IX.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

August schlich um den Krötschenturm. Verhüllt in einen schwarzen Kapuzenumhang und geduckt, verbarg er sich im Schatten der Nacht. Der Mond glich einer schmalen silbernen Sichel. Dunkle Wolken schwebten unablässig an ihm vorüber und verdeckten sein fahles Licht. Der Nachtwind war kühl und brachte den Geruch von Herbst mit sich. Würzige und ein wenig vermoderte Luft kräuselte Augusts Nase. Der Winter war nicht weit und das machte August traurig. Die Menschen würden dann wieder Zeit am Feuer in ihren Hütten verbringen und niemand würde in seine Fallen tappen. Er würde seine Wut nicht mehr so intensiv ausleben können wie jetzt und musste seine Grausamkeit zügeln, damit Martha keinen Verdacht schöpfte.

August lächelte. Martha, seine Stiefmutter, glaubte wirklich, dass er wie Christan war. In ihrer Welt glichen sie sich nicht nur äußerlich, sondern waren aus demselben Holz geschnitzt. In ihren Herzen wohnte dieselbe gute Seele. Manchmal wunderte sich August, wie leicht es war, die Menschen zu täuschen. Erst heute Morgen beim Gottesdienst hatte Pfarrer Johannes ihn gelobt und ihm dabei sanft übers Haupt gestreichelt. Dabei hatte er selbst dem kleinen Bauernmädchen einen Stoß gegeben. Sie fiel, schlug ihre Knie dabei blutig und August hatte ihr aufgeholfen. Eigentlich nur, weil sie im Weg lag - nicht, weil es ihn gekümmert hätte. Aber Pfarrer Johannes hatte ihn wohlwollend angelächelt und selbst Bastian Mühlenberg hatte ihm zugenickt, als er die Kleine vom Kirchenboden hochzerrte.

Die Tür des Krötschenturms knarrte und öffnete sich zögerlich. August verkroch sich weiter im Schatten. Da kamen sie heraus, die dürren und kranken Gestalten. Eigentlich sollten sie hinter den verschlossenen Türen verrotten und ihre Krankheiten nicht in der Stadt verteilen, doch man hatte ihnen gestattet, sich in der Nacht für einige Meter unter freiem Himmel zu bewegen. Um Mitternacht wurde die Tür für eine Stunde geöffnet. Dicke, aneinandergereihte Holzpfosten und die wachsamen Augen der Stadtwache sorgten dafür, dass keiner von ihnen fliehen konnte. Einige Bewohner von Zons legten regelmäßig Speisen an den Zaun, in manchen Nächten war sogar ein Krug Wein dabei.

Gierig stürzten sich die Kranken mit ihren ausgemergelten Leibern darauf und August beobachtete fasziniert, wie sie sich gegenseitig wegschubsten und keinerlei Rücksicht auf ihre Mitgefangenen nahmen. Der Überlebenstrieb ließ sie jegliche Menschlichkeit vergessen. Wer zu schwach war, wurde von den Stärkeren niedergetrampelt und nicht selten kam es vor, dass ein kranker Körper zusammenbrach und dann einfach leblos liegenblieb.

Früher hatte August es in unbeobachteten Momenten geschafft, den einen oder anderen Gebrechlichen heranzulocken, um dann sogleich mit einem scharfen Messer in seine Eingeweide zu stechen. Doch seit die alte Jonata Heusenstamm fast jede Nacht hier herumschlich, um diesen Buckligen zu erwischen, hatte sich August zurückgenommen. Einmal, als er Tierreste vor dem Zaun fallenließ, hätte sie ihn fast erwischt. Nur gut, dass er seinen schwarzen Mantel trug, denn sie schrie den Namen des Buckligen hinter ihm her und hatte ihn tatsächlich verwechselt. Seitdem begnügte sich August damit, das nächtliche Treiben still zu beobachten.

 

 

...

