Gegenwart
Ehrfürchtig betrachtete er die goldene Sichel, welche vor ihm in einer mit Edelsteinen verzierten uralten Truhe auf weichen Samttüchern lag. Vorsichtig fuhr er mit seinen Fingerspitzen über die immer noch sehr scharfe Klinge. Er fühlte sich erhaben, weil er dazu auserkoren worden war, auf dieses wertvolle Kunstwerk aufzupassen, welches mehrere Jahrhunderte unentdeckt überdauert hatte. Sie hatten ihn erwählt, weil er sich als würdig erwiesen hatte. Nur die Besten bekamen die Chance, ein Hüter zu werden.
Demütig nahm er die Sichel aus der Truhe. Die goldene Klinge reflektierte die Lichtstrahlen und verbreitete einen hellen Schimmer in dem kleinen, dunklen Raum, in dem er seine Schätze aufbewahrte. Die Waffe lag gut in seiner Hand. Mit ein paar geübten Bewegungen führte er die Sichel blitzschnell durch die Luft. Geschmeidig wie ein Tiger absolvierte er einige Sprünge und Drehungen, die goldene Sichel fauchte wie eine Katze, während ihre Klinge die Luft zerschnitt.
Er hielt inne. Sein Puls raste, und seine Lunge sog tief den Sauerstoff ein, den sein Körper brauchte, um die schnellen Bewegungen seiner Kampfkunst fehlerfrei ausführen zu können. Lange hatte er sich auf das, was nun zum Greifen nah vor ihm lag, vorbereitet. Doch noch war es nicht so weit. Er musste geduldig sein und den richtigen Zeitpunkt abwarten. Mit einem leisen Seufzer des Bedauerns legte er die goldene Sichel behutsam zurück auf die Samttücher in der Truhe. Sorgfältig versiegelte er das Schloss und stellte die Truhe zurück in den Safe, welcher sich hinter einem riesigen Gemälde verborgen in der Wand befand.
…
»Meine Herren, ich denke, Sie haben den Ernst der Lage nicht verstanden!« Hans Steuermark hatte Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Seine beiden Mitarbeiter der Kriminalkommission, eigentlich seine besten Ermittler, saßen mit versteinerten Mienen vor ihm und blicken starr auf den Boden. »Die Pressemeute wartet da draußen bereits auf mich und ich möchte von Ihnen wissen, was ich denen erklären soll! Es kann doch nicht so schwierig sein, die Leiche zu finden!«
Oliver stöhnte innerlich auf. Klar, es konnte eigentlich nicht so schwierig sein, eine Leiche zu finden. Insbesondere dann, wenn sie offensichtlich mit Salzsäure in Berührung gekommen war. Aber in diesem Fall hatten sie leider immer noch kein Ergebnis vorzuweisen. In den letzten zwei Wochen hatten sie alles Mögliche überprüft. Sogar die Bestellungen von Salzsäure bei allen deutschen Lieferanten hatten sie nachverfolgt, jedoch keinerlei Auffälligkeiten entdecken können. Auch die Analyse sämtlicher Vermisstenanzeigen hatte bisher nichts Konkretes ergeben. Sie wussten aus der Untersuchung der Knochen lediglich, dass es sich um eine männliche Person im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren handeln musste. Die vorliegenden Knochen waren robust und kräftig, deshalb schieden Frauen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus. Anhand der Zusammensetzung der Knochenstruktur hatte das Labor zudem feststellen können, dass es sich um einen Erwachsenen handeln musste. Die Knorpelschichten waren bereits degeneriert und wiesen erste Alterserscheinungen auf. Deshalb musste es sich bei dem ehemaligen Besitzer des Fußes um einen älteren erwachsenen Mann handeln.
Zurzeit standen fünf vermisste männliche Personen im Fokus der Untersuchungen. Nur auf sie trafen die Laborergebnisse zu. Das Umfeld der Vermissten wurde mit etlichen Befragungen intensiv erkundet, aber nichts wies bisher auf eine eindeutige Spur hin. Gut, einen wichtigen Hinweis hatten sie entdeckt, aber so aufgebracht, wie Steuermark heute war, hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, davon zu berichten.
