XVI.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian lauschte dem leisen Klacken. Er lehnte sich gemütlich zurück und nahm einen Schluck Rotwein. Pfarrer Johannes machte sich an dem Mechanismus, der in der Kirchenwand der kleinen Nebenkammer versteckt lag, zu schaffen. Noch ein Klick und Bastian wusste, dass Johannes das Geheimfach geöffnet hatte. Der Pfarrer murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Bastian registrierte die Laute nur halbherzig. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Vor zwei Nächten hatte er mit Wernhart die gesamte Umgebung des Hauses der Gebrüder Schimmelpfennig abgesucht. Bernhard war wie vom Erdboden verschluckt und bisher nicht mehr aufgetaucht. Niemand hatte ihn gesehen und keine Menschenseele vermisste ihn.

Die Blutspuren, die sie überall auf dem Boden seiner Hütte gefunden hatten, verloren sich innerhalb weniger Meter. Da Schimmelpfennig an einer belebten Straße in Stürzelberg wohnte, gab es etliche Fußspuren vor dem Haus, die jegliche Suche aussichtslos machten. Bastian brauchte irgendeinen Impuls, der es ihm ermöglichte, die Fährte wieder aufzunehmen. Zuerst wollte er mit Hugo von Spanheim sprechen, verwarf den Gedanken jedoch. Von Spanheim war am Morgen nach Schimmelpfennigs Verschwinden in der St. Martinus Kirche erschienen und hatte, als wenn nichts gewesen wäre, Pfarrer Johannes bei seinen heiligen Pflichten unterstützt. Bastian war sich sicher, dass Hugo von Spanheim ihm niemals freiwillig sein Geheimnis preisgeben würde. Dafür müsste er ihn schon in eine Falle locken. Außerdem hatte er keinen Beweis dafür, dass der Fremde in der schwarzen Kutte wirklich von Spanheim gewesen war. Nachdem Bastian diese Möglichkeit verworfen hatte, wartete er auf ein Lebenszeichen von August. Er hatte fest damit gerechnet, dass dieser ihm erneut auflauern würde. Doch er irrte sich. Weder in der ersten noch in der zweiten Nacht war August aufgetaucht. Bastian besaß zwar etliche Beweisstücke, von dem blauen Tuch angefangen bis hin zu den Glasflaschen aus den geheimen Rohren an der Südseite der Stadtmauer, aber der Kreis der lebenden Personen, die in die beiden Morde verwickelt sein könnten, schrumpfte immer mehr zusammen.

Wie so oft, wenn Bastian nicht mehr weiterwusste, hatte er sich zu Pfarrer Johannes gesellt. Ein gutes Glas Rotwein und die klugen Gedanken seines Ziehvaters würden Bastian vielleicht den richtigen Anstoß geben. Der Pfarrer war seit jeher sein Lehrer und Ratgeber gewesen und gemeinsam hatten sie schon etliche Rätsel gelöst.

»Hier haben wir es.«

Bastian schreckte aus seinen Gedanken hoch. Johannes hatte die alten Karten aus dem Geheimfach in der Wand bugsiert und breitete das Pergament auf dem Tisch aus. Mit dicken Kerzenstümpfen beschwerte er die Ecken des welligen Papiers, damit es sich nicht wieder zusammenrollen konnte. Er fuhr mit dem Finger über die Linien und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Martha ist hier tot im Burggraben aufgefunden worden.« Johannes markierte die Stelle mit einer Silbermünze.

»Mein Geburtstagsfest hat an dieser Stelle stattgefunden und Marthas Haus befindet sich genau hier, in der Wendelstraße kurz hinter dem Feldtor.« Er versah die Stellen ebenfalls mit je einer Silbermünze.

Bastian lehnte sich über die Karte. »Sie ist also nicht direkt nach Hause gelaufen, sondern weiter bis zur Südmauer gegangen.« Seine Finger vollzogen den möglichen Weg Marthas auf dem Pergament nach.