 

 

»Tilmann, du hast doch gesagt, dass du sein Gesicht gesehen hast.« Bastian versuchte mit ruhiger Stimme, den Jungen zum Reden zu bringen. Tilmann starrte auf seine linke Hand, an der drei Finger fehlten. Der Arzt hatte gute Arbeit geleistet. Zwar litt der Knabe nach der Amputation ein paar Tage unter heftigem Fieber, aber jetzt sahen die Fingerstümpfe gut aus. Die Haut hatte sich gleichmäßig über die abgesägten Knochen verteilt und immerhin waren der Daumen und der Zeigefinger vollkommen intakt. Tilmann würde kaum behindert sein.

»Es war der Bucklige. Ich habe es Euch doch schon so oft gesagt.« Tilmann bestand auf seinen ungenauen Beobachtungen.

»Du hast mir gesagt, dass du sein Gesicht gesehen hast, als er sich im Wald auf dich gestürzt hat. Versuche, mir sein Gesicht zu beschreiben. Welche Augenfarbe hatte er?« Bastian behielt weiterhin die Geduld, obwohl er Tilmann am liebsten geschüttelt hätte. Wie konnte er nur so stur auf dem Buckligen beharren, wenn er ihn noch nicht einmal richtig beschreiben konnte?

Tilmann schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Bastian Mühlenberg, es ging alles so schnell. An die Augenfarbe kann ich mich nicht erinnern. Sein Gesicht war auch eher wie ein Schatten.« Der Junge machte eine kurze Pause. Er spürte, dass Bastian Mühlenberg verärgert war.

»Ich kann mich nur an seine Gestalt erinnern. Es war ein kleiner Mann mit einer schwarzen Kutte. Die Kapuze hing tief in seinem Gesicht, sodass ich auch seine Haare nicht erkennen konnte.«

»Also gut, Tilmann«, Bastian seufzte, »ich kann leider mit deiner Beschreibung nicht viel anfangen. Sie ist zu allgemein, um sie eindeutig zuzuordnen. Willst du wirklich, dass ich aufhöre, nach dem richtigen Unhold zu suchen und womöglich der Falsche im Juddeturm landet?«

Tilmann schüttelte den Kopf. »Aber es war doch Gilig. So werft ihn doch endlich in den Juddeturm!« Die Stimme des Jungen brach und ein Weinkrampf erfasste ihn.

Bastian legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. »Ich brauche eindeutige Beweise, Tilmann. Mein Amt verbietet es mir, einen womöglich Unschuldigen zu bestrafen und du bist doch selbst nicht sicher, ob es Gilig war.«

Tilmann schluchzte laut. »Aber meine Mutter ist sich sicher! Sie hat gesagt, ich sollte seinen Namen nennen. Die alte Jonata hat ihn doch auch gesehen!«

»Tilmann, du bist der einzige Zeuge und nur das, was du gesehen hast, zählt.« Bastian sah dem Jungen tief in die Augen. »Du musst bei der Wahrheit bleiben! Stell dir nur vor, jemand beschuldigt dich und du landest für immer im Juddeturm, obwohl du unschuldig bist. Möchtest du das?«

Tilmann schüttelte den Kopf. Bastian Mühlenberg hatte recht. Er wusste nicht genau, wer der Mann in der schwarzen Kutte war. Er war viel zu schockiert und vor Schmerzen fast ohnmächtig gewesen, um sich an irgendetwas genau erinnern zu können. Selbst die Bäume im Wald, die er bei seiner Flucht gestreift hatte, kamen ihm mittlerweile unwirklich vor. »Ich weiß nicht, wer es war. Ihr habt recht, Bastian Mühlenberg. Ich bin nicht sicher, ob Gilig in der schwarzen Kutte steckte.« Eine Träne lief über Tilmanns Wange. Hastig wischte er sie weg.

»Du tust das Richtige. Du bist ein guter Junge!« Bastian gab Tilmann einen Klaps und schickte ihn fort.