Verärgert lief Hans Steuermark vor Oliver und Klaus hin und her. Oliver wunderte sich für einen Moment, dass er im Teppich noch keine Laufspuren entdecken konnte, denn Steuermark lief die ganze Zeit mit wütenden Schritten exakt denselben Weg auf und ab. Fünf Schritte nach rechts, Kehrtwende und fünf Schritte nach links.
Oliver betrachtete seinen Vorgesetzten, einen hageren, hochgewachsenen Mann. Seine Augen blickten scharf, wie die eines Adlers, und wenn er so aufgebracht war wie im Moment, dann funkelten sie wie scharfkantige, dunkle Edelsteine. Steuermark blieb plötzlich direkt vor Oliver stehen und seine Adleraugen richteten sich durchdringend auf ihn.
»Ich möchte wirklich wissen, was in Ihrem Köpfchen vor sich geht!« Oliver schluckte und sein Kehlkopf bewegte sich nervös auf und ab. Er zuckte zusammen, als sein Handy plötzlich zwei kurz aufeinander folgende Klingeltöne von sich gab. Eine SMS! Sein Herz machte einen Satz. Ohne weiter nachzudenken, zog er sein Handy aus der Hosentasche und las die SMS direkt vor den Augen seines Chefs.
›Treffen wir uns zum Mittagessen? Habe heute frei. 13 Uhr im Magnus?‹
Oliver strahlte übers ganze Gesicht. Es war eine SMS von Emily. Er blickte wieder auf. Hans Steuermark funkelte ihn böse an.
»Herr Oliver Bergmann, ich habe Sie nicht zu mir ins Team geholt, damit Sie liebestrunken Ihren Dienst vergessen! Ich teile Ihre Einschätzung, dass Emily Richter ein reizendes Geschöpf ist und dass sie uns im Fall des Puzzlemörders von Zons einige entscheidende Hinweise gegeben hat, aber vielleicht könnten Sie Ihr Privatleben außerhalb Ihrer Dienstzeit ausleben!«
Betreten senkte Oliver den Kopf und steckte sein Handy schnell zurück in die Hosentasche. Sein Partner lachte leise. Blitzschnell richtete Hans Steuermark seine Adleraugen auf ihn und augenblicklich verschwand das Lachen wieder aus Klaus’ Gesicht.
Oliver räusperte sich und versuchte, die Situation mit einer Darstellung der Vermissten zu retten.
»Wir haben fünf vermisste Personen ermittelt, die als Opfer infrage kommen könnten.«
Oliver klappte die Akte auf, welche die ganze Zeit über auf seinen Oberschenkeln gelegen hatte und legte fünf Steckbriefe nebeneinander auf den Schreibtisch von Hans Steuermark.
»Die erste Person wurde bereits vor sechs Monaten als vermisst gemeldet. Es handelt sich um einen gewissen Peter Schreiner, der nach einer gemeinsamen Urlaubsreise mit seiner Ehefrau verschwunden ist. Der Mann ist sechsundvierzig Jahre alt und arbeitet als Kfz-Mechaniker in einem Autohaus in Dormagen.«
Oliver fuhr mit einem Finger über das Papier des Steckbriefes. Auf dem Foto war ein sonnengebräunter, wohlgenährter Mann mit randloser Brille zu erkennen. Da mit dem Mann ein erheblicher Bestandteil des gemeinsamen Kontos verschwunden war, kam er für Oliver eher weniger als potenzielles Mordopfer in Betracht. Vermutlich saß Peter Schreiner irgendwo in Spanien mit seiner neuen Geliebten am Strand, während sie hier mühevolle Polizeiarbeit leisten mussten.
Olivers Blick wandte sich dem zweiten Steckbrief zu. Der war schon interessanter. Markus Heilkamp, ein neunundvierzigjähriger Chemiker und Mitarbeiter eines großen Chemiewerkes in Dormagen, war vor drei Monaten spurlos verschwunden. Der geschiedene Mann lebte alleine auf einem kleinen Bauernhof am Rande der Stadt Zons und ist von einem auf den anderen Tag ohne Vorwarnung wie vom Erdboden verschluckt worden. Morgens war er wie jeden Tag zur Arbeit erschienen, dann hatte er wie immer gegen achtzehn Uhr die Firma verlassen und von diesem Zeitpunkt an verlor sich seine Spur. Das Interessante an Markus Heilkamp war, dass er für die erst Anfang des Jahres errichtete neue Großanlage des Chemieriesen verantwortlich war. Einhundertfünfzig Millionen Euro hatte der Konzern in diese Anlage investiert, welche sogenannte TDI-Produkte für die Herstellung von Polyurethan-Weichschaum produzieren sollte. Dieser Weichschaum wird unter anderem für Kaltschaum-Matratzen oder Autositze eingesetzt. Die Firma hatte um die neue Anlage und ihre Finanzierung einen riesigen Presserummel veranstaltet und Oliver erinnerte sich insbesondere an einen Fakt ganz genau: Das Nebenprodukt dieser Chemieprodukte war Salzsäure!
