen keine Nacht mehr schlafen, zersägte mit seinem Schnarchen geradezu die wenigen Dachschindeln, die an seinem ärmlichen Haus noch übrig waren.

Bastian spazierte weiter in Richtung Mauerstraße. An der Ecke zum Hospitalplatz blieb er stehen und lauschte. Kein Schnarchen und kein anderer Laut drangen an sein Ohr. Nur das Hämmern seines donnernden Pulses konnte Bastian laut und deutlich vernehmen. Er streckte seinen Kopf vor und blickte um die Ecke in die Mauerstraße. Am Ende der Gasse konnte er undeutlich das Haus von Huppertz Helpenstein erkennen. Es lag eingehüllt in schwarze Dunkelheit da. Bastian schlich sich durch die Straße heran. Gerade, als er die Straßenseite wechseln wollte, bemerkte er eine Bewegung an dem Haus. Eine schwarze Gestalt löste sich von der dunklen Hauswand und verschwand in die Rheinstraße auf der gegenüberliegenden Seite. Bastian hörte die Schritte wie knirschende Kieselsteine von den Häuserwänden widerhallen. Dann verloren sie sich in der Finsternis. Er hielt den Atem an. War das eine Sinnestäuschung gewesen?

Keine Minute später verließ eine weitere dunkle Gestalt das Haus von Huppertz und verschwand in die gleiche Richtung. Das konnte doch nicht sein. Wer waren diese Leute und was taten sie dort mitten in der Nacht? Bastians Herz flatterte vor Aufregung und pumpte Unmengen von Blut durch seine Adern. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Seine Sinne waren geschärft. Er ließ sich von seiner Angst nicht ablenken und konzentrierte sich auf das Haus des Bruderältesten. Bastian schlich so dicht, wie er konnte, an die Haustür heran. Er hörte leise Stimmen. Sie flüsterten und er konnte die Worte nicht verstehen. Er presste sein Ohr an die Wand, doch die Stimmen waren zu leise. Das Fenster stand einen Spalt offen und Bastian konnte einen schwachen Kerzenschein erkennen. Die Haustür ging abermals auf. Hastig presste er sich so dicht wie möglich an die Hauswand und bedeckte seinen blonden Haarschopf mit der Kapuze seines Wamses.

»Richtet der Familie von Benedict Eschenbach nochmals mein tiefstes Beileid aus. Er war ein guter Fahnenträger und wir werden sein Andenken in Ehren halten. Benedict hat bis zur letzten Minute seines Lebens versucht, den Schlüssel zu bewahren.«

Bastian erkannte die Stimme von Gottfried, er gehörte zur St.-Sebastianus-Bruderschaft. Warum trafen sie sich mitten in der Nacht? Die Haustür schloss sich, und Bastian konnte hören, wie der schwere Riegel vorgeschoben wurde. Bastian spähte durch das Fenster und sah Huppertz Helpenstein. Dieser blies die Kerze aus und es war auf der Stelle stockdunkel. Knarrende Dielengeräusche drangen an Bastians Ohren. Vermutlich stieg der Bruderälteste gerade die Stufen zu seinem Schlafgemach empor. Dann herrschte Stille. Bastian wartete noch eine Weile ab und löste sich dann geräuschlos von der Hauswand. Müdigkeit stieg in ihm auf, und er hatte plötzlich das Bedürfnis, schnell nach Hause zu kommen und sich wieder ins Bett zu legen.

Leise wie eine Katze schlich er durch das schlafende Zons zurück zu seinem Haus beim Mühlenturm. Auf Zehenspitzen stieg er die Stufen hinauf und schlüpfte zurück unter die Bettdecke. Marie schlief immer noch friedlich. Sie hatte seinen nächtlichen Ausflug offenbar nicht bemerkt. Bastian grübelte noch ein paar Minuten über das heimliche Treffen der Bruderschaft und fiel dann in einen unruhigen und traumlosen Schlaf.

 

 

 

 

Am Morgen suchte Bastian seinen besten Freund auf. Wernhart runzelte die Stirn und lief nachdenklich in seiner Kammer auf und ab. Da sie klein und schmal war, musste er, sobald er die Mitte des Kämmerchens erreichte, stets mit einem großen Schritt über Bastians Füße steigen. Dieser saß mit ausgestreckten Beinen auf dem spärlichen Strohbett. Sein Blick war fest auf Wernhart gerichtet und so drehte sich sein Kopf in dem Rhythmus hin und her, den sein Freund mit seinem Laufweg durch die Kammer vorgab.

»Warum sollten sie sich mitten in der Nacht treffen? Jeder kennt die Bruderschaft. Sie könnten sich genauso gut bei Tage besprechen und niemand würde bei ihrer Zusammenkunft argwöhnisch werden.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Bastian und zog die Schultern hoch. Er hatte schon den ganzen Morgen darüber nachgedacht und ihm war kein Grund für ein solches Treffen eingefallen.

»Vielleicht sollten wir uns diese Nacht wieder anschleichen und schauen, ob sie sich wieder treffen?«

»Gute Idee. Wir wechseln uns einfach ab. Jede Nacht übernimmt einer von uns beiden die Wache.«

»Mein Vater hat mir anvertraut, dass Huppertz Helpenstein den dritten Schlüssel immer um den Hals trägt. Doch ich weiß, dass das nicht ganz stimmt. Vor einer Woche habe ich ihn zum Arzt Josef Hesemann gehen sehen, und, Bastian, jetzt stell dir vor, was ich herausgefunden habe?« Wernharts Augen leuchteten eifrig. Er blieb stehen und sprach aufgeregt weiter: »Huppertz hat ein Hautleiden. Josef Hesemann hat ihm verboten, die Kette bei Nacht zu tragen, weil aus dem Hautleiden sonst ein Geschwür werden könnte.«

»Woher weißt du das?«, fragte Bastian erstaunt über diese Neuigkeiten.

»Ich habe sie belauscht«, schuldbewusst senkte Wernhart den Kopf.

Bastian sprang auf und klopfte ihm auf die Schulter.

»Nun gut, mein Freund, ich denke, Pfarrer Johannes wird dir gerne die Beichte hierfür abnehmen!«, er zwinkerte Wernhart zu und beide grinsten.

Endlich hatte Bastian einen Plan. Er musste sich nur des Nachts in das Haus des Brudermeisters schleichen und den Schlüssel stehlen! Doch vorher mussten sie herausfinden, wo er ihn vor der Bettruhe ablegte. Heute Nacht würde sich Wernhart anschleichen und alles genau beobachten. Morgen in aller Frühe wären sie dann in der Lage, einen genauen Plan für die Eroberung des dritten Schlüssels aufzustellen. Bastian war aufgeregt. Irgendwie ging das alles viel zu einfach. In seinem tiefsten Innersten regten sich leise Zweifel, ob er nicht womöglich irgendetwas übersehen hatte.

Doch er schob die düsteren Gedanken beiseite und machte sich auf den Weg zu Pfarrer Johannes. Schnurstracks lief er durch die Turmstraße, um gleich darauf in die nächste Gasse abzubiegen. Wernhart wohnte an einer der Pfefferbüchsen in der Rheinstraße, sodass Bastian es nicht weit hatte. Mit ein wenig Glück würde er in der Kirche auf Bruder Ignatius stoßen. Sorgenvoll dachte er an Heinrich. Die Krankheit hatte ihn stark gezeichnet, Bastian sah seine ausgemergelte, graue Haut und seine eingefallenen Wangen vor sich. Von Herzen hoffte er, dass er den letzten Wunsch seines Bruders nicht so schnell würde erfüllen müssen. Doch eine traurige Stimme in seinem Kopf sprach die bittere Wahrheit aus, die sein Herz mit eiserner Faust umschloss: Er hat nicht mehr viel Zeit und du weißt es genau!

Als Bastian in die Zehntgasse einbog, sah er eine blonde Frau vor sich herlaufen. Ihre langen Haare waren zu dicken Zöpfen geflochten und das bodenlange Kleid schwang bei jedem Schritt geschmeidig um ihre Hüften. Bastian lächelte erfreut und schlich sich auf Zehenspitzen von hinten heran. Sie trug einen Korb mit verführerisch duftenden Backwaren, und Bastian war einen Atemzug lang von seinem knurrenden Magen so abgelenkt, dass er um ein Haar auf ihr Kleid getreten wäre. Er machte einen Satz nach vorne, drehte sich im Sprung zu ihr um, küsste sie auf ihre rosigen Wangen und griff gleichzeitig mit der rechten Hand schwungvoll in ihren Korb, um sich eines der leckeren Gebäckstücke zu stibitzen.

Maries schrie auf und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Bastian grinste sie an und senkte scheinheilig den Kopf.

»Ihr Schuft! Ihr sollt mich nicht so erschrecken!« Marie schlug mit einem Tuch nach ihm. Doch Bastian war schneller und hielt es fest, bevor sie ihn treffen konnte. Er schlang die Arme um ihre Hüfte, schwang sie durch die Luft und setzte sein empörtes Eheweib wieder auf dem Boden ab. Sanft berührten seine Lippen ihren Hals. Etwas besänftigter lächelte Marie ihn an.

»Ich sehe Euch, sobald ich mit Pfarrer Johannes gesprochen habe«, flüsterte Bastian ihr ins Ohr. Dann lief er flink die Zehntgasse hinunter und verschwand aus dem Blickfeld der vom Übermut ihres Mannes verzückten Marie.

 

 

 

 

»Das werde ich sehr gerne für Euch tun«, sprach Bruder Ignatius und legte seine riesige Hand auf Bastians Schulter.

»Bruder Albrecht liegt mir sehr am Herzen und mit ihm natürlich auch alle, die ihm nahestehen. Seid unbesorgt, er wird Eurem Bruder Heinrich gerne den Trost spenden, den er braucht, und ihn – wenn wirklich nötig – auch auf seinem letzten Weg begleiten. Niemand sollte diesen Weg alleine beschreiten!«

Schnell bekreuzigte er sich und blickte Bastian mitfühlend an. Die Intensität seiner scharfen Augen ließ Bastian unwillkürlich erschauern. Bisher hatte er lediglich die Ähnlichkeiten zwischen Pfarrer Johannes und seinem Bruder Ignatius wahrgenommen, doch nun sah er in seine Augen und konnte viel mehr erkennen, als die Güte eines Kirchenmannes. Obwohl er viel jünger war als Pfarrer Johannes, sahen seine Augen uralt aus. Fast so, als hätten sie schon viel zu viel gesehen. Zu viel Böses in der Welt! Güte und Härte wechselten sich in seinem Blick ab. Bastian betrachtete Ignatius’ schlanke Gestalt. Er war fast so groß wie er selbst und seine Erscheinung wirkte drahtig und muskulös. Sie gingen ein paar Schritte gemeinsam auf den Altar zu, und Bastian kam es vor, als würde Bruder Ignatius schweben. Mit geschmeidiger Eleganz bewegte er sich neben Bastian. Die Hände des Ordensmannes waren zerfurcht und mit Schwielen übersät. Wie konnte ein Mönch die Hände eines Bauern haben? Was tut ein Mönch schon mit seinen Händen außer Beten und vielleicht noch Schreiben?

Pfarrer Johannes kam mit zügigen Schritten auf die beiden zu. Der Gottesdienst stand kurz bevor und der Pfarrer traf hektisch die letzten Vorkehrungen. Bastian betrachtete die beiden Brüder, die jetzt direkt nebeneinanderstanden. Pfarrer Johannes war zwar fast drei Köpfe kleiner als sein leiblicher Bruder, doch die Gesichtszüge der beiden wiesen eine erhebliche Ähnlichkeit auf. Zudem hatten beide graue Haare und ihre Nasen hätte man bedenkenlos gegeneinander austauschen können. Es hätte keinen der beiden entstellt.

»Denkt Ihr an meinen Gefallen, lieber Bastian?«

Bastian lächelte und verneigte sich höflich.

»Ich denke an nichts anderes und, Pfarrer Johannes, seid gewiss, dass ich Eurem Wunsch längst dicht auf der Spur bin. Ihr werdet schon sehr bald von mir hören!«

Bruder Ignatius’ Augen zeigten für einen kurzen Moment Verwirrung, doch schnell brachte er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle und blickte mitfühlend drein. Die ersten Gläubigen betraten die Kirche, die nach und nach vom Geflüster der Menschen erfüllt wurde. Die Menschenmenge wurde immer größer und schnell war jede einzelne Kirchenbank besetzt. Die beiden Brüder begaben sich nach vorne zum Altar und Bastian gesellte sich zu Wernhart, der gerade auf einer der hinteren Kirchenbänke Platz nahm.

 

 

 

 

Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie spürte fürchterliche Schmerzen, war aber so schwach, dass sie nicht einmal feststellen konnte, woher diese Schmerzen eigentlich kamen. Ihr eigener Name fiel ihr nicht mehr ein. Sie wusste nur, dass sie hier nicht hingehörte. Dieser dunkle Ort voller Schmerzen war nicht ihr zu Hause. Wie war sie nur hierher geraten? Plötzlich schoss der Name Jacob durch ihren verwirrten Geist. Das war ihr Ehemann.

Es war bitterkalt. Wasser tropfte von den Wänden und der Hall brach sich tausendfach in dem finsteren Gewölbe. Die Stetigkeit des Geräusches verursachte ein heftiges, qualvolles Pochen hinter ihrer Stirn. Tropf, Tropf! Sie wollte ihre Verzweiflung laut hinausschreien, doch ihre Kehle war geschwollen. Mehr als ein glucksendes Röcheln brachte sie nicht hervor. Tränen liefen ihr aus den Augen.

Für einen Moment klärte sich abermals ihr verwirrter Geist auf. Wie in einer Vision durchlebte sie noch einmal den schrecklichen Augenblick, als die grauenvolle Gestalt ihr mit einer goldenen Sichel die Zunge aus dem Mund herausschnitt. Augenblicklich schmeckte sie wieder das Blut in ihrem Mund. Ihr Magen drehte sich um und krampfte sich fürchterlich zusammen.

Die Nägel auf dem Holzstuhl drangen tiefer in ihr wundes Fleisch ein. Jetzt erkannte sie, woher die Schmerzen kamen. Ihr wurde schwarz vor Augen und eine Welle der Ohnmacht schenkte ihr ein wenig Frieden. Die dunkle, kalte Welt verblasste vor ihren Augen und ihr Kopf viel schlaff vornüber.

Eine schlanke Gestalt löste sich von der tropfenden Felswand. Sie ging auf die ohnmächtige Frau zu. Mit einer Hand schob sie den Kopf der Frau zur Seite. Dann schwebte die Gestalt wieder lautlos aus dem kalten Verlies.

 

 

 

 

In den Schatten der Häuser herrschte trotz des hellen Mondes tiefschwarze Nacht. Wernhart konnte seine eigenen Füße nicht erkennen. Prüfend streckte er einen Arm aus und blinzelte. Nichts. Es war so dunkel, dass er die Hand nicht vor Augen sah. Angst beschlich ihn und schnürte ihm die Kehle zu. Kurz dachte er darüber nach, wieder umzukehren und sich auf seinen Strohsack zu legen. Doch er wollte Bastian nicht enttäuschen und vor allem nicht als Feigling dastehen. Er hatte es versprochen. Ja, es war sogar seine eigene Idee gewesen, also würde er jetzt all seinen Mut zusammennehmen und zum Haus des Bruderältesten schleichen. Er hatte es schließlich nur halb so weit wie Bastian von der Mühle aus.