Oh nein, dachte er, jetzt bin ich genauso schlau wie vorher! In seinen Gedanken ging Bastian noch einmal die Geschehnisse der letzten Wochen durch. Angefangen hatte alles mit der alten verbitterten Jonata Heusenstamm, die in einer kleinen Lehmhütte am Krötschenturm hauste. Sie hatte den Mann in der schwarzen Kutte zuerst gesehen. Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Mord, aber der Mann mit dem schwarzen Umhang war hier zum ersten Mal aufgetaucht. Bastian überlegte. Schwarze Kutten waren weit verbreitet in Zons. Es konnte durchaus ein reiner Zufall sein. Das Ziehen in seiner Magengrube sprach jedoch für das Gegenteil. Die Überreste der Tierkadaver zeugten von Blutrünstigkeit. Bastian erinnerte sich an die Worte von Pfarrer Johannes, als er über das Böse predigte. Das Böse nährt sich aus dem Bösen selbst und wächst zu immer größerem Unheil heran, wenn man es nicht mit dem Guten bekämpft. Ruft man Böses hinein, so schallt Böses heraus und deshalb soll auch Böses niemals mit Bösem vergolten werden.

Was, wenn wir den Teufel persönlich unter uns haben?, fragte sich Bastian. Wenn er erst seinen Blutrausch an Tieren stillte und dann immer mehr wollte? Zunächst Federvieh, dann Vierbeiner und anschließend ein Knabe, der entkam. Oder war sein Blutdurst danach so groß, dass er den Schmied Matthias Honrath überwältigte. Vielleicht war das Bettelweib zusammen mit den toten Hunden nur ein weiterer Beweis für die Blutgier, die diesen Teufel antrieb?

Möglicherweise gab es einen logischen Zusammenhang zwischen Tilmanns abgetrennten Fingern, dem toten Schmied und dem verbrannten Weibsbild? Nur der Schmied trug eine Goldmünze bei sich. Andererseits hatte er Gilig mit Münzen an der Stadtmauer erwischt und der Bucklige trug ständig eine schwarze Kutte. War Bastian doch zu gutmütig und übersah das Offensichtliche? War Gilig der Teufel, der anderen nach dem Leben trachtete und sich selbst mit falschen Goldmünzen bereicherte? Nahm Bastian ihn nur in Schutz, weil er äußerlich zu den Schwachen zählte, die er beschützen musste? Hatte dieser Teufel ihn gar verblendet?

Verzweifelt fuhr Bastian sich mit den Händen durch die blonden Haare. Nein, er musste dieses Wirrwarr in seinem Kopf beenden. Die vielen Gedanken, die durch sein Gehirn rasten, brachten ihn um den Verstand. Er sprang auf und lief los.

Bastian stürmte über die Schloßstraße und näherte sich schnellen Schrittes dem Schloss Friedestrom. Ohne weiter nachzudenken, bog er nach rechts ab und gelangte über einen kleinen Vorplatz zum Zonser Hafen, der sich am südlichsten Zipfel der Ostseite befand. Das Wasser plätscherte in kleinen abgehackten Wellen gegen die Felssteine und wiegte die Schiffe, die hier vor Anker lagen, in kleinen Bewegungen auf und ab. Die groben Seile, die zum Treideln der Schiffe verwendet wurden, hatten bereits tiefe Furchen in das Gestein des Hafenbeckens gezeichnet. Für zehn Tonnen benötigte man mindestens sieben kräftige Männer, auch Treidelknechte genannt, die mit Hilfe ihrer Muskelkraft die schwer beladenen Schiffe mit Seilen vom Rhein - um den Eckturm herum - in den Schlosshafen zogen. Der Hafen von Zons war sehr belebt, denn alle Waren, die ein Schiff bei seiner Fahrt rheinaufwärts oder rheinabwärts in Zons ein- oder auslud, waren zollfrei.