Salzsäure!
Damit war der skelettierte menschliche Fuß in Berührung gekommen! Alleine bei dem Gedanken kribbelten Olivers Nervenenden. Ob der Fuß zu dem Chemiker Markus Heilkamp gehörte? Wie leicht konnte ein Mensch in den riesigen Salzsäuretanks auf dem Gelände des Chemieunternehmens verschwinden? In jedem Fall würde Oliver gerne einen Blick hinter die Kulissen des Chemieriesen werfen.
Oliver erläuterte Hans Steuermark die Hintergrundfakten und stellte mit Zufriedenheit fest, dass sich die Gesichtsmuskeln seines Chefs langsam entkrampften. Sicherlich bereitete dieser im Geiste bereits die anstehende Pressekonferenz vor und stellte sich gerade die Mienen der Journalisten vor, wenn er von einem ersten brauchbaren Ansatzpunkt berichtete. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie eine Spur zu ihrer Leiche gefunden hatten, auch wenn es noch keine konkreten Beweise gab. Aber solche Zufälle passierten nicht, da war Oliver sich sicher!
Aus dem Augenwinkel beobachtete er seinen Kollegen. Dieser war schon viel länger bei der Kriminalkommission als er. Gelangweilt blickte Klaus aus dem Fenster. Jede einzelne Faser seines Gesichtes strahlte Desinteresse aus. Nichts langweilte Klaus schneller als Analyseaufgaben. Er hielt rein gar nichts von dem Knochenfund. Alles und nichts konnte sich dahinter verbergen. Er fühlte sich wohler, wenn er draußen auf der Straße unterwegs sein und die Ermittlungen vor Ort führen konnte. Er redete lieber mit Menschen, statt sich stundenlang auf Internetrecherche zu begeben oder gar durch Bücher oder Zeitungen zu wälzen. Klaus glaubte, dass sich jeder Täter durch geschickte Fragetechniken früher oder später von selbst verriet. Das war es, was Oliver und Klaus zu einem perfekten Team machte. Zwar war auch Oliver von Recherchearbeiten nicht sonderlich begeistert, hatte er allerdings erst einmal eine Fährte aufgenommen, konnte ihn nichts mehr so schnell von seiner Spur abbringen. Er durchsuchte beharrlich sämtliche Quellen, die ihm in die Quere kamen. Stundenlang konnte er sich mit Internetrecherchen beschäftigten, solange er der Überzeugung war, am Ende das richtige Glied in einer Kette aus verschlungenen Enden gefunden zu haben. Im Gegensatz zu Klaus arbeitete Oliver viel lieber systematisch die Indizienketten durch, als sich stundenlang das Gefasel von verschiedenen Zeugen anzuhören. Klaus hingegen genoss die Aufmerksamkeit, die ihm in solchen Gesprächen zuteilwurde. Für Oliver waren die Aussagen oft unstrukturiert und bei mehrmaligen Nachfragen stellten sich die Gespräche auch häufig als reine Zeitverschwendung heraus. Das war gar nichts für ihn, er legte großen Wert auf schnelle Resultate. Oliver liebte es zu jagen, allerdings nur auf der richtigen Fährte!
Olivers blaue Augen richteten sich auf den Steckbrief der dritten vermissten Person. Es handelte sich um einen Neunundvierzigjährigen namens Peter Hirschauer. Verschwunden war er vor über zwei Monaten. Als erfolgreicher Banker, der viele namhafte Firmenkunden beraten hatte, war sein Verschwinden zunächst nicht nachvollziehbar. Doch dann hatte Oliver herausgefunden, dass Hirschauer zum Zeitpunkt des Verschwindens bereits von seiner Bank suspendiert worden war. Die Bank wollte ohne die offizielle Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens jedoch keine Gründe hierfür preisgeben.