»Ich denke, Martha hat dasselbe beobachtet, was auch Wernhart bei seiner Verfolgung des Fremden in der schwarzen Kutte gesehen hat. Ihr Mörder hat sich an den geheimen Rohren in der Südmauer zu schaffen gemacht.«

Pfarrer Johannes nickte. »Die Frage ist nur, hat er die Flaschen hineingelegt oder herausgeholt?«

Bastian nippte an seinem Rotwein. »Josef Hesemann hat die Scherben, die ich bei dem Betrunkenen gefunden habe und auch die leeren Flaschen, die Wernhart von seiner Verfolgung zurückgebracht hat, untersucht. Sie wiesen alle Spuren des Elixiers auf.« Er machte eine Pause und dachte nach.

»Georg Schimmelpfennig trug eine leere Ledertasche bei sich. Er muss also die Flaschen in der Wand verstaut haben.«

»Und der Fremde war außer sich, weil die Flaschen leer waren, als er sie aus dem Versteck holte. Jemand muss sie umgefüllt haben«, folgerte Johannes.

»Ja, und ich glaube, dieser jemand ist der Bruder von Georg. Es muss Bernhard Schimmelpfennig gewesen sein. Vielleicht wollte er sich etwas dazuverdienen.«

Johannes nickte. »Der Kuttenträger hat vermutlich genau dasselbe gedacht. Er wollte sein Elixier zurück und hat Bernhard Schimmelpfennig in seinem Haus überfallen. Das erklärt die Blutflecken und sein Verschwinden.«

»Glaubt Ihr, er hat Bernhard gezwungen, ihm das Elixier auszuhändigen?«

Der Pfarrer nickte. »Und ich glaube zudem, dass Schimmelpfennig das Laudanum nicht in seinem Haus versteckt hatte, sonst hättet Ihr ihn dort aufgefunden. Tot oder lebendig«, fügte er hinzu.

Bastian grübelte. Nach einer Weile sagte er: »Georg Schimmelpfennig trug Marthas Ring bei sich. Bis zu dem Augenblick, in dem Wernhart mit diesem blauen Tuch auftauchte, war ich sicher, dass er es war, der Martha im Burggraben ertränkt hat.« Bastian zerrte das Tuch aus seinem Wams und reichte es Pfarrer Johannes.

»Martha hatte einen blauen Stofffetzen in ihrer Faust, als wir sie gefunden haben. Es ist derselbe Stoff«, fügte er erklärend hinzu.

»Hm, ich denke, Georg Schimmelpfennig hat Martha ermordet, weil sie ihn beobachtet und die geheimen Rohre in der Südmauer entdeckt hat. Er konnte sich keine Zeugen leisten.« Johannes deutete auf das Tuch.

»Dieses Tuch ist unversehrt. Der Stofffetzen in Marthas Hand muss demzufolge von einem anderen Tuch stammen. Es mag derselbe Stoff sein, aber es gibt offensichtlich mehrere solcher Tücher.«

Bastian nickte versonnen. Pfarrer Johannes untersuchte das Tuch und hielt es dicht vor sein Gesicht.

»Es riecht merkwürdig. Nach alter, verfaulter Luft.« Er nahm erneut einen tiefen Atemzug. »Oder noch nach etwas anderem.« Johannes überlegte angestrengt.

»Es erinnert mich an Schimmel«, stellte er dann fest. Er stand auf und holte ein dickes Lederbuch aus dem Schrank. Es wirkte verstaubt. So als wäre es jahrelang nicht geöffnet worden.

»Lasst mich einmal sehen. Dies hier sind die Schriften eines bekannten Heilkundigen. Eigentlich Ketzerwissen.« Pfarrer Johannes hob bedeutungsvoll die Brauen. Dann öffnete er die Seiten und suchte nach dem Wort Schimmel. Das Buch erklärte die Wirkungsweisen von Pflanzen und beschrieb die Zusammensetzung von Salben, Tinkturen und Heiltränken. Nach einer Weile hielt sein Finger inne.