Bastian lief zum Rand des Hafenbeckens und blieb abrupt stehen. Gilig Ückerhoven, der Bucklige, schleppte einen großen Sack auf seinem Rücken. Schnell duckte Bastian sich hinter einem Mauervorsprung. Er wollte wissen, was Gilig diesmal für Botengänge verrichtete. Beim letzten Mal war ihm der Bruderälteste, Reinhard Nolden, zuvorgekommen und hatte den Buckligen geschickt vor weiteren Befragungen durch die Stadtwache bewahrt. Diesmal würde Bastian sich nicht so einfach abschütteln lassen. Für einen Moment bedauerte er, dass Wernhart nicht an seiner Seite war. Er war ein treuer und zuverlässiger Freund, mit dem Bastian schon einige brenzlige Situationen überstanden hatte.

Schwer atmend setzte der Bucklige den Sack auf dem flachen Schiffsdeck ab. Ein kräftiger Schiffsjunge zog die Last weiter und ließ sie durch eine Luke unter Deck fallen. Gilig wechselte ein paar Worte mit dem Schiffsjungen und tätschelte dabei auf eine merkwürdige Art seine Schulter. Der Junge grinste und nahm etwas, das wie eine Münze aussah, aus Giligs Hand. Dann blickte er sich prüfend um und verließ gemeinsam mit Gilig das Schiff.

Sicher sind die beiden auf dem Weg in die nächste Hafenkneipe, dachte Bastian. Das war seine Gelegenheit. Bastian beobachtete das Schiff noch einige Minuten lang, um sich zu überzeugen, dass niemand mehr an Bord war. Als er sich dessen sicher war, lief er zum Schiff hinüber und sprang mit einem einzigen Satz auf das Deck. Der Kahn schwankte leicht von seinem Gewicht, doch Bastian ließ sich nicht beirren. Schnell verschwand er in der Luke, durch die der Schiffsjunge den Sack geworfen hatte.

Unten angekommen, stieg ihm der Geruch von Metall und Ruß in die Nase. Es stank nicht nach Fisch oder Seetang, wie Bastian es von einem Schiff erwartet hätte; es roch wie in einer Schmiede. Bastian blickte sich um. Er hatte sich durch die obere Öffnung in den Schiffsrumpf fallen lassen und kniete genau auf dem Sack, den Gilig vor ein paar Minuten noch auf seinem Buckel getragen hatte. Mindestens zehn weitere Säcke konnte Bastian zählen. Der Lagerraum war nicht besonders groß. Zwei weitere Türen zur rechten und linken Seite ließen ihn auf weitere Laderäume schließen. Hastig zog Bastian ein kleines Messer unter seinem Wams hervor und schnitt den Sack an der Naht auf. Er war vorsichtig und beließ es bei einem unauffälligen kleinen Loch. Bastian zwängte seine Finger hindurch und tastete blind hinein. Er fühlte kaltes Metall. Das mussten Münzen sein. Zügig ließ er eine Münze zwischen seine Finger gleiten und zog sie vorsichtig heraus. Er traute seinen Augen nicht.

Es war eine Goldmünze. Der stehende Petrus entsprach genau dem Abbild, welches Bastian auf der Münze des ermordeten Schmiedes gesehen hatte. Abermals langte er in den Sack und holte noch weitere Geldstücke heraus. Sie waren alle aus Gold und hatten dieselbe unleserliche Inschrift. Bastian verstaute die Münzen in einem Lederbeutel unter seinem Wams und wollte sich gerade an der Luke nach oben ziehen, als er Schritte vernahm. Konnte der Schiffsjunge schon zurück sein? Nein, instinktiv schüttelte Bastian den Kopf. In so kurzer Zeit hätte er unmöglich eine Schenke besuchen können. Bastians Herz begann zu rasen. Dort oben liefen mehrere Männer auf dem Deck herum. Wenn er nicht entdeckt werden wollte, musste er sich schnell etwas einfallen lassen.

