XXIV.
Vor fünfhundert Jahren
Bastian fiel die Wahrheit wie Schuppen von den Augen! Er hatte endlich das fehlende Puzzleteil gefunden. Nachdem er die Anfangsbuchstaben der Wehrtürme auf die Ecken der Stadtmauer auf den Stadtplan von Zons geschrieben hatte, ergab alles einen Sinn!
»1-6-K«
Dies waren die Zeichen, welche Elisabeth Kreuzer in die Kopfhaut geritzt wurden. Die »6« stand für die kürzeste Stadtmauer und das »K« stand nicht für ihren Nachnamen, sondern für den Krötschenturm. Die »1« stand für das erste Haus neben dem Krötschenturm.
Warum hatte Bastian das nicht gleich durchschaut? Er sah sich die nächste Ziffernfolge an »1-7-M«. Auch hier stand das »M« nicht für den Nachnamen der Toten, Gertrud Minkenberg, sondern für den Mühlenturm, welcher sich an der Ecke der zweitlängsten Mauer von Zons befand. Die Ziffern »1-8-Z« bedeuteten, dass das Opfer an der drittlängsten Mauer im nächsten Haus zum Zollturm wohnen musste. Das Haus, in dem Marie lebte!
Während Bastian alle Mädchen mit dem Nachnamen »Z« aus Zons in Sicherheit gebracht hatte, hatte es der Mörder gar nicht auf den Namen, sondern den Wohnort abgesehen. Verdammt! Warum war er nur nicht eher darauf gekommen? Er hätte Marie retten können.
Verzweifelt stand Bastian auf und lief aus dem Haus. Ohne nachzudenken, rannte er durch den eiskalten Februar und blieb völlig außer Atem vor dem Zollturm stehen. Er grüßte die Stadtwache und lief durch das Stadttor hindurch auf die andere Seite des Zollturms. Dort blickte er am Turm entlang hinauf in den Himmel.
»Verdammter Dietrich Hellenbroich! Was hast du mit ihr angestellt?«
Plötzlich sah Bastian, dass sich etwas Schwarzes von den Mauern des Turms abhob. Je nachdem, wie er seinen Blickwinkel änderte, konnte er es sehen oder auch wieder nicht. Bastian ging näher an die Mauer heran und erkannte so etwas wie Kletterhaken, welche in die Fugen der Mauer gerammt waren. »Meine Güte! Deshalb habe ich ihn nicht gesehen, als er mich in der einen Nacht auf dem Zollturm überrascht hat! Er ist von außen am Turm aufgestiegen.«
Bastian griff nach einem der Haken und zog ihn mit einiger Mühe aus der Mauerfuge heraus. Er hielt ihn hoch gegen das Licht. Dieser Haken war aus Eisen. Wie kam Dietrich Hellenbroich als einfacher Bauer an solch ein edles Material? Bastian hatte plötzlich eine Idee. Er erinnerte sich an die Kettenverankerung im alten Verlies unter dem Zollturm. Dort steckten viele von diesen Haken in den Mauerfugen, um die Gefangenen festbinden zu können. Es gab nur einen großen Raum dort unten und man wollte verhindern, dass das Gesindel aufeinander losging. Also legte man sie in Ketten und verhinderte so, dass sie sich gegenseitig erschlagen konnten.
Bastian lief ein paar Meter weiter um den Zollturm herum. Soweit er sich erinnern konnte, hatte man damals alle Eingänge zum alten Verlies fest verschlossen. Doch als Bastian vor dem Eingang stand, konnte er sehen, dass er nicht mehr verschlossen war. Die schwere Holztür stand einen winzigen Spalt breit offen.
Bastian stieß sie auf und ging leise auf Zehenspitzen hinein. Kein Laut war zu hören. Es war stockdunkel und er konnte sich nur vorsichtig an der Wand entlang tasten. Sein Fuß stieß an ein Gefäß und dieses fiel mit einem klappernden Geräusch auf die Seite. Erschrocken duckte Bastian sich. Wenn Dietrich Hellenbroich hier unten war, konnte er dieses Geräusch nicht überhört haben. Bastian war auf alles gefasst!
Ein leises Stöhnen kam vom anderen Ende der Wand. »Was war das?«
Bastian schlich leise weiter und versuchte möglichst nicht zu atmen. Aus der Ecke drang ein kaum hörbares Stöhnen zu ihm vor. Bastian konnte sie ganz plötzlich riechen. Es war Marie! Ihr feiner Duft drang in seine Nase und sein Herz machte einen Satz. Vorsichtig fasste er sie an. Marie reagierte panisch und wehrte sich mit aller Kraft.
»Marie, ich bin es, Bastian! Habt keine Angst!«
Doch Marie reagierte nicht auf seine Worte und wehrte sich weiter. Endlich bekam Bastian ihren Knebel zu fassen und zog ihn mit einem Ruck aus ihrem Hals. Ein langer gequälter Schrei ertönte und hallte von den Mauern des Verlieses wider.
Marie fiel in eine tiefe Ohnmacht. Hektisch entfernte Bastian die Ketten von Maries Handgelenken und trug sie hinaus ins Freie. Er fühlte ihren Puls. Er schlug schwach, aber er schlug! Er blickte in den Himmel hinauf und dankte dem lieben Gott! Er hatte sie gefunden! Gott sei Dank! Er hatte Marie lebend gefunden!