»Hier haben wir es. Schimmel kann Rauschzustände auslösen, ist jedoch schädlich für die Lungen.«

Bastian dachte über die Worte des Pfarrers nach. Dann kam ihm eine Idee.

»Dann könnte das blaue Tuch als Schutz vor den Ausdünstungen des Schimmels gedient haben?«

Johannes nickte. »Richtig, das könnte so sein. Ich frage mich vielmehr, an welchem Ort dieser Schimmelpilz am besten gedeihen kann.« Er rieb sich angestrengt die Stirn. »Hm ... Es müsste ein dunkler, feuchter Ort sein. Die Luft muss stillstehen und darf nicht von Winden gestört werden.«

Bastian sah den Pfarrer entgeistert an. Es gab nur einen Ort in Zons, der die Bedingungen erfüllte, die Johannes gerade aufgezählt hatte.

Das unterirdische Labyrinth.

 

 

...

 

 

Bernhards Atem rasselte. Die Ursache lag weniger in der tatsächlichen Bedrohung, sondern vielmehr in den Worten Hugo von Spanheims, die sich tief in die Windungen seines Gehirns eingebrannt hatten. Er hatte bereits jedes Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange er die giftige Luft schon eingeatmet hatte. Er konnte sich nur allzu deutlich an von Spanheims Worte erinnern. Drei oder vier Stunden genügten, um ihn dem Tode zu weihen. Anfangs hatte er versucht, flach zu atmen. Er wollte möglichst wenig von der tödlichen Luft in seine Lungen pumpen. Doch er war im Stehen an Armen und Beinen gefesselt und die Anstrengung forderte ihren Tribut, genauso wie die Todesangst, die sein Herz schneller schlagen ließ. Seine Lungen verlangten nach Sauerstoff. Nach einer Weile war das Verlangen stärker als alles andere geworden und Bernhard hatte begonnen, tief in die Lungen zu atmen. Zunächst konnte er nichts Gefährliches feststellen, doch sein Kopf malte sich die schlimmsten Folgen aus. Er hatte Lungenkranke gesehen, die wochenlang Blut husteten und die zum Schluss blau im Gesicht waren. Als sie starben, wurden ihre Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt und das Weiß der Augäpfel ragte weit aus ihren Augenhöhlen heraus. Bernhard ahnte, was auf ihn zukam und allein die Vorstellung löste eine solche Angst in ihm aus, dass ihm mit der Zeit das Einatmen immer schwerer fiel. Sein Atem rasselte wie die Ketten an seinen Gliedmaßen, sobald er versuchte, sich zu bewegen.

Die Eisenringe schnürten tief in seine Gelenke ein. Jeder Versuch, sich zu befreien, schlug fehl. Hugo von Spanheim hatte ganze Arbeit geleistet. Die Fesseln gaben nicht einen Zentimeter nach. Bernhard betrachtete die Folterinstrumente, die Hugo ihm vor die Füße geworfen hatte. Eine gusseiserne Zange mit scharfen Zähnen lag dort und eine Maske, an deren Innenseite spitze Nägel herausragten. Jedes einzelne Werkzeug konnte einem Menschen unendliche Schmerzen zufügen, ohne ihn sofort zu töten. Bernhard Schimmelpfennig saß in der Falle. Wenn er seinem Peiniger den Ort verriet, an dem er das Elixier im Wald vergraben hatte, würde er ebenso sterben, wie wenn er schwieg. Die einzige Wahl, die ihm blieb, war die Art des Todes und die damit verbundenen Qualen, die ihm zuteilwerden würden. Wenn er Hugo von Spanheim in sein Geheimnis einweihte, blieb ihm die Folter mit hoher Gewissheit erspart. Nur dann würde er auch wertvolle Zeit verlieren. Zeit, in der ihm vielleicht doch noch jemand zu Hilfe eilen könnte. Bernhard sah sich um. Er kannte diesen Ort nicht. Wenn er Hugo Glauben schenkte, würde ihn hier sowieso niemand finden.