 

 

...

 

 

August kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen. Die Schenke war randvoll. Seine Stiefmutter Martha schuftete schon seit Stunden in der Küche und kam mit dem Essen kaum hinterher. Dicke Rauchschwaden machten das Atmen schwer und trieben August die Schweißperlen auf die Stirn. Sein Bruder Christan bediente gerade zwei betrunkene Treidelknechte, die heute ihren Lohn bekommen hatten. Sie hatten nichts Besseres zu tun, als das magere Einkommen direkt zu versaufen. August kannte die beiden, denn sie kamen jede Woche hierher. Einer von ihnen hatte es einmal gewagt, Martha schöne Augen zu machen, doch nachdem August ihn zur Rede gestellt hatte, war ihm das Schäkern vergangen. Trotzdem hatte August ein Auge auf ihn.

In der hinteren Ecke der Hafenschenke saß Gilig mit einem kräftigen jungen Burschen. Christan brachte den beiden frisches Met. Als er die beiden Krüge auf der hölzernen Tischplatte absetzte, tätschelte Gilig ihm den Hintern. August nahm diese Geste aus den Augenwinkeln wahr. Ihm stockte der Atem. Was fiel diesem Buckligen ein! Christan sprang entsetzt einen Schritt zurück, stolperte über ein Stuhlbein und fiel krachend zu Boden. Gilig war auf der Stelle über ihm und wollte ihm aufhelfen. Dabei fuhr sein lüsterner Blick einmal von oben bis unten über Christans Körper.

Rasende Wut stieg in August auf. Mit einem Satz war er bei seinem Bruder und stieß Gilig brutal zur Seite. Er half Christan auf und schickte ihn zurück in die Küche, dann drehte er sich mit starrem Gesicht zu Gilig herum. Dieser sah ihn aus angsterfüllten Augen an, die immer größer zu werden schienen, als August mit aller Kraft die Kehle des Buckligen zuzudrücken begann. Verzweifelt schlug Gilig um sich. Speichel troff aus dem aufgerissenen Mund und die Augäpfel drohten aus den Höhlen zu quellen, doch August ließ nicht von ihm ab. Eine unbändige Wut loderte in seinem Inneren. Er wollte diesen geifernden Kerl ein für alle Mal tot sehen.

»August!« Ein schriller Schrei holte August in die Gegenwart zurück. Martha trommelte mit beiden Fäusten auf den Rücken ihres Stiefsohnes ein.

»Lass ihn los oder willst du dich unglücklich machen?«

August ließ von Gilig ab und zischte: »Wenn Ihr Euch noch einmal an meinen Bruder heranmacht, töte ich Euch! Verstanden?«

Gilig, der aus Mund und Nase blutete, nickte apathisch. Ohne ein weiteres Wort warf er ein paar Weißpfennige auf den Tisch und humpelte aus der Schenke.

Aufgebracht blickte August ihm nach. Ein einziger Gedanke spukte in seinem Kopf herum. Mit dir bin ich noch nicht fertig, Gilig Ückerhoven! Warte ab!

 

 

...

 

 

Bastian lauschte angestrengt. Die Schritte, die er gerade noch über sich an Deck des Schiffes gehört hatte, waren verhallt. Wo waren die Männer hin? Ein kratzendes Geräusch gab ihm die Antwort. Ein schwerer Gegenstand wurde über die Holzplanken geschoben. Bastian blickte nach oben durch die Luke und konnte den Rand einer großen Truhe erkennen.

»Wie viele Säcke sind es?«, fragte eine raue Männerstimme.

»Drei von jeder Sorte. Hast du die vereinbarten Weißpfennige bekommen?« Bastian konnte keine Antwort hören, stattdessen fragte die Stimme weiter: »Was ist mit dem Sohn des Schmiedes? Macht er jetzt mit oder muss ich einen neuen Münzmeister besorgen?«

»Er denkt noch nach und hat sich bis Ende dieser Woche Zeit für eine Antwort erbeten.«

»Er muss schneller nachdenken, wir legen morgen früh ab. Lasst uns zu ihm gehen. Der Kerl ist ein Mann, kein Weib! Er sollte sich entscheiden können.«

Die Stimmen entfernten sich. Bastian atmete tief durch. Sie wollten also zu Jakob Honrath. Bastian blickte sich im Lagerraum um. Zuerst wollte er einen Sack mit der anderen Sorte von Münzen finden. Pfarrer Johannes kannte einen münzkundigen Mönch aus dem Kloster Brauweiler, der ihm sicher weiterhelfen konnte. Abermals holte er sein Messer unter dem Wams hervor und schnitt wahllos in einen der übrigen Säcke. Er enthielt weitere Goldmünzen. Der nächste Sack brachte Silbermünzen zutage. Bastian steckte ein paar davon in seinen Lederbeutel.

Dann zog Bastian sich an der Luke nach oben und lief über das Schiffsdeck zurück zum Schlossplatz. Jakob Honrath wohnte direkt neben der Schmiede. Die beiden Männer konnten demnach nicht weit sein. Bastian blieb vor dem Wohnhaus stehen und lauschte. Stille. Er klopfte an die Tür und wartete. Nichts.

Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Hatte er sich verhört? Sie sprachen doch von Jakob Honrath, dem Sohn des Schmiedes. Bastian klopfte erneut, doch niemand öffnete. Er versuchte es in der Schmiede, die direkt an das Wohnhaus angrenzte und seit dem Tod von Matthias Honrath stillstand. Die Werkstatt war menschenleer, nur der Geruch von kaltem Ruß lag in der Luft und zeugte von früherer Betriebsamkeit in diesem Haus. Nachdenklich verließ Bastian die Schmiede und fragte das Nachbarsweib nach Jakob. Weder Jakob Honrath noch andere Männer seien in der letzten Stunde vor der Schmiede oder im Wohnhaus gewesen, gab die Frau Auskunft. Seit dem Tod des alten Schmiedes läge eine unheimliche Stille über dieser Stätte, klagte sie.

Bastian spürte, dass es sinnlos war, noch weiter nach den Männern zu suchen. Dennoch ging er in die nächste Schenke und hielt nach den Männern Ausschau. Er fragte den Wirt und ein paar Trunkenbolde, doch niemand hatte etwas gesehen. Der Wirt behauptete sogar, dass der Sohn des Schmiedes seit dem Tod seines Vaters spurlos verschwunden sei.

Bastian ließ es bei seiner Suche bewenden und lenkte seine Schritte in Richtung der St. Martinus Kirche. Um Jakob Honrath und die Männer vom Schiff würde er sich später kümmern. Notfalls hatte er immer noch Gilig, den er befragen konnte. Diesmal würde er die Wahrheit aus ihm herausquetschen. Doch erst einmal wollte Bastian wissen, ob die gefundenen Münzen tatsächlich eine Fälschung waren. Pfarrer Johannes konnte ihm bestimmt weiterhelfen. Seit jeher kamen alle Pfarrer der St. Martinus Kirche aus dem Kloster Brauweiler. Dies galt auch für Johannes. Ein alter Freund von ihm, der nach wie vor in diesem Kloster lebte, war ein bekannter Gelehrter, der insbesondere in der Münzkunde bewandert war. Schon als junger Mann hatte er für die Kölner Kaufmannschaft die umlaufenden Münzen auf ihre Echtheit geprüft. Hierzu musste nicht nur die Güte der Prägung bewertet werden, sondern auch die Beschaffenheit des Metalls. Seit Erzbischof Dietrich von Moers im Jahre 1458 seine berüchtigten Münzfälschungen unter das Volk gebracht hatte, wurde ein verstärktes Augenmerk auf die Echtheit von Münzