IV.
Gegenwart
»Wieso hat er ihre Finger wie Perlen auf eine Kette aufgereiht?« Der Leiter des Kriminalkommissariats, Hans Steuermark, starrte Oliver mit stechendem Blick an. Oliver zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Seine Augen waren auf die Großaufnahme der Leiche gerichtet.
»Ich habe noch keine Erklärung dafür. Ich weiß nur, dass der Täter sich sehr sicher gefühlt haben muss, denn die ganze Prozedur hat sich über Stunden hingezogen. Frau Scholten geht davon aus, dass ihr die Finger bei lebendigem Leib abgetrennt wurden. Wahrscheinlich hat das Opfer sogar dabei zugesehen, wie er die Finger aufgefädelt und vor ihren Augen aufgehängt hat. Ich denke, dass er das Morden genießt. Er will, dass seine Opfer wissen, dass sie sterben werden – zu einem Zeitpunkt, den er bestimmt.«
»Haben Sie die Datenbank einmal nach vergleichbaren Fällen durchforstet? Ich denke, dass dies hier nicht sein erster Mord ist.«
»Ja, aber auf deutschem Boden gibt es keine ähnlichen Morde. In Amerika laufen etliche von diesen Spinnern rum. Hier hat die Datenbank gleich drei Übereinstimmungen gefunden. Zuerst dachte ich, es liegt an meiner ungenauen Beschreibung. Aber tatsächlich hat im letzten Jahr in St. Paul, im US-Bundesstaat Minnesota, ein vergleichbarer Mord an einer Prostituierten stattgefunden. Er hat ihre Finger zwar nicht auf einen Nylonfaden gefädelt, aber er hat sie wie ein Kunstwerk zusammengenäht und auf einer silbernen Platte drapiert.«
Mit diesen Worten drückte Oliver seinem Chef den Ausdruck der Datenbankanalyse in die Hand.
»Gut«, antwortete Hans Steuermark nachdenklich, während er in dem Bericht blätterte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir eine Verbindung zwischen unserem und deren Fall herstellen können.«
Oliver lehnte sich auf seinem Stuhl vor: »Immerhin sind Neuss und St. Paul seit einigen Jahren Partnerstädte. Über dreißig amerikanische Firmen sind hier in Neuss angesiedelt, darunter auch große Namen wie UPS oder 3M. Ganz von der Hand zu weisen ist eine Verbindung nicht.«
Steuermark horchte auf und blickte Oliver anerkennend an. »Nicht übel, Herr Bergmann. Es könnte durchaus sein, dass einer der Angestellten oder jemand aus seinem Umfeld hier sein Unwesen treibt. Schließlich hat man in den USA den Täter nicht gefunden und ein weiterer Mord ist nicht registriert.«
»Das ist richtig. Ich werde mir eine Liste aller in Neuss und Umgebung lebenden Amerikaner geben lassen.«
Steuermark klopfte Oliver auf die Schulter. »Und vergessen Sie nicht, auch die deutschen Angestellten, die einen längeren Aufenthalt in Minnesota hatten, zu überprüfen. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie im Kalender der Toten keine ausländischen Namen gefunden. Da spricht doch vieles dafür, das unser Täter aus Deutschland stammt.«
Mit diesen Worten ließ Steuermark Oliver stehen und marschierte in seiner üblichen, stürmischen Gangart aus dem Büro. Mit einem lauten Knall flog die Tür zu und Oliver saß wieder alleine an seinem Schreibtisch. Angestrengt rieb er sich die Schläfen. In letzter Zeit litt er häufiger unter Kopfschmerzen. Er war ständig verspannt. Genauer gesagt ließ ihm die Sache mit der Visitenkarte seines Partners keine Ruhe. Ein kurzer Blick auf den Kalender sagte ihm, dass er noch zwei Tage warten musste, bevor Klaus aus dem Urlaub zurückkam.
Abermals nahm er den Telefonhörer in die Hand und überlegte, ihn einfach anzurufen. Nach ein paar Sekunden legte er den Hörer zurück auf die Gabel. Nein, dachte Oliver, das musste er persönlich mit Klaus klären. Sicher gab es eine harmlose Erklärung dafür, dass diese verdammte Visitenkarte im Kalender der ermordeten Sophia Koslow steckte.
Langsam zog er die oberste Schublade seines Schreibtisches auf. Da lag sie, direkt oben auf. Sie sah so harmlos aus, wie ein Stückchen Papier nur aussehen konnte. Und doch barg sie eine große Gefahr in sich. Nicht nur, dass Klaus in Verbindung mit einem Mordopfer stand. Das Schlimmste war, dass Oliver seine eigenen Regeln verletzt hatte. Sein schlechtes Gewissen pochte hinter seinen Schläfen. Jetzt war es längst zu spät. Er hatte Klaus gedeckt, ohne dass dieser es auch nur ahnte, und es gab kein Zurück mehr. Die Karte würde nie wieder unauffällig an ihrem Ursprungsort landen. Das, was Oliver getan hatte, war falsch. Im Beamtendeutsch ausgesprochen war es Unterdrückung von Beweismitteln und damit eine Straftat. Wenn die herauskam, würde eine Menge Ärger auf ihn zukommen.
Er hatte es noch nicht einmal übers Herz gebracht, Emily davon zu erzählen. Eigentlich vertraute er ihr alles an, bedingungslos. Sie war die Frau seines Lebens und er wollte keine Geheimnisse vor ihr haben. Doch er brachte es nicht fertig, ihr von der Visitenkarte zu berichten. Er schämte sich für seinen Vertrauensbruch, doch viel schwerer noch wog die Angst, dass Emily ihn plötzlich mit anderen Augen sehen könnte. Dass er nicht mehr ihr aufrechter Held, sondern einfach nur ein korrupter Polizeibeamter war, für den der Ruf seines Partners über der unbequemen Wahrheit stand.
...
Emily durchsuchte das Internet seit Stunden. Es war verdammt schwierig, an die notwendigen Informationen zu kommen. Sie war sich nie sicher, ob sie gerade auf einer seriösen oder zwielichtigen Seite surfte. Zwar musste mittlerweile jede Internetseite nach dem Telemediengesetz ein aussagekräftiges Impressum angeben, doch heutzutage konnte man für wenig Geld eine Firma mit einem wohlklingenden Namen gründen.
Gibt es das Böse wirklich? Das war der Titel ihrer neuen Reportage für die Rheinische Post. Nachdem sie in den letzten Monaten über zwei der bekanntesten Serienmörder des historischen Zons geschrieben hatte, wollte sie ihre Arbeit auf diesem Themengebiet fortsetzen. Eigentlich benötigte sie für diese Aufgabe psychologische Vorkenntnisse, doch die gab ihr Journalismus-Studium nicht her. Deshalb recherchierte sie im Netz.
Es gab tausende Seiten zu dieser Fragestellung. Emily hatte beschlossen, zunächst mit psychiatrischen Kliniken zu beginnen. Sie glaubte, dass sie hier am ehesten auf vertrauenswürdige Quellen stoßen würde. Im Rhein-Kreis Neuss gab es große geschlossene Abteilungen, doch Emilys Blick blieb am Foto einer kleinen psychiatrischen Anstalt hängen. Sie befand sich mitten im Nirgendwo zwischen Zons und Rheinfeld. Es war das Foto, das Emilys Aufmerksamkeit erregte. Die Klinik sah wie eine traurige Villa aus. Mitten in einem großen Park umrandet von uralten Bäumen stand ein weißes Haus mit vielen Fenstern. Die Fenster blickten sie wie schwarze Augen an. Obwohl die Villa ein prachtvolles Gebäude mit niedlichen kleinen Türmchen an den Ecken war, konnte Emily die Leere spüren, die von diesem Ort ausging.
Die brutalsten Morde wurden oft von Menschen verübt, die unter psychischen Störungen litten. Die schlimmsten Täter bezeichnete man als Psychopathen, obwohl es diesen Begriff in der medizinischen Wissenschaft gar nicht gibt. Psychopathen konnten ihren Mitmenschen Wärme und Zuneigung vorgaukeln, obwohl sie in ihrem Inneren keinerlei Gefühle für diese Menschen hegten. Das machte sie besonders gefährlich. Opfer gingen ihnen leicht in die Falle, da Psychopathen in der Lage waren, genau das vorzuspielen, was ihr Gegenüber erwartete. War das Opfer erst einmal ins Netz gegangen, gab es kein Halten mehr. Brutal und rücksichtslos konnte der Psychopath ohne jegliches Mitgefühl die widerlichsten Verbrechen begehen. Zudem vermochten solche Täter das Unrecht ihres Handelns nicht einzusehen, obwohl sie oft hochintelligent waren.
Interessanterweise gab es auch in den deutschen Chefetagen eine ganze Reihe von Psychopathen. Eine wissenschaftliche Studie hatte erst vor kurzem die Führungskräfte diverser Unternehmen unter die Lupe genommen und dabei festgestellt, dass psychopathische Persönlichkeiten besonders gut Karriere machten. Sie hatten mehr Durchhaltevermögen als ihre Kollegen und empfanden auch persönliche Niederlagen nicht als Kränkung. Folglich konnten sie ihr Karriereziel viel beharrlicher und sachlicher verfolgen. Kälte und Unempfindlichkeit sowie mangelndes Verständnis für die Bedürfnisse der eigenen Mitarbeiter waren die modernen Voraussetzungen, wenn man es ganz nach oben schaffen wollte. Diese »Business-Psychopathen« waren in den meisten Fällen keine brutalen Mörder. Aber eine Gemeinsamkeit hatten alle Psychopathen: den unbedingten Macht- und Kontrolltrieb. Bei psychopathischen Persönlichkeiten, die bereits in der Kindheit schwere Misshandlungen und Zurückweisungen erlebt hatten, endete dieses Persönlichkeitsprofil nur allzu oft in Gewalt und Verbrechen.
Emily runzelte nachdenklich ihre Stirn. In einer großangelegten Studie hatte einer der bekanntesten deutschen Forscher von der Universität Tübingen herausgefunden, dass die Gehirne von Psychopathen anders funktionierten als die »normaler« Menschen. Mit Hilfe der Kernspintomografie hatte er hunderte Gehirne detailliert untersucht. Die Ergebnisse waren bahnbrechend.
Hat ein »normaler« Mensch Angst, werden bestimmte Areale im Gehirn aktiviert. Für Angst sind es insbesondere die Insula, die Amygdala und der orbitofrontale Kortex. Dort feuern Nervenzellen, wenn wir Angst empfinden, tausende von Signalen ab. Verbrennen wir uns beispielsweise am Lagerfeuer die Finger oder fallen beim Balancieren über einen dünnen Steg ins tiefe Wasser, kann der Kernspintomograf eine Aktivität in den für Angst relevanten Gehirnbereichen nachweisen.
Bei einem Psychopathen hingegen herrscht bei gleichen Situationen absolute Funkstille. Er kann keine Angst empfinden. Da ihm dieses Gefühl völlig fremd ist, kann der Staat selbst mit Androhung der Todesstrafe keinen gewalttätigen Psychopathen zu einer Verhaltensänderung bringen. Er ist unfähig, aus einer erlittenen Gefängnisstrafe zu lernen. Das macht ihn so extrem gefährlich und ist auch ein Grund dafür, warum psychopathische Straftäter viel häufiger rückfällig werden als andere Kriminelle.
Interessiert las Emily die Studie zu Ende. Sie musste an den Puzzlemörder denken. Über ihn hatte sie ihre erste Reportage geschrieben. Im Mittelalter hatte er das kleine Städtchen Zons in Angst und Schrecken versetzt. Er war auf der Jagd nach jungen Mädchen, die er zuerst vergewaltigte, mit dubiosen Zeichen entstellte und anschließend tötete. Bastian Mühlenberg, der Ermittler der Stadtwache, war ihm damals dicht auf den Fersen, doch bevor er ihn dingfest machen konnte, verschwand der Puzzlemörder spurlos. Noch während Emily mit der Veröffentlichung ihrer Reportage beschäftigt war, tauchte in der Gegenwart ein Nachahmungstäter auf. Diesem wäre fast ihre beste Freundin Anna zum Opfer gefallen, wenn nicht ein glücklicher Umstand jenem Psychopathen einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Die beiden jungen Frauen kannten den Täter sehr gut und hielten ihn für einen Freund. Nie im Leben wären sie auf die Idee gekommen, dass eine Gefahr von ihm ausging. Er ist auch ein Psychopath, dachte Emily, und war in diesem Moment froh, dass Christopher mittlerweile hinter Schloss und Riegel saß.
Emily druckte sich die Kontaktdaten der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie aus. Am nächsten Tag würde sie Professor Morgenstern, dem Leiter der Klinik, einen Besuch abstatten. Er schien Experte auf dem Gebiet der psychopathischen Persönlichkeitsstörung zu sein. Vielleicht stellte er ihr sogar ein paar interessante Patienten vor, die sie für ihre neue Reportage interviewen konnte.
...
Er hasste dieses Zimmer. Es bestand zur Hälfte aus Dachschrägen, die den Raum viel kleiner erscheinen ließen. Aber das Schlimmste waren die Dachfenster. Sobald es anfing zu regnen, prasselten unaufhörlich Regentropfen auf die Glasscheibe. Tropf, Tropf, Tropf ...
Er konnte dieses Geräusch nicht ertragen. Es machte ihn wütend. Er hatte bereits alles versucht, um die Tropfgeräusche zu dämmen. Sogar sein Kopfkissen hatte er von außen ans Fenster geschnallt, aber der Wind war zu stark gewesen. Keine fünf Minuten später lag das Kissen im Garten und er musste die hämmernden Tropfen erneut ertragen. Tropf, Tropf, Tropf ...
Adrian war mit seinen Nerven am Ende. Er spürte, wie das Ungeheuer in ihm erwachte. Krampfhaft versuchte er, sich daran zu erinnern, was dieser dämliche Psychiater ihm geraten hatte. Zählen! Er sollte anfangen, langsam zu zählen. Seine Lippen formten sich zur ersten Zahl: eins ... zwei ... drei ...... dreiundzwanzig ... vierundzwanzig ... fünfundzwanzig. Stopp. Das musste reichen.
Adrian lauschte in sich hinein. Das Ungeheuer war stehengeblieben, aber er konnte es immer noch deutlich fühlen. Er musste weiterzählen. Langsam begann er von vorne. Immer lauter sagte er die Zahlen auf. So laut, dass seine Stimme die Tropfen übertönte. Gerade als er anfing, in einen angenehmen Rausch zu verfallen, wurde seine Zimmertür aufgerissen. Eine Schwester in weißer Tracht blickte ihn besorgt an. Da konnte er das Ungeheuer nicht mehr aufhalten. Mit einem gewaltigen Satz sprang es heraus und stürzte sich auf die Frau. Er hatte sie hier noch nie gesehen, und obwohl Adrian wusste, dass es sein Verderben sein könnte, ließ er das Ungeheuer gewähren.
Die Stimme der Vernunft tief in seinem Innersten versuchte flehend, ihn zurückzuhalten. Doch als er die Angst der Frau in ihren weit aufgerissenen Augen erkannte und ihr hilfloses Schluchzen hörte, war es zu spät. Er genoss jeden Moment.
...
»Verdammt, Frau Winterfeld, was haben Sie sich nur dabei gedacht? Sie hätten sterben können, ist Ihnen das klar?«
Bettina Winterfeld richtete den Kopf auf und nickte. »Sie haben vollkommen recht, Herr Morgenstern. Das war völlig naiv von mir.«
Professor Morgenstern schüttelte ärgerlich den Kopf, legte jedoch gleichzeitig sanft seine Hand auf ihre Schulter. »Naja, es ist ja alles noch einmal gutgegangen. Ich darf mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Nils Wengler nicht zufälligerweise in der roten Etage zu tun gehabt hätte.«
Die rote Etage, so nannten alle hier den gesicherten Bereich der geschlossenen Abteilung. Hier wurden die besonders schweren Fälle hinter Schloss und Riegel gehalten. Nicht wenige Patienten, viele davon ehemalige Straftäter, befanden sich in der sogenannten Sicherungsverwahrung. Auch nach Verbüßung ihrer Strafe galten sie als so rückfallgefährdet, dass sie lebenslang eingesperrt werden mussten. Dem Personal war es streng untersagt, die Zimmer dieser Insassen alleine zu betreten. Bettina Winterfeld war zwar neu hier, hatte aber zuvor jahrelang in einer großen psychiatrischen Klinik in Köln gearbeitet und kannte sich mit solchen Fällen eigentlich bestens aus. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie die Regeln missachtet hatte und ohne Begleitung in dieses Zimmer gestürmt war.
Zunächst hatte sie einfach nur eine männliche Stimme gehört, die schleppend von eins bis fünfundzwanzig zählte. Die Stimme wiederholte diese Zahlenreihen ständig und wurde dabei immer schriller und lauter. Sie glaubte, ein verzweifeltes Röcheln wahrzunehmen und war einem plötzlichen Impuls folgend einfach losgestürmt. Als ihr Verstand wieder einsetzte, hatte er sich schon auf sie gestürzt. Ein junger Mann mit hübschem, zarten Gesicht, dunklen Locken und grünen Augen hatte sie wie ein Wahnsinniger malträtiert, noch bevor sie sich überhaupt rühren konnte. Sie war so fasziniert von seinem Anblick, dass sie alle Vorsicht vergessen hatte.
Zum Glück hatte der Pfleger Nils Wengler schmutziges Geschirr von der letzten Schicht in der winzigen Küche der roten Etage vergessen, welches für das Frühstück am nächsten Morgen unbedingt noch zum Reinigen in die Großküche gebracht werden musste. Ansonsten hätte Bettina Winterfeld den nächsten Tag mit großer Sicherheit nicht mehr erlebt. Erneut schüttelte sie den Kopf, entsetzt über ihr unüberlegtes Handeln. Sie war jetzt 50 Jahre alt und sah für ihr Alter immer noch attraktiv aus. Ihr lockiges Haar wirkte nicht mehr ganz so voll wie vor ein paar Jahren. Die Krähenfüße um ihre Augenwinkel hatten sich im Laufe der Jahre tiefer in die Haut gegraben. Dennoch strahlte ihr Gesicht immer noch die jugendliche Kraft aus, die sie als junge Frau zu einer Schönheit gemacht hatte. Professor Morgenstern blickte sie immer noch mit einer Mischung aus Verärgerung und Mitleid an.
»Am besten, Sie ruhen sich heute erstmal aus. Machen Sie sich einen schönen freien Tag und erholen Sie sich von dieser Attacke. Ich werde dafür sorgen, dass Sie in den nächsten Wochen von der roten Etage fernbleiben und den Dienstplan anpassen.«
Bettina nickte erleichtert. Offenbar hatte Professor Morgenstern nicht vor, sie verantwortlich zu machen. Da sie neu in dieser Klinik war und sich noch in der Probezeit befand, hatte sie sich bereits Sorgen um eine Entlassung oder zumindest eine Abmahnung gemacht.
Als wenn der Professor ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Frau Winterfeld, das, was Sie da letzte Nacht erlebt haben, war Strafe genug. Ich wünsche niemanden, dem Bösen so nahe zu kommen. Ich weiß, dass Ihnen ein solcher Fehler nie wieder unterlaufen wird. Also machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Und jetzt gehen Sie nach Hause und ruhen sich aus.«
Er sah ihr bei diesen Worten offen in die Augen und Bettina konnte spüren, dass er es ehrlich meinte.
»Dafür bin ich Ihnen wirklich aufrichtig dankbar, Professor Morgenstern. Ich verspreche Ihnen, dass so etwas nie wieder vorkommt.« Bettina Winterfeld erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl und wankte leicht benommen aus dem Büro des Professors hinaus. Er hatte vollkommen recht, sie musste sich erholen. Nach dem Schlag auf den Hinterkopf, den dieser Wahnsinnige ihr versetzt hatte, pochte ihr Schädel wie ein praller Gartenschlauch, der kurz vor der Explosion stand. Sie würde nach Hause fahren, sich auf die Couch legen und die Schwellung mit Eis kühlen. Morgen war ein neuer Tag, und den würde sie voll frischer Energie beginnen. Professor Morgenstern sollte merken, dass er in ihr eine zuverlässige Arbeitskraft gefunden hatte, die ihren Job ohne Fehler und mit großem Engagement ausfüllte.
...
Das Telefon klingelte. Das war bereits der zehnte Anruf an diesem Tag. Die Polizeibeamtin Petra Ludwig war erstaunt darüber, wie viele Männer ihre Lust bei einer Prostituierten befriedigten. Noch nie hatte das Telefon einer Toten so oft geklingelt wie dieses hier. Sophia Koslow konnte sich vor Anfragen kaum retten. Gewissenhaft überprüfte Petra ihren Bildschirm. Die Sprachaufnahme lief, es konnte losgehen. Sie schnippte kurz mit den Fingern und bedeutete ihrem Kollegen, er solle Kommissar Oliver Bergmann aus dem Nachbarbüro herüberholen. Er hatte ausdrücklich darum gebeten, über jedes Telefonat informiert zu werden. Jeder Freier wurde akribisch von der Polizei verhört in der Hoffnung, schnellstmöglich auf eine brauchbare Spur zu stoßen. Petra Ludwig wartete noch zwei Klingeltöne ab und nahm das Gespräch genau in der Sekunde entgegen, in der Oliver Bergmann das Zimmer betrat.
»Guten Tag«, hauchte Petra in das Telefon. »Was kann ich für dich tun?«
»Sophia? Bist du das? Hier ist Klaus.«
Olivers Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Er hatte die Stimme seines Partners sofort erkannt.
»Ich bin wieder in der Stadt und muss dich sehen, Süße.« Petra blickte angestrengt auf die Ortungssoftware ihres Computers. Noch drei Sekunden und sie wusste, von wem und woher der Anruf stammte. Sie schindete Zeit, indem sie ein verführerisches »Ja« ins Telefon hauchte. Dann blinkte die Anzeige grün auf. Sie hatten ihn.
»Hier spricht Petra Ludwig, Kriminalkommissariat Neuss. Bitte nennen Sie mir Ihren kompletten Namen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Dann folgte ein kurzes Klicken und die Leitung war tot. Oliver konnte sich nicht rühren. Er war regelrecht zu Stein erstarrt. Wie in Zeitlupe sah er, wie sich die Lippen von Petra Ludwig langsam öffneten und wieder schlossen, während sie den Vor- und Nachnamen seines Partners laut und deutlich vom Computerbildschirm ablas. »Klaus Gruber« - wie ein Echo hallte der Name in seinem Kopf, während er krampfhaft überlegte, was er jetzt tun sollte. Er öffnete den Mund, um eine lapidare Bemerkung zu machen, als sein Handy schrill klingelte. Oliver zuckte zusammen. Zügig zog er das Telefon aus der Tasche und sah Klaus‘ Namen im Display.
»Einen Augenblick bitte, ich bin gleich zurück.«
Olivers Stimme klang brüchig. Er machte eine entschuldigende Geste und ließ seine verwunderten Kollegen ohne weiteren Kommentar stehen. Schnurstracks rannte er in sein Büro und hob ab.
»Klaus, du Wahnsinniger! Was hast du getan?«
»Verdammt noch mal, sage du mir lieber, was um Himmels willen mit Sophia passiert ist. Wieso habe ich die dumme Kuh von Ludwig am Telefon?« Seine Stimme zitterte. Er ahnte, dass etwas Schlimmes geschehen war.
»Sie ist tot, Klaus.« Oliver fand langsam seine Contenance wieder.
»Wie?«, Klaus schluchzte am Telefon.
»Ermordet, vermutlich von einem durchgeknallten Freier.«
»Hat sie gelitten?« Seine Stimme bebte.
»Verdammt, Klaus. Warum willst du das hören?« Oliver überschlug sich fast. »Reicht es nicht aus, dass du mit der Toten in Verbindung gebracht wirst? Sie war eine Prostituierte, zum Teufel noch mal!«
»Sie war anders. Ich habe sie geliebt.« Klaus‘ Stimme klang leise und traurig.
»Was soll das heißen, du hast sie geliebt? Du warst gerade zwei Wochen lang mit Sonja im Urlaub? Wieso tust du ihr das an?«
»Das verstehst du nicht, Oliver. Hör zu, können wir uns treffen? Ich komme zu deiner Wohnung, da können wir ungestört reden«
»Meinetwegen, ich mache mich sofort auf den Weg. Ich hoffe, du hast bis dahin eine gute Erklärung für dein Verhalten parat.« Oliver legte auf. In spätestens einer halben Stunde würde er wissen, was Klaus mit dieser Sophia zu tun hatte. Kaum dass er im Auto saß, presste Oliver die Hände an seine pochenden Schläfen. Die Kopfschmerzen waren wieder stärker geworden. Verflucht, er würde wohl eine weitere Aspirin einwerfen müssen.
...
Fasziniert betrachtete Kevin die schlanken Handgelenke der Leiche. Er liebte den Anatomiekurs. Während seine Studienkollegen bleich auf den toten Körper starrten und mit Erschütterung beobachteten, wie der Professor die einzelnen Muskelstränge der Hand und des Unterarmes offenlegte, war Kevin aufgeregt wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag. Gleich würde der Professor einen von ihnen auffordern, seine Arbeit fortzuführen. Kevin wollte unbedingt dieser Freiwillige sein. Nervös richtete er sich auf und versuchte sich in die Blicklinie des Professors zu bringen.
Endlich hob dieser den Kopf und blickte prüfend in die Runde der blassen Studenten.
»Nun, meine Damen und Herren, Sie werden sich an den Anblick und den Geruch des Todes gewöhnen müssen. Der Tod gehört zum Leben. Er ist genauso unverzichtbar wie die Mutter für ein Kind oder Gott für einen Gläubigen.«
Er machte eine längere Pause und begutachtete jeden einzelnen seiner Studenten. Die Hälfte von ihnen wird es nicht schaffen, dachte er, während sein Blick über die verschreckten Gesichter wanderte.
»Der Tod ermöglicht uns die Studie am menschlichen Körper. Nur wenn wir den Aufbau unseres Organismus im Detail verstehen, können wir ihn heilen. Gäbe es keinen Tod, hätten wir nie die Gelegenheit zur Forschung. Vielleicht hilft Ihnen das, diesem Anblick hier etwas Positives abzugewinnen.« Erneut schaute er in die Runde. Sein Blick blieb an Kevin hängen. Dieser Junge machte einen unerschrockenen Eindruck. Er schien äußerst wissbegierig zu sein. Die Leiche und ihr Geruch schienen ihm nichts auszumachen, zumindest wirkte er nur halb so blass wie die anderen. »Sie da vorne«, er deutete mit dem Finger auf Kevin, »wie ist Ihr Name?«
»Kevin«, antwortete dieser mit rauer Stimme.
»Nehmen Sie das Skalpell und führen Sie fort. Ich möchte, dass Sie hier direkt unter der Schulter ansetzen und die Haut sowie das subkutane Fettgewebe entfernen. Dann können wir uns die Muskelfunktionen des Unterarmes und Handgelenkes genauer ansehen.« Er reichte Kevin das Skalpell. Dieser nahm es ehrfurchtsvoll entgegen. Sein Herz pochte bis zum Hals, seine Kehle fühlte sich plötzlich rau und ausgetrocknet an.
Geschickt setzte Kevin die scharfe Schneide auf der Haut an. Die Totenstarre war bereits vorüber und er konnte ohne Probleme einen langen, geraden Schnitt ausführen. Anschließend klappte er die Haut auseinander und zog sie jeweils zur Seite ab. Innerhalb weniger Sekunden hatte er den kompletten Unterarm freigelegt und schnitt routiniert durch die ihm bekannten Strukturen.
Der Professor nickte anerkennend. »Haben Sie so etwas schon einmal gemacht? Das ist hervorragende Arbeit, die Sie hier zeigen.«
Kevin zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Ich habe so etwas noch nie gemacht.« Unmerklich überzog eine zartrosa Farbe sein Gesicht, doch der Professor schien es nicht zu bemerken und fuhr ohne Unterbrechung in seinen Erläuterungen über die Unterarmmuskulatur fort.