Wernhart atmete tief durch und griff noch einmal prüfend unter sein Wams. Der Dolch hing schwer aber sicher an seiner Seite. Es war eine scharfe Waffe und Wernhart fühlte sich ein wenig sicherer. Lautlos schlich er die Rheinstraße in Richtung Zollturm hinauf. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und versuchte, im schwarzen Schatten der Häuserwände zu bleiben. Die andere Seite der Gasse war vom Mondlicht hell erleuchtet. Man würde ihn dort auf große Entfernung sofort erkennen. Wenn sich die Bruderschaft heute Nacht wieder traf, müssten ihm die St.-Sebastianus-Brüder unweigerlich entgegenkommen, denn Bastian hatte bei seinem nächtlichen Ausflug beobachtet, wie sie einer nach dem anderen von Huppertz’ Haus in die Rheinstraße abgebogen waren. Auf keinen Fall durfte Wernhart entdeckt werden. Wer weiß, was die unheimliche Bruderschaft alles mit ihm anstellen könnte. Schon sah er sich umzingelt von singenden schwarzen Gestalten, deren dunkle Kutten im Wind wehten und die ihn mit bösen, dämonischen Blicken durchbohrten. Schnell verscheuchte Wernhart die düstere Szene vor seinen Augen. Wenn er sich jetzt mit seinen eigenen Gedanken in Angst und Schrecken versetzte, würde er es nie bis zu seinem Ziel schaffen. Vorher würde ihn vermutlich ein Herzanfall niederstrecken. Er fühlte, wie sein Herz vor Aufregung laut und kräftig pochte.

Vielleicht war es gar nicht gut, die Rheinstraße hinaufzulaufen. Besser wäre es, er würde einen kleinen Umweg gehen und sich aus derselben Richtung wie Bastian nähern. Dann könnten sie ihm nicht entgegenkommen, und so bestünde auch weniger Gefahr, dass sie zufällig in der Dunkelheit über ihn stolperten. Wernhart machte kehrt und schlich dann in der anderen Richtung an seinem Haus vorbei. Schon war er auf dem Schlossplatz angekommen. Der Platz war menschenleer. Die Blätter der Bäume bewegten sich im Nachtwind. Licht und Schatten brachten die Blätter zum Tanzen und mit jeder Windböe wurde ihr Tanz schneller. Die Blätter rauschten geheimnisvoll, und um ein Haar konnte man ihr Säuseln mit Stimmen verwechseln, die des Nachts herumirrten. Wernhart schauderte. Tapfer schlich er weiter, immer darauf bedacht, den Häuserschatten nicht zu verlassen.

Etwas klapperte hinter ihm und erschreckte ihn beinah zu Tode. Was war das? Ritt der Teufel durch die Nacht? Schon sah er sich von den Hufen eines schwarzen Rosses erschlagen auf dem Pflaster liegen, doch dann erkannte er, dass es nur ein Fensterladen war, der im Rhythmus des Windes auf- und zuschwang. Wernhart atmete abermals tief durch und bog nach rechts in die nächste Gasse ein, die in der Verlängerung direkt zum Haus von Huppertz führte. Aus der Ferne hörte er hallende Schritte, und dann sah er, wie sich eine Gestalt näherte. O Gott! Sie hatten ihn entdeckt. Panik übermannte ihn und Wernhart presste sich mit aller Kraft in den Schatten der Mauern. Hektisch tastete er nach seinem Dolch.

Die Gestalt näherte sich und flackernder Kerzenschein erhellte die Gasse. Wieso trug sie ein Licht? Es war eine Laterne! Erlöst atmete Wernhart auf. Es war nur Bechtolt, der Nachtwächter, der im selben Augenblick in eine Seitengasse abbog.

Wernhart lief weiter, schneller jetzt, aber immer noch im Schatten verbleibend. Nur noch wenige Meter war er vom Haus des Bruderältesten der St.-Sebastianus-Bruderschaft entfernt. Was würde ihn dort erwarten?

Stille. Es war dunkel und mucksmäuschenstill. Nicht einmal der Nachtwind schien die schwere Stille mit Säuseln durchdringen zu können. Ein schwerer schwarzer Mantel der Ruhe lag über Huppertz’ Haus. Alles, was Wernhart hören konnte, war sein eigener hektischer Atem und sein klopfendes Herz.

Wernhart schlich bis an die Hauswand und hockte sich direkt unter ein Fenster. Eine Weile würde er hier ausharren. Vielleicht konnte er doch noch irgendetwas entdecken.

Er wartete. Seine Glieder waren bald so steif, dass sie schmerzten, doch nichts war passiert. Es war dunkel und still. Wernhart erhob sich langsam. Das Blut begann wieder, durch seine Beine zu fließen, und seine Fußsohlen fühlten sich an, als würden tausende Nadeln hineinstechen. Er trat einige Male auf der Stelle, bis er sich ohne Schmerzen bewegen konnte. Dann tastete er das Fenster ab. Es war nicht verschlossen und ließ sich geräuschlos öffnen.

Wernhart starrte in die schwarze Stube. Es herrschte immer noch vollkommene Stille. Mit einem geschmeidigen Sprung hievte er sich über das Fensterbrett und landete lautlos in Huppertz’ Haus. Er duckte sich und verharrte regungslos. Nichts rührte sich. Blind tastete er sich durch die Stube. Wo könnte Huppertz die Schlüsselkette ablegen? Im Schlafgemach! Wo sonst? Wernhart stöhnte innerlich auf. Sollte er es wirklich wagen, die Treppe hinaufzusteigen, um sich in Huppertz’ Schlafgemach zu schleichen? Was, wenn er aufwachte?

Ohne weiter nachzudenken, schlich Wernhart geräuschlos die Stufen hinauf. Als er oben angekommen war, wurde es heller um ihn herum. Silbriges Mondlicht schien durch die oberen Fenster und verlieh den Räumen einen kalten Hauch. Wernharts Augen begannen langsam, die Umrisse der verschiedenen Möbelstücke zu erkennen. Er befand sich in einer kleinen Stube, in der nicht viel mehr als ein Schrank und ein Holzstuhl standen. Über dem Stuhl hing schwarzer Stoff, vor dem Schrank standen klobige Holzschuhe. Wernhart drehte sich um und stieß dabei gegen einen Bottich mit Wasser. Der Bottich schwankte, fiel jedoch nicht um. Nur das Wasser schwappte klatschend von einem Rand zum anderen. Wernhart blieb vor Schreck die Luft weg. Hoffentlich hörte das niemand! Für einen Moment stand er, wie zu einer Salzsäule erstarrt. Direkt neben dem Wasserbottich stand ein weiteres Gefäß. Etwas glitzerte darin. Wernhart beugte sich vorsichtig hinunter und konnte goldene Münzen erkennen. Einen ganzen Eimer voll! Wernhart ergriff einen Taler und betrachtete ihn. Das waren echte Goldgulden. Woher hatte Huppertz so viel Geld? Leise legte er den Gulden wieder in das Gefäß zurück. Aus dem Raum hinter ihm kamen knarrende Geräusche, die gleich wieder verstummten. Wernhart trat an die Tür und lugte durch den Spalt.

Der Mond schien in diesen Raum noch heller und er konnte er den schlafenden Brudermeister und seine Frau erkennen. Ein leises Schnarchen ließ das Leinentuch, welches zur Hälfte Huppertz’ Gesicht bedeckte, langsam auf und ab fliegen. Ansonsten rührte sich nichts. Wernhart war vor Angst ganz flau im Magen, aber jetzt war er so weit gekommen, dass er die Sache unbedingt zu Ende bringen wollte. Auf Zehenspitzen schlich er an das Bett heran.

Sein Puls schlug schneller, als er die Kette mit dem silbernen Schlüssel direkt neben Huppertz’ Bett erblickte. Fast geschafft! Mit zitternden Händen griff Wernhart nach der Kette. Klong! Die Kette war länger, als er vermutet hatte, und der Schlüssel hatte gegen das Bett geschlagen. O nein! Verdammt!

Wernhart war unfähig, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Huppertz riss die Augen auf und starrte ihn aus dunklen Augenhöhlen an. Beide fixierten sich sekundenlang, bis der Brudermeister sich als Erster fasste und aus dem Bett sprang. Seine Frau kreischte laut und plötzlich entbrannte in der nächtlichen Ruhe das Chaos. Ein Kissen flog durch das Zimmer gegen Wernharts Brust. Die Berührung brachte ihn zur Besinnung, und er stürzte, so schnell ihn seine Beine trugen, die Treppe hinab. Er hörte Huppertz’ trampelnde Schritte direkt hinter sich. Der Bruderälteste bewegte sich flinker, als Wernhart vermutet hätte. Sein Wams wurde nach hinten gezerrt, doch er konnte sich mit einem gewaltigen Ruck losreißen. Dann krachte etwas Hölzernes an seinen Schädel und Wernhart sah helle Blitze vor seinen Augen explodieren. Rette den Schlüssel! Das war sein letzter Gedanke, bevor er krachend die Treppe hinabfiel und auf dem Boden aufschlug. In letzter Sekunde stopfte er sich den kleinen Schlüssel samt Kette in den Mund und schluckte ihn würgend hinunter. Das Metall war kalt und sperrig, sodass Wernhart seine ganze Kraft aufwenden musste, um es nicht sofort wieder auszuspeien. Er versuchte, seine Speiseröhre zu entspannen, und spürte, wie der Schlüssel quälend langsam in seinem Magen ankam. Dann verließen ihn die Sinne.

 

 

 

 

»Wir können ihn nicht der Stadtwache übergeben! Er hat das Gold gesehen!«, Huppertz fuhr Wilhelm böse an und dieser wich sofort einen Schritt zurück.

»Wir behalten ihn erst einmal hier, bis uns etwas Besseres einfällt!«

»Seid Ihr Euch sicher, dass er den Schlüssel gestohlen hat?«

»Wer denn sonst? Was seid Ihr für ein Narr! Ich bin mir sicher, dass ich ihn gestern Abend noch hatte.«

»Das war der letzte Schlüssel. Was machen wir jetzt?«

»Jetzt regt Euch nicht so auf, Wilhelm! Er wird früher oder später wieder auftauchen, da bin ich ganz sicher!«

»Aber wenn jemand die Truhe öffnet?«

»Hört zu, Wilhelm: Selbst wenn es jemandem gelingen sollte, alle drei Schlüssel in seine Gewalt zu bringen, dann heißt es noch lange nicht, dass dieser Jemand auch weiß, wo sich die Truhe befindet!«

Genervt verschloss Huppertz den kleinen, feuchten Kellerraum. Dann schob er Wilhelm wie einen kleinen Jungen vor sich her bis ins Erdgeschoss. Fürs Erste würde Wernhart nicht entwischen können! Und wenn er die Wahrheit aus ihm herausprügeln müsste, Huppertz würde sie von ihm erfahren! Irgendwo musste er den Schlüssel versteckt haben!

Zuerst hatte er geglaubt, der Schlüssel wäre bei Wernharts Treppensturz abhandengekommen. Doch mittlerweile hatte er das ganze Haus mehrmals auf den Kopf gestellt und ihn immer noch nicht gefunden. Dieser verfluchte Mistkerl! Er musste erst den Schlüssel wiederhaben und ihn dann für immer zum Schweigen bringen! Das Gold hätte er nicht sehen dürfen. Wernhart wusste eindeutig zu viel!

 

 

 

 

Bastian war flau im Magen. Er hätte Wernhart niemals alleine zu Huppertz ziehen lassen dürfen. Er wartete jetzt seit über einer Stunde auf ihn, und er ahnte, dass Wernhart nicht zurückkommen würde. Nicht kommen könnte! Sie hatten ihn erwischt. O Gott, was sollte er jetzt nur tun? Angestrengt dachte Bastian nach. Seine Wangen glühten! Sollte er bis heute Nacht warten und dann im Alleingang einen Befreiungsversuch wagen? Nein, nachts erwarten sie dich erst recht! Sei nicht töricht!

Er musste es am helllichten Tag versuchen. Damit würde niemand rechnen! Doch wie sollte er es anstellen? Sollte er sich tatsächlich mitten am Tag in Huppertz’ Haus stehlen? Die Mauerstraße war tagsüber belebt und das Haus befand sich unmittelbar in der Nähe des Zollturms. Vielleicht war das gar nicht schlimm. Unter den vielen Menschen, die zur Zollstelle strömten, würde er gar nicht auffallen!

Bastian machte sich auf den Weg. Er zog einen Karren aus der Mühle hinter sich her. Eigentlich war er für Mehlsäcke gedacht, doch Bastian hatte ihn nicht beladen. Ein dickes Leinentuch verbarg die leere Ladefläche vor neugierigen Blicken. Die ganze Zeit musste er an Wernhart denken. Er würde es sich nie verzeihen, wenn ihm etwas Ernsthaftes zugestoßen wäre! Verzweiflung ergriff ihn und seine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Er sah die bösen Augen von Huppertz und konnte sich lebhaft ausmalen, wozu dieser imstande war. Er sah den armen Wernhart gefesselt in einem kalten Verlies vor sich, umzingelt von Männern in schwarzen Kutten, mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen. Sie sangen ein schauerliches Lied und dann hielt einer von ihnen eine rot glühende Eisenstange hoch und wollte sie direkt in Wernharts Herz stoßen. Bastian atmete tief durch und verscheuchte die grauenvolle Vision.

Sie hatten ihn erst seit heute Nacht. Noch war es nicht zu spät. Das konnte er genau spüren! Bastian bog in die Mauerstraße ein. Wie er vermutet hatte, tummelte sich eine bunte Menschenmenge in der Straße und er mischte er sich unauffällig unters Volk. Vor Huppertz’ Haustür blieb Bastian abrupt stehen, er sammelte sich und ging dann beherzt hinein. Die Tür war nicht verschlossen. Mit drei schnellen Schritten gelangte er mitten in die Stube. Mit klopfendem Herzen überlegte er, wo er zuerst suchen sollte, da fiel ihm die kleine Holztür unter der Treppe auf. Er lief auf Zehenspitzen dorthin. Huppertz’ Eheweib konnte er in der Küche hantieren hören und wollte auf keinen Fall von ihr entdeckt werden.

Die massive Holztür war mit altem, verrostetem Eisen beschlagen und ließ sich nur schwer öffnen. Schon befürchtete Bastian, dass sie so laut quietschen würde, dass man es bis auf die Straße hören könnte, doch die Tür öffnete sich ohne einen einzigen Laut. Sein Herz klopfte dröhnend in seinen Ohren und Panik machte sich in ihm breit. Noch nie hatte er sich in ein fremdes Haus gewagt. Seine Sinne waren geschärft. Irgendwo aus dem Kellergewölbe vernahm Bastian ein leises Stöhnen. Vorsichtig stieg er die Kellerstufen hinab. Sie waren in den Stein gehauen, glitschig und feucht. Schon rutschte Bastian aus und es fehlte nicht viel und er wäre gestürzt, doch er schaffte es, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Die letzten Stufen schaffte er ohne Schwierigkeiten.

Es war dunkel in dem Kellergewölbe. Die Luft war muffig und feucht. Durch die Nähte seiner Schuhe drang Wasser. Es hatte schon oft Hochwasser in Zons gegeben, und Huppertz’ Haus lag so dicht am Rhein, dass der Keller feucht war. Bastian bewegte sich leise durch die Wasserpfützen vorwärts. Das Stöhnen kam von der linken Seite. Blind tastete er die feuchten Kellerwände ab. Dann stießen seine Hände auf Holz. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Hatte er die Tür zu Wernharts Verlies erreicht? Bastian tastete sich weiter voran und fand schließlich eine dicke Eisenkette mit einem Schloss daran. Er holte sein eisernes Werkzeug, welches er unter seinem Wams versteckt hatte, hervor und machte sich an die Arbeit. Knack! Das Schloss öffnete sich. Die Kette schlug gegen die Holztür und der Laut hallte an den Kellerwänden wider. Sei leise!

»Wernhart? Bist du hier drin?«, flüsterte Bastian aufgeregt. Doch außer Stöhnen kam keine Antwort. Verdammt! Bastian öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hindurch. Ein plötzlicher Windzug ließ die Tür mit lautem Knall zuschlagen. Bastian verharrte panisch im Dunklen. Schon konnte er Schritte vernehmen, die polternd die Kellertreppe herunterstolperten. Bastians Atem stockte.

Ein Lichtschein flackerte durch die Ritzen der Holztür und Bastian presste sich angriffsbereit in die Ecke. Seine Anspannung wuchs ins Unerträgliche. Jeden Moment würde er entdeckt werden! Doch der Lichtschein kam nicht näher.

»Es ist nichts!«, brummte eine dunkle, mürrische Männerstimme, die sich mit jedem Wort wieder von Bastian entfernte. Krachend wurde oben die Tür zum Kellergewölbe wieder geschlossen. Bastians Herz raste und feine Schweißperlen liefen ihm die Stirn hinunter. Sein Atem ging schlagartig und seine Hände zitterten. Entsetzt lehnte er den Kopf an die kühlende Felswand. Das war knapp gewesen!

Von der anderen Seite des Raumes konnte er wieder das leise Stöhnen vernehmen. Vorsichtig kroch er über den feuchten Felsboden. Mit den Händen tastete er den Boden ab. Stroh! Er konnte die verfaulenden Halme spüren, die sich vom Wasser aufgeweicht wie Seetang um seine Finger schlangen. Ekel stieg Bastians Speiseröhre empor und sein Magen war kurz davor, das karge Frühstücksmahl hinauszuschleudern. Doch er würgte es schnell wieder hinunter.

Dann stieß seine Hand auf etwas Ledernes. Es war ein Schuh. Hektisch tastete Bastian weiter in der Dunkelheit. Hier lag jemand. War es Wernhart? Wieder vernahm er leises Stöhnen. Bastian nahm den Kopf des wimmernden Mannes in die Hände und schüttelte ihn leicht.

»Bist du das Wernhart? So wach doch auf!«

Nichts. Bis auf ein leises Wimmern kam kein Laut über die Lippen des Mannes. Bastian spürte am Hinterkopf des Gefangenen eine klebrige Flüssigkeit. Er leckte seinen Finger ab und schmeckte etwas Metallisches, Blut. Der arme Kerl hier hatte vermutlich eine riesige Kopfwunde. Bastian bildete sich ein, Wernharts Haarschopf zu erkennen. Er spannte seine Muskeln an und lud den schweren Körper auf seine breiten Schultern. Das Gewicht des Mannes betrug mindestens zwei Mehlsäcke, doch Bastian hatte in seinem Leben als Müllerssohn schon schwerer geschleppt. Vorsichtig bewegte er sich mit seiner Last über den glitschigen Boden des Kellers und schlüpfte durch die Holztür. An der Treppe verharrte er einen Moment und lauschte angestrengt. Oben herrschte Stille! Ob sie vor der Tür auf ihn lauerten? Aber einen anderen Ausgang gab es nicht. Er musste es versuchen! Zumindest war der Überraschungseffekt auf seiner Seite. Bastian rief sich noch einmal die Stube ins Gedächtnis. Er musste nur mit fünf schnellen Schritten die Stube durchqueren, um die Straße zu erreichen. Wenn er es erst einmal nach draußen geschafft hatte, würde es sicherlich niemand wagen, ihn anzugreifen. Jeder kannte ihn als Mitglied der Stadtwache, und Huppertz würde sich keinen Gefallen damit tun, ihn in sein Haus zurückzuzerren.

Oben war immer noch alles ruhig. Bastians Herz schlug so heftig, dass er das Gefühl hatte, seine Rippen könnten bersten. Er atmete tief ein und konzentrierte sich. Wir kommen hier raus! Leise nahm er Stufe für Stufe und wich dabei den Unebenheiten, die ihn beim Hinabsteigen fast zu Fall gebracht hätten, aus. Auf der letzten Stufe hielt er inne. Der Verletzte stöhnte leise auf seinen Schultern.

Hoffentlich wacht er nicht ausgerechnet jetzt auf, fuhr es Bastian panisch durch den Kopf.

Rasch drückte er gegen die schwere Kellertür und schob sie behutsam einen Spaltbreit auf. Das Licht war grell und seine Augen brauchten einen kurzen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Er lugte durch den Spalt. Die Stube schien leer. Sein Herz hämmerte so laut, dass selbst der Hammer des Schmiedes es nicht übertönen würde. Schweiß lief ihm über die Stirn, und er spürte, wie das Gewicht des Mannes ihm langsam zu schaffen machte. Jetzt oder nie! Bastian stieß die Tür auf und lief mit schnellen, geschmeidigen Schritten zur Haustür. Die Stube war leer. Er riss die Haustür auf und eilte mit seiner Last auf die gegenüberliegende Straßenseite. Eine Frau sah ihn mit aufgerissenen Augen an, doch Bastian schenkte ihr keine Beachtung. Hastig hob der die Leinendecke hoch und warf den Verletzten eilig auf den Karren. Gott sei Dank! Es war Wernhart. Ein Blick auf seinen blutüberströmten Freund sagte ihm jedoch, dass er mit ihm sofort zu Josef Hesemann musste. Zügig schlug er das Leinentuch über Wernhart und verließ so schnell er konnte die Mauerstraße.

 

 

 

 

Wernharts Atem ging flach. Aber wenigstens war er am Leben und hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Erschöpft saß er auf einem Stuhl vor Bastian und dem Arzt, die ihn besorgt betrachteten. Röchelnd und würgend hatte Wernhart von seinem nächtlichen Abenteuer in Huppertz’ Haus und von der hinuntergeschluckten Kette berichtet. An seinem Hinterkopf klaffte eine riesige Kopfwunde, doch Josef hatte beschlossen, zuerst die Schlüsselkette aus Wernharts Schlund zu entfernen, bevor er die Wunde versorgte. Es war eine gute Idee gewesen, es dem Fahnenträger Benedict Eschenbach gleichzutun und die Kette samt Schlüssel hinunterzuschlucken. Doch einen so großen Gegenstand hinunterzuwürgen, war nicht so einfach und konnte zudem den Schlund verletzten.

Josef Hesemann klemmte vorsichtig zwei Holzspangen zwischen Wernharts Ober- und Unterkiefer. Er fasste langsam in seinen Schlund. Wernhart begann zu würgen und versuchte, den Kopf wegzudrehen.

»So haltet doch endlich still!«, befahl Josef und sah Wernhart streng an.

Dieser lehnte den Kopf zurück und tat, wie ihm geheißen.

»Bastian, haltet seinen Kopf, so fest Ihr könnt. Die Kette steckt verdammt tief in ihm drin. Ich befürchte, auf diesem Wege bekommen wir sie nicht heraus!«

Josef runzelte konzentriert die Stirn und griff abermals nach dem Ende der Kette. Wie ein Aal glitt sie ihm aus der Hand. Er probierte es ein weiteres Mal, diesmal mit einem trockenen Leinentuch, und siehe da, er hatte das Ende fest zwischen seinen Fingern. Langsam versuchte Josef, das sperrige Ding aus Wernharts Speiseröhre herauszuziehen, doch es bewegte sich nur wenige Zehntel Zoll aufwärts. Dann spürte er einen Widerstand. Nein! Es war zu gefährlich, weiter an der Kette zu ziehen. Josef wollte Wernhart auf keinen Fall die Speiseröhre aufreißen und ihn so womöglich dem Tode weihen. Er hatte schon mit angesehen, wie Menschen litten, die von ihrer eigenen Magensäure aufgefressen wurden.

»Wir müssen es anders versuchen! Bastian, holt mir einen großen Eimer mit Wasser.«

Mit diesen Worten ging Josef zu seinem Medizinschrank und nahm ein Fläschchen Rizinusöl heraus. Er öffnete die Flasche und goss einen großen Schluck in eine Holzschale.

»Hier, Wernhart, trinkt die Schale ganz aus. Und diesen Eimer mit Wasser hier werdet Ihr bis zum Abend leeren. Eure Notdurft verrichtet Ihr dort hinten und lasst bitte alles in den Eimer fallen. Mit etwas Glück haben wir den Schlüssel bis morgen früh aus Euch herausgespült.«

»Ihr werdet über diesen Fund doch Stillschweigen wahren?«, fragte Bastian und blickte Josef tief in die Augen.

»Weder über die Schlüsselkette, welche wir aus dem armen Benedict herausgezogen haben, noch über diese hier, die hoffentlich bald Wernharts Gedärme verlässt, wird je ein Wort über meine Lippen kommen. Da könnt Ihr Euch ganz sicher sein, mein lieber Bastian.«

Ein würgendes Geräusch ließ die beiden innehalten. Sie blickten sich um. Der arme Wernhart wand sich wie ein Wurm, den Körper vor Schmerzen gekrümmt. Dann lief er flink wie ein Eichhörnchen und gebeugt wie ein alter Mann zu der Stelle für seine Notdurft. Die Geräusche waren eindeutig: Wernhart übergab sich!

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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