Fußtritte hallten durch das dunkle Gewölbe und Bernhards Herz krampfte sich ängstlich zusammen. Er musste eine Entscheidung fällen, ehe es zu spät war.

 

 

...

 

 

Der Mann, der auf ihn zukam, war nicht Hugo von Spanheim. Die Erkenntnis traf Bernhard Schimmelpfennig wie ein Schlag ins Gesicht. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, in dem die Kapuze den Blick auf smaragdgrüne Augen freigegeben hatte. Der Fremde war unmittelbar vor Bernhard stehengeblieben. Im ersten Moment hatte er gehofft, der Mann würde ihn erlösen. Doch der Unbekannte stand einfach nur da und betrachtete ihn im Licht der Fackel, die Hugo von Spanheim angezündet hatte, damit Bernhard einen Blick auf die Folterinstrumente werfen konnte.

»Wer seid Ihr?«, krächzte er heiser.

Keine Antwort.

»Bitte helft mir«, platzte es jetzt aus Bernhard heraus. Seine Stimme hatte einen erschöpften, bettelnden Unterton angenommen.

Der Fremde rührte sich nicht.

»Verdammt, was wollt Ihr von mir? Warum helft Ihr mir nicht?«

Immer noch Schweigen.

Bernhard Schimmelpfennig schluchzte. Die Angst hatte sich in seinen Eingeweiden festgebissen und er war viel zu erschöpft, um nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können.

Der Fremde reagierte nicht auf sein Flehen. Stumm schritt er das verwinkelte Gewölbe ab und starrte auf die Felswand, an welcher der schwarze Schimmelpilz emporwuchs. Immer noch schweigend wandte er sich zum Gehen.

»Bitte, so gebt mir doch wenigstens etwas Wasser.« Bernhards Stimme hatte sich zu einem Winseln verzerrt.

Der Mann blieb stehen. Plötzlich wirbelte er herum, und ehe Bernhard sich versah, hatte er die Öffnung eines Lederschlauchs an den Lippen, aus dem kühler Wein in seinen Mund floss. Gierig schluckte er die Flüssigkeit hinunter.

»Tragt Ihr die Schuld am Tod von Martha Hatzfeld?« Die Stimme des Unbekannten hallte an den Gewölbewänden wider.

Bernhard Schimmelpfennig hielt mit dem Trinken inne und starrte in das namenlose Gesicht, das aufgrund der Kapuze im Dunkeln lag und nicht erkennbar war. Die Frage überraschte ihn. War dieser Mann etwa nicht hinter dem kostbaren Elixier her? Verwirrt schüttelte er den Kopf.

»Nein ...« Seine Antwort klang zögerlich. Der Fremde riss den Weinschlauch von seinen Lippen und baute sich bedrohlich vor ihm auf.

»Es war mein Bruder. Sie hat ihn beobachtet, wie er das Elixier in der Stadtmauer versteckte.«

»Und Ihr habt Martha nicht geholfen?« Die Stimme zischte so scharf, dass sie Bernhard fast den Atem abschnürte.

»Ich ...« er stotterte. »Ich bin davongelaufen.«

Schweigen. Die Worte hingen schwer wie Blei in der Luft. Der Fremde rührte sich nicht.

»Bitte helft mir hier heraus«, flehte Bernhard nach einer Weile erneut.

»Ihr verdient meine Hilfe nicht«, erwiderte der Unbekannte. Mit hallenden Schritten entfernte er sich von Bernhard und überließ ihn seinem Schicksal.

 

 

...

 

 

»Hier muss es sein.« Bastian zerrte an dem schweren Tor, das jedoch kein Stückchen nachgab. Er hatte den Zugang vor einigen Monaten versiegelt. Es gab nur wenige Menschen, die von dem geheimen Labyrinth unter Zons wussten, das der Erzbischof von Saarwerden bei der Errichtung der Stadt hatte anlegen lassen. Die Keller der Häuser waren allesamt miteinander verbunden. Wer sich nicht auskannte, konnte sich leicht in diesem Irrgarten verlaufen. Doch das Labyrinth lag noch eine ganze Ebene tiefer. Bastian kannte nur diesen einen Zugang, der sich an der Außenseite der Südmauer befand. Der Eingang schien nach wie vor fest versiegelt zu sein.

Bastian hatte Wernhart mitnehmen wollen, doch Pfarrer Johannes hatte ihm davon abgeraten. Je mehr Mitwisser in dieses Geheimnis eingeweiht waren, desto schwieriger war es, dieses auch zu wahren. Deshalb war Bastian alleine losgegangen. Wenn sich Hugo von Spanheim oder irgendjemand anders im Labyrinth zu schaffen machte, würde Bastian ihn auftreiben. Abermals zog er kräftig an der Pforte. Sie gab knarrend nach. Ein muffiger Geruch schlug Bastian entgegen. Er trat in den düsteren Gang ein und zündete seine Fackel an. Dann schloss er das Tor, ging in die Hocke und leuchtete den Boden ab. Der Untergrund war steinig, selbst wenn sich jemand Zutritt verschafft hatte, würde er keine Fußabtritte hinterlassen. Wer den Zugang kannte, der konnte ihn mit einiger Mühe selbst öffnen. Bastian musste vorsichtig sein. Er blieb in der Hocke und lauschte.

Das Labyrinth hatte sein eigenes Innenleben. Ein Lufthauch säuselte um Bastians Kopf und aus der Ferne nahm er den Schrei einer Fledermaus wahr. Das Feuer seiner Fackel tanzte wild auf den Gewölbewänden. Es war ein gespenstischer Anblick von Licht und Schatten. Lange schwarze Finger schossen auf Bastian zu. Ein Gewirr aus scharfen Krallen drohte ihn zu erwürgen, doch im letzten Moment jagten grellrote Lichtstrahlen quer durch das Schwarz und lösten die bedrohlichen Bilder kurz vor Bastians Gesicht auf. Er hielt den Atem an. Dann richtete er sich auf und zog mit klopfendem Herzen sein Kurzschwert. Er kannte dieses Labyrinth. Sein ältester Bruder Heinrich war in einem der düsteren Gewölbe ums Leben gekommen. Trauer überfiel Bastian bei der Erinnerung. Sie schnürte ihm die Kehle zu und er musste schlucken. Schnell schüttelte er die Gedanken ab und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Pfarrer Johannes hatte ihm drei Punkte auf der Karte markiert, an der die Luft im Labyrinth stillstand. Die vielen Gänge verliefen nicht nur kreuz und quer, sondern variierten auch in der Höhe. Dies war der Grund, warum die Luft in den meisten Teilen des Gewölbes nicht stillstand und ständig wie ein unruhiger Geist von einem Gang zum nächsten eilte. Schimmelpilze konnten jedoch nur in stehender Luft gedeihen. Bastian rief sich den ersten Punkt ins Gedächtnis. Dieser befand sich in der Nähe des Juddeturms. Er musste sich fünfzig Schritte in nördlicher Richtung bewegen und dann nach links abbiegen. Er befestigte ein dünnes Band an einem der Steine und rollte es ab. Für den Fall, dass er hier unten die Orientierung verlieren sollte, waren die Markierungen seine Rettung. Er bewegte sich lautlos durch die Gänge. An einigen Stellen musste er den Kopf einziehen. Seine Fackel warf den Lichtschein weit voraus und Bastian kam zügig vorwärts. Als er sich dem ersten Punkt näherte, verlangsamte er seine Schritte und lauschte angestrengt.

Nichts. Bastian schlich näher heran. Noch immer konnte er keine außergewöhnlichen Geräusche hören. Mit dem Fuß rutschte er plötzlich auf einem Kieselstein aus und genau in diesem Augenblick hörte er es. In Windeseile löschte er die Fackel und verharrte im Dunkeln. Da war es wieder. Ein Geräusch fast wie ein Klirren. Es erinnerte ihn an das Rasseln von Kerkerketten. Bastians Herz donnerte in der Brust. Vorsichtig schlich er näher heran. Als er sich auf den nächsten Quergang zubewegte, konnte er Lichtstrahlen erkennen. Pfarrer Johannes hatte recht behalten. Jemand war hier unten im Labyrinth. Bastians Körper vibrierte. Endlich hatte er eine Spur entdeckt. Das Kurzschwert fest in der Hand ging er immer weiter in den Feuerschein hinein. Wieder hörte er das Kettenrasseln, und da war noch etwas anderes. Es war ein Schnaufen oder vielmehr ein Röcheln.

Er duckte sich hinter einem Felsbrocken und spähte in das Gewölbe hinein. Es war genau die Stelle, die Johannes als erste Möglichkeit markiert hatte. Sein Blickwinkel war ungünstig. Er konnte nicht bis zur gegenüberliegenden Wand sehen. Alles was Bastian erkannte, war eine Fackel, deren spärliches Licht einen Teil des Raumes erleuchtete und ein paar Gegenstände, die auf dem Boden verstreut lagen. Er blinzelte und versuchte, die Objekte zu identifizieren. Sein Atem stockte, als ihm klar wurde, dass es sich um Folterinstrumente handelte. Erneut vernahm er ein Röcheln. Bastian blickte kurz hinter sich. Er wollte sichergehen, dass er nicht rücklings angegriffen wurde. Dann schlich er sich dichter an einen Mauervorsprung heran, hinter dem sich ein größerer Raum befand. So dicht, dass er schließlich um die Ecke schauen konnte. Der Anblick, der sich ihm jetzt bot, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Instinktiv bekreuzigte er sich.

Dort an der Wand hing Bernhard Schimmelpfennig. Er war mit Armen und Beinen stehend an der Wand gefesselt und sein Körper blutete aus mehreren Wunden. Die Augen waren verquollen, die Lippen blutig geschlagen. Er röchelte leise. Sein Körper war so geschwächt, dass ihm das Atmen schwerfiel. Bastian sah einen sterbenden Mann vor sich. Er musste sich beeilen. Mit zwei Schritten war er bei Bernhard angelangt. Dieser öffnete kurz die Augen, doch sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Er registrierte Bastian kaum.

»Bernhard, wer hat Euch das angetan?«, fragte Bastian.

Keine Antwort. Nur ein gurgelndes Röcheln stieg aus Bernhards Kehle auf.

Bastian führte einen Wasserschlauch an Bernhards Lippen und benetzte sie.

»Bernhard, sagt mir, wer das getan hat«, wiederholte Bastian eindringlich.

Bernhards entrückter Blick verschwand für einen kurzen Moment. Er sah Bastian an und ein Funke des Erkennens huschte über sein Gesicht. Er riss die Augen auf und versuchte die Hände zu bewegen. Die Ketten hinderten ihn daran. Dann öffnete er die Lippen und versuchte ein Wort zu formen.

»Wald«, flüsterte er.

»Was? Habt ihr Wald gesagt?« Bastian hielt sein Ohr an die Lippen des Sterbenden.

Dieser nickte und röchelte erneut: »Wald ... unter der ältesten Eiche ...«

Bastian war nicht sicher, ob er Bernhard richtig verstanden hatte. Hastig wiederholte er seine Worte: »Im Wald unter der ältesten Eiche? Meint Ihr den Wald zwischen Zons und Stürzelberg?«

Keine Antwort. Nicht einmal mehr ein Röcheln.

»Bernhard, meint Ihr den Stürzelberger Wald?« Bastian schüttelte Bernhard, doch sein Körper hatte jegliche Spannung verloren. Die Augen waren nach oben verdreht und seine Lippen erschlafft. Bernhard atmete nicht mehr.

»Bernhard! Antwortet mir!« Bastian rüttelte ihn erneut. Doch es war zwecklos. Bernhard Schimmelpfennig war tot.

 

 

...

 

 

Eine Stunde zuvor

 

Alles würde gut werden! Hugo von Spanheim atmete tief durch. Das Blatt hatte sich fast gewendet. Sein neuer Bote war zuverlässig am vereinbarten Treffpunkt erschienen und seine Auftraggeber würden bald zufriedengestellt sein. Pfarrer Johannes hatte ihn in der St. Martinus Kirche empfangen wie eh und je. Hugo war sich sicher, dass er keinen Argwohn hegte. Allein Bastian Mühlenberg hatte ihn kritisch beäugt, jedoch keine weiteren Fragen gestellt. Nur noch eine einzige Aufgabe lag vor Hugo, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Er lächelte grimmig. Er musste diesen Taugenichts von Bernhard Schimmelpfennig zum Reden bringen. Er wollte sein Elixier zurückhaben und er war sich sicher, dass Schimmelpfennig es irgendwo versteckt hielt.

Unbemerkt ging er von der St. Martinus Kirche, in deren Nebenhaus er logierte, in Richtung Juddeturm. Es hatte ihn Monate gekostet, den Eingang zum Labyrinth zu finden. Hugo besaß geheime Schriften des Erzbischofs von Saarwerden, die er während seiner Zeit im Kloster vom Abt gestohlen hatte. Eigentlich war es seine Aufgabe, Abschriften anzufertigen, aber das Wissen erschien ihm zu kostbar, um es mit anderen zu teilen. Er hatte mehrere Kellergewölbe und auch die Gruft der St. Martinus Kirche nach einem Zugang durchsucht. Erst, als er völlig verzweifelt war und schon fast aufgeben wollte, träumte er eines Nachts von der Lösung. In den Schriften des Erzbischofs war eine Stelle beschrieben, die in einem tiefen Kellergewölbe verborgen war. Er hatte den kodierten Text des Erzbischofs falsch interpretiert. Er vermutete den Zugang zum Labyrinth im nördlichen Teil von Zons, doch er lag im Süden. Ein unauffälliges Zeichen am Rand des Textes, das Hugo zunächst nicht aufgefallen war, stand für eine Umkehrung. Es bedeutete, dass alle beschriebenen Orte sich genau auf der jeweils anderen Seite befanden. Wenn der Text des Erzbischofs vom Norden sprach, so war eigentlich der Süden gemeint. Hugo hatte sich mit dem neu gewonnenen Wissen ein weiteres Mal auf die Suche gemacht und etliche Kellergewölbe im Süden von Zons inspiziert. Im Keller eines unscheinbaren Haus in der Nähe des Juddeturms stieß er auf eine uralte Falltür, die verborgen unter einem losen Haufen Steine lag und durch einen engen, nach unten abfallenden Tunnel ins geheime Labyrinth führte. Niemand, der nicht danach suchte, hätte diesen Zugang entdecken können.

Als Hugo sich dem Haus näherte, blickte er sich prüfend um. Es war kein Mensch zu sehen. Über den Innenhof gelangte er unauffällig in ein leerstehendes Nebengebäude, dessen Keller mit dem Hauptkeller verbunden war. Hugo erreichte unbehelligt sein Ziel und öffnete die schwere Falltür. Er kroch durch die niedrigen Gänge und kümmerte sich zunächst um die Ernte des schwarzen Schimmelpilzes. Er hatte ein blaues Schutztuch, von denen er eine ganze Kiste besaß, umgelegt und schabte vorsichtig den kostbaren Flaum von den feuchten Steinen. Der schwarze Schimmelpilz Aspergillus niger gedieh in diesen Gemäuern wirklich wunderbar. Der Flaum bedeckte die Wand fast lückenlos und fühlte sich fein und weich an. Bernhard stöhnte am anderen Ende des verwinkelten Gewölbes und flehte darum, verschont zu werden. Vielleicht würde Hugo das tun, andererseits hatte er jetzt einen neuen Boten und konnte keinen unnötigen Mitwisser gebrauchen. Er ging zu Bernhard und blickte ihn kalt an. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er nicht berauscht. Er würde jeden Schmerz miterleben, den Hugo ihm zufügte. Er beendete die Ernte, verschloss das Tongefäß mit dem wertvollen Schimmel und trat vor Bernhard. Mit einem spitzen Dolch schnitt er ihm die Kleider vom Leib und genoss die Angst, die er dem Taugenichts zufügte. Bernhards Augen waren schreckgeweitet und sein Körper spannte sich an, sobald Hugo mit der Klinge über die nackte Haut strich.

»Bitte, ich tue alles, was Ihr wollt«, flehte Bernhard Schimmelpfennig.

Hugo hielt inne und dachte nach. Dann griff er nach der Zange und schlug sie Bernhard ins Gesicht. Blut spritzte warm über Hugos Hände und er wiederholte den Schlag von der anderen Seite. Erst dann stellte er seine Frage.

»Wo ist mein Elixier?«

»Wenn ich es Euch verrate, lasst Ihr mich dann gehen?«

Ein gehässiges Lachen kam über Hugos Lippen. Er blickte Bernhard tief in die Augen und fuhr mit der Zange über die rauen Lippen seines Opfers.

»Gewiss doch, mein Freund«, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Bernhard blinzelte.

»Erlöst mich von den Fesseln und ich zeige Euch die Stelle.«

Der nächste Schlag traf Bernhard so hart, dass er für einen Moment das Bewusstsein verlor. Ein Eimer mit kaltem Wasser holte ihn zurück.

»Ihr befindet Euch nicht in der Position, Forderungen zu stellen! Oder wollt Ihr so enden wie Euer jämmerlicher Bruder?«

Bernhard schüttelte heftig den Kopf.

»Bitte, lasst mich leben. Ich sage Euch alles, was ich weiß.« Seine Stimme klang unterwürfig. Hugo war davon so erregt, dass er am liebsten erneut zugeschlagen hätte. So ein feiger Hund, dachte er. Nicht einmal Manns genug, ein kostbares Geheimnis zu wahren. Ein Geheimnis, welches sein Leben retten könnte, wenn er es nicht zu früh preisgab. Aber der Taugenichts war so dumm wie sein Bruder, vielleicht sogar noch dümmer.

Hugo hielt sich zurück und sagte freundlicher: »Ich höre.«

»Ich habe es vergraben. In einem Tongefäß am Fuße der ältesten Eiche.«

Hugo runzelte die Stirn. Er wusste nicht, welche Eiche dieser Dummkopf meinte.

»Wo genau soll das sein?«

»In dem Wald, der an der Weggabelung nach Stürzelberg beginnt. Die Stelle liegt ziemlich genau in der Mitte.«

Hugo reichte es. Er hatte genug von diesem Taugenichts. Er nahm seinen Dolch und rammte ihn mit aller Kraft in Bernhards Eingeweide. Dieser schrie aus Leibeskräften. Doch das spornte Hugo nur weiter an. Er zog die blutige Klinge heraus und stach erneut zu. Als Bernhard nur noch röchelte, ließ er von ihm ab. Dann ergriff er den Tontopf mit dem Schimmel und verließ hastig das Labyrinth. Er hatte nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf. Er wollte das Elixier finden.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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