Dimitri Orlow und Vladimir Tereschenko waren Nummer vier und fünf auf der Vermisstenliste. Bei beiden konnten Verbindungen zur russischen Mafia nachgewiesen werden. Da diese für ihre Brutalität und das spurenlose Entsorgen ihrer Opfer bekannt war, waren beide Männer ebenfalls heiße Kandidaten für den besitzerlosen Fuß. Es würde Oliver nicht wundern, wenn dieser das Einzige wäre, was von beiden übrig geblieben ist. Glücklicherweise hatte er in der Datenbank von beiden Männern genetische Fingerabdrücke gefunden, die im Rahmen früherer strafrechtlicher Ermittlungsverfahren durch eine DNA-Analyse festgestellt worden waren. Noch war das Labor mit der Vergleichsanalyse beschäftigt, aber schon in wenigen Tagen würden sie definitiv wissen, ob einer der beiden Männer zu dem Fuß passte oder nicht.
Hans Steuermark griff stirnrunzelnd nach dem Steckbrief von Markus Heilkamp, der für den Chemiekonzern gearbeitet hatte.
»Finden Sie alles über ihn heraus. Und schauen Sie sich das Gelände seines Tätigkeitsbereiches und sein persönliches Umfeld genau an! Ich möchte, dass Sie das mit höchster Priorität erledigen!«
…
Angestrengt starrte er auf die Tafel mit den vielen bunten Bildchen, die an der Einfahrt des McDonald’s-Drive-in in der Nähe des HIT-Marktes in Dormagen angebracht war. Die Schrift war ziemlich klein, sodass er trotz seiner dicken Brille Schwierigkeiten hatte, sie zu lesen. Außerdem bereitete ihm die für ihn wirre und kunterbunte Anordnung der einzelnen Produkte und Menüs echte Schwierigkeiten, sich auf ein Gericht zu konzentrieren. Beim letzten Besuch hatte er sich Chicken McNuggets bestellt. Nachdem die anderen Autofahrer hinter ihm schon unruhig ihre Hupen betätigt hatten, um ihn unter Druck zu setzen und zu einer schnelleren Auswahl zu zwingen, nahm er einfach die Nuggets. Sie standen oben auf der Tafel, und es war das Einzige, was er so schnell lesen konnte. Doch die kleinen panierten und frittierten Fleischbissen, die aus Hähnchenbrustfilet bestehen sollten, hatten ihm nicht geschmeckt.
Obwohl er nicht wegen des Essens hier war, wollte er es heute besser machen. Ihre Schicht begann jeden Dienstag um elf Uhr und er war pünktlich auf die Minute erschienen. Um diese Zeit wollte auch kein anderer Kunde im Drive-in etwas bestellen. Es herrschte gähnende Leere, und er würde genug Zeit haben, um eines dieser merkwürdigen Fast-Food-Menüs auszuwählen. Mal sehen, ob er diesmal ein glücklicheres Händchen haben würde. Er nahm für einen Moment die schwere Hornbrille ab und griff nach dem Stofftaschentuch in seiner Hosentasche. Meine Güte, er war wirklich schon zu alt für diese neumodischen Sitten. Warum konnte sie nicht wie ein normales Mädchen als Kellnerin in einem bodenständigen Restaurant arbeiten. Dort hätte er jeden Tag gemütlich Platz nehmen können. Sie hätte ihn bedient, ihm dabei ein bezauberndes Lächeln geschenkt und er hätte außerdem noch ihren Duft riechen können. Im Geiste sah er sie mit einem Teller neben sich stehen. Sie beugte sich zu ihm herüber, um den Teller ordentlich vor ihm auf dem Tisch abzustellen. Er neigte sich leicht nach vorne, sein Körper reckte sich zu ihr empor. Vielleicht konnte er noch eine flüchtige Berührung ihres Armes erhaschen und dann spürte er einen leichten Lufthauch über sein Gesicht schweben und ihr Duft drang süß und unwiderstehlich in seine Nase.
»Ihre Bestellung bitte?«
Der Lautsprecher vor der McDonald’s-Tafel quäkte und riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. Mit wohligem Behagen nahm er trotz der elektronischen Übertragung ihre freundliche Stimme wahr. Schnell wischte er sich die Schweißtropfen von der Stirn, setzte seine Brille wieder auf und warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel seines Wagens. Eine fettige, graue Haarsträhne hing quer über seiner Stirn und er wischte sie hastig weg.
»Fräulein, ich hätte gerne dieses äh Mc… äh«, er stockte und versuchte mühsam, sich auf die Schrift zu konzentrieren. Was stand da bloß?
»Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden. Können Sie Ihre Bestellung wiederholen?«
»Ja«, angestrengt blinzelte er und stammelte weiter: »äh, das McRib-Menü. Ich möchte bitte das McRib-Menü bestellen, Fräulein.«
»Als McMenü oder Maxi-Menü?«
Er überlegte kurz. Was sollten diese dämlichen Bezeichnungen, wurde man hier von einem normalen Menü nicht satt?
»Das Maxi-Menü bitte.«
»Majo oder Ketchup zu den Pommes?«
Am liebsten gar keine Pommes, dachte er, doch er antwortete: »Ketchup bitte.«
»Was für ein Getränk?«
»Was können Sie mir denn empfehlen, Fräulein?«
»Cola, Cola light, Fanta, Sprite oder Wasser.«
Ihre Worte drangen wie eine Maschinengewehrsalve in sein Gehirn ein. Er verstand kein Wort. Er war verloren. Jetzt durfte er sich auf keinen Fall blamieren, fast hatte er es geschafft. Konzentriere dich, Dietrich! Was genau hatte sie gerade gesagt? Und da fiel es ihm wieder ein. Wasser. Sie hatte Wasser gesagt.
»Wasser bitte.«
»Das macht dann sechs Euro neunundneunzig. Bitte fahren Sie zum zweiten Schalter vor.«
Puh, er hatte es geschafft. Gleich würde er einen Blick auf sie erhaschen können! Er wartete eine Weile und atmete tief durch. Jetzt nur nicht in Panik verfallen. Diesen kurzen Moment wollte er in vollen Zügen genießen. Langsam trat er auf das Gaspedal und bewegte sich mit seinem alten Ford wie in Zeitlupe bis zum zweiten Schalter vor.
»Sechs neunundneunzig Euro bitte.«
Eine junge Frau mit geflochtenen, blonden Haaren und rosigen Wangen blickte ihn lächelnd aus strahlend blauen Augen an.
Sein Verstand setzte für eine Sekunde aus. Die Ähnlichkeit mit Marie, der Ehefrau von Bastian Mühlenberg, war wirklich verblüffend. Es raubte ihm jedes Mal den Atem, wenn er sie sah. Er konnte nicht glauben, dass es sie tatsächlich gab. Seine Marie! Sein Blick verharrte kurz auf dem kleinen Plastikschild über ihrer Brust. Sandra Schwanengel stand in großen, schwarzen Buchstaben darauf. Er ignorierte diesen Namen. Für ihn hieß sie Marie!
Dietrich gab ihr zehn Euro. Er hätte es auch passend gehabt, aber so konnte er sie zweimal berühren. Mit lüsternem Blick starrte er sie an, als sie ihm das Rückgeld in die Hand drückte. Ihre Finger waren leicht kühl und so zart. Er war entzückt. Zwischen seinen Beinen regte sich die Lust auf ihren jugendlichen, wohlgeformten Körper.
»Bitte fahren Sie zum nächsten Schalter vor!«
Mit diesen Worten schob sie das Schiebefenster zu und verschwand aus seinem Blickfeld. Seufzend trat Dietrich auf das Gaspedal und fuhr zum nächsten Schalter vor, diesmal zügiger. Hier gab es nichts Sehenswertes mehr für ihn. Er nahm die braune Papiertüte mit seinem Maxi-Menü und den feuchten Pappbecher mit Wasser von einem jungen Mann entgegen, kurbelte die quietschende Scheibe seines uralten Wagens hoch und fuhr schnurstracks zurück nach Zons in die Schlossstraße 1. Dort war sein zweites Zuhause, das Kreisarchiv Neuss. Seit nunmehr dreißig Jahren arbeitete Dietrich Hellenbruch als Kreisarchivar in den alten Gemäuern des ehemaligen Schlosses Friedestrom.
…
»Pass auf«, flüsterte Emily leise stöhnend in Olivers Ohr, als sich krachend ein Stapel alter Bücher vom Fensterbrett löste und zu Boden fiel.
Sie hatten ihr Mittagessen im Magnus, einer bekannten Studentenkneipe auf der Zülpicher Straße in Köln, nur schnell hinuntergeschluckt. Eng umschlungen waren sie anschließend die Treppen zu Emilys Appartement hinaufgestolpert, hatten küssend den Wohnungsschlüssel aus Emilys Handtasche herausgefischt, mit letzter Zurückhaltung die Tür aufgeschlossen und waren dann in ihr Schlafzimmer gestürzt.
Oliver presste Emily mit seinem kräftigen Körper an das Fenster und hielt ihre Pobacken mit seinen Händen fest umschlossen. Er hob sie hoch und presste seinen Unterleib zwischen ihre Beine. Jetzt, wo der störende Bücherhaufen auf dem Boden um ihre Füße verteilt lag, konnte er ihre Beine weiter auseinanderschieben. Die Hose über seinem Schritt war zum Zerreißen gespannt und Oliver hätte Emily am liebsten die Kleider vom Leib gerissen. Aber eine Stimme in seinem Hinterkopf warnte ihn, nicht zu schnell vorzugehen. Sei behutsam! Sie ist so zart. Er atmete keuchend ein, nahm sich etwas zurück und betrachtete ihr Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen sinnlich geschlossen. Die kleinen krausen Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm ihre Erregung. Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an.
»Musst du zurück?«
»Ja, ich muss. Aber eigentlich ich möchte hier bei dir bleiben!«
Oliver warf einen Blick auf seine Uhr. Mist, in einer halben Stunde musste er spätestens zurück im Revier sein. Hans Steuermark würde ein Riesentheater veranstalten, wenn er zu spät käme. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht aus der Umarmung mit Emily lösen. Er atmete ihren süßen Duft ein, den er mittlerweile blind wahrnahm, sobald sie den Raum betrat. Ihre Schenkel pressten sich warm an die seinen, und er wünschte sich, dass dieser Augenblick nie enden würde. Mit einem kräftigen Stoß aus seinem Unterleib drückte er Emily wieder auf die Fensterbank zurück. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Eine plötzliche Vibration ließ ihn innehalten. Sein Handy klingelte und meldete einen Störenfried. Oliver stöhnte verärgert auf und griff sich in die eng gewordene Hosentasche. Er hatte Mühe, sein Handy hervorzukramen. O nein, nicht ausgerechnet jetzt! Seine Mama stand im Display. Ihr Name leuchtete im Sekundentakt auf. Schlechtes Timing! Was wollte sie nun schon wieder?
»Tut mir leid, Emily. Da muss ich mal kurz ran.«
Mit einem tiefen Seufzer nahm er ab.
»Hallo Mama, was gibt es denn?«
Seine Mutter lebte seit dem Tod des Vaters vor gut einem Jahr alleine in dem großen Elternhaus. Oliver bedauerte oft, dass es über eine Fahrtstunde entfernt von Neuss lag, sonst hätte er sich mehr um seine Mutter kümmern können.
»Oliver, stell dir vor, die Scheibe zum Kellerfenster ist eingeschlagen. Das Fenster hat ein Loch so groß wie ein Mauerstein und Tausende Glassplitter liegen herum. Muss ich jetzt die Polizei rufen?«
»Nein Mama, das musst du nicht. Ich kümmere mich darum. Mach dir keine Sorgen und außerdem bin ich ja bei der Polizei.«
Oliver musste bei dem letzten Satz grinsen. Seine Mutter war zwar furchtbar stolz auf ihn. Da er als Kriminalbeamter jedoch selten Uniform trug, war er für sie kein echter Polizist. Zu stark war in ihrem Kopf die herkömmliche Vorstellung eines Streifenpolizisten in grüner Uniform verankert, als dass sie sich von dieser Auffassung lösen konnte. Oliver beendete sein Telefonat rasch. Er würde gleich einen Kollegen von der Streifenpolizei vorbeischicken. Oliver war sich zwar sicher, dass die Scheibe aus Altersgründen zerborsten war, aber seine Mutter würde es bestimmt beruhigen, wenn ein richtiger Polizist mal nach dem Rechten sah. Bedauernd blickte er auf seine Armbanduhr. Er musste dringend los. Mit einem langen Zungenkuss verabschiedete er sich von Emily.
»Ich rufe dich nachher an!«
Mit diesen Worten löste er sich von ihr, griff seine Sachen und begab sich auf den Weg zurück ins Polizeirevier. Kaum war er ins Auto gesprungen, klingelte sein Handy erneut. Diesmal war Klaus am anderen Ende der Leitung.
»He Sportsfreund, wo steckst du? Hast du etwa das Meeting vergessen?«
»Nein, aber ich hatte zu tun.«
»Ach so nennt man das heute: Du hattest zu tun? Was gab es denn mit Emily Richter so zu tun?«, neckte Klaus ihn. Oliver konnte sein spöttisches Grinsen förmlich vor sich sehen.
»Hör zu, denke dir bitte irgendetwas aus, falls Steuermark vor mir da sein sollte.«
»Mein Lieber, ich bin dein Partner, was hältst du denn von mir?« Die Stimme von Klaus klang übertrieben beleidigt. »Ich habe dir bereits das perfekte Alibi verschafft. Wir haben einen Termin im Dormagener Chemiekonzern. Also drücke aufs Gas und hole mich ab.«
Bevor Oliver sich bedanken konnte, gab klickte es in der Leitung. Zufrieden brauste Oliver mit seinem Dienstwagen über die Autobahn A57 in Richtung Neuss.
…
Emily sammelte die heruntergefallenen Bücher auf. Zum größten Teil handelte es sich um die Unterlagen, die sie für ihre Artikelserie zu den historischen Morden in Zons im Jahr 1495 gesammelt hatte. Ihre beste Freundin Anna hatte es damals fast erwischt. Wie durch ein Wunder war sie dem Nachahmungstäter des Zonser Puzzlemörders entkommen. Heute Abend waren die beiden Freundinnen verabredet und Emily freute sich schon riesig. Sie hatte Anna viel zu erzählen. Ein Redakteur der Rheinischen Post hatte ihr doch tatsächlich angeboten, eine neue Reportage über eine weitere düstere Mordserie im mittelalterlichen Zons am Rhein zu schreiben. Das war genau das Angebot, auf welches sie seit Wochen sehnsüchtig gewartet hatte. Ihre erste Reportage über den Puzzlemörder von Zons, der dort vor über fünfhundert Jahren sein Unwesen trieb, war ein großer Erfolg gewesen. Emily spürte Stolz und Begeisterung gleichzeitig in sich aufwallen. Die ersten Ideen spukten unablässig in ihrem Kopf herum und sie brauchte heute Abend ihre Freundin als Sparringspartner. Versonnen hielt sie inne.
Oliver Bergmann stahl sich plötzlich in ihre Gedanken und die Sehnsucht stieg wie ein flatternder Schmetterling in ihr hoch. Er hatte sie so leidenschaftlich geküsst, dass sie bei der Erinnerung daran immer noch leicht bebte. So in ihren Tagträumen versunken bemerkte Emily das schmale, alte Papier nicht, welches sich lautlos aus dem Bücherstapel löste und in einem schwungvollen Bogen unter den Heizungskörper am Fenster segelte und dort liegen blieb. Emily legte die Bücher wieder auf dem Fensterbrett ab. Dann griff sie nach ihrem Handy, wählte Annas Nummer und verließ, ohne einen weiteren Blick zurück auf das Schlafzimmerfenster zu werfen, den Raum.
…
Mittlerweile wusste Peter, wo er sich befand. Gut, er wusste nicht genau, an welchem Ort, aber er hatte herausgefunden, dass er im Kofferraum eines Autos lag. Das erklärte die unerträgliche Hitze, die stickige, sauerstoffarme Luft und den schwachen Lichtstrahl, der ihm tagsüber zumindest ein wenig das Gefühl gab, noch am Leben zu sein. Er wusste nicht mehr, wie viele Tage er schon eingesperrt war. In schier ewig dauernden Zeitabständen öffnete sich die Heckklappe und brutale Hände rissen ihm den Knebel aus dem Mund und steckten einen Schlauch, so dick wie ein Strohhalm, tief in seinen Hals. Die Flüssigkeit, die anschließend in seinen Magen gepumpt wurde, hielt ihn am Leben. Peter vermutete, dass es sich um Astronautennahrung oder Ähnliches handelte. Jedenfalls hatte er jedes Mal nach dieser Prozedur stunden- oder vielleicht sogar tagelang weder Durst noch Hunger. Auch für seine anderen menschlichen Bedürfnisse hatte sein Kidnapper gesorgt. Ein Urinsammelbeutel mit einem Katheter in seinem Unterleib verhinderte, dass er sich in seinem eigenen Harn suhlen musste. Auch an seinem After befand sich ein aufgeklebtes Plastiksäckchen, das dafür sorgte, dass er nicht in seinen eigenen Exkrementen lag.
Wie rücksichtsvoll!, dachte Peter und versuchte, sich unter Schmerzen ein wenig zu drehen. Durch die Hitze war seine Haut aufgequollen und von dem rauen Belag, auf dem er lag, wund gescheuert. Es war zwecklos, er konnte sich nur millimeterweise bewegen. Draußen ertönte ein dumpfes quietschendes Geräusch. Peter hielt inne und lauschte. Lange hatte er sich nicht erklären können, woher dieses Geräusch stammte. Mittlerweile ahnte er es. Er wusste, was nun kam. Das Quietschen kam näher und hielt direkt über ihm an. Mit einem dumpfen Aufprall wurde der Wagen zuerst in den Boden gedrückt und dann gab es einen weiteren Ruck. Das Auto begann zunächst nach rechts und links und dann in alle möglichen Richtungen zu pendeln. Die ersten Male konnte er sich das überhaupt nicht erklären, doch dann begriff er, dass das Auto frei in der Luft schwebte.
In der Ferne konnte er wieder das dumpfe und quietschende Dröhnen wahrnehmen. Metall schürfte auf Metall. Eisen, Rost und Stahl wurden ineinander gepresst, und jedes Mal, nachdem das Auto durch die Luft bewegt wurde, kam dieses Dröhnen bedenklich näher. Wie ein wütendes Monster hörte sich das Ding an, was nach Peters Vermutung eine Schrottpresse sein musste. Es war aus seiner Sicht die einzig logische Erklärung. Autos wurden verschrottet, der Platz wurde frei und das Auto, in dem er sich befand, wurde von einem Kran in die Luft gehoben und rückte unaufhaltsam näher an das Monstrum heran. Würde so sein Ende aussehen? Zerquetscht wie eine winzige Mücke zwischen den Fingern eines Stahlmonsters?
Wütend sammelte er seine letzten Kräfte und stieß mit aller Gewalt mit den Knien gegen die Kofferraumklappe.
Einmal, zweimal. Nichts.
Er spürte nur den pochenden Schmerz vom Aufprall seiner nackten Haut auf das harte Metall. Mehr hatte er nicht erreicht. Er versuchte es noch einmal.
Knack.
Peter traute seinen Ohren nicht. Hatte die Klappe nachgegeben? Er stieß erneut dagegen. Tatsächlich! Ächzend öffnete sich der Kofferraum. Grelles Licht traf seine Augen wie ein spitzer Dolch und der stechende Schmerz ließ ihn erstarren. Er verharrte mehrere Sekunden. Danach hatten sich seine Augen zwar immer noch nicht an das Licht gewöhnt, aber seine Lungen sogen gierig die frische Luft ein, die in den geöffneten Kofferraum strömte. Ein undefinierbarer Laut drang aus seiner Kehle, als er seine Lungen immer weiter mit Sauerstoff füllte. Blind tastete er den Rand des Kofferraums ab. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt und von der langen Bewegungslosigkeit in der Hitze ungelenkig und grobmotorisch. Es kostete ihn zu viel Kraft. Erschöpft ließ Peter sich in den Kofferraum zurückfallen. Ein paar Minuten wollte er erneut Kraft schöpfen und dann fliehen, so schnell es nur ging.
Die bösen, zu engen Schlitzen zusammengekniffenen Augen, die ihn bei seinem Fluchtversuch beobachteten, bemerkte Peter nicht. Erst als sie direkt über ihm waren, wurde er sich der Gefahr bewusst. Doch es war zu spät. Ein stumpfer Gegenstand prallte auf seine Schläfe und Peter wurde schwarz vor Augen. Als der Wagen sich schließlich in Bewegung setzte, war er in eine tiefe Bewusstlosigkeit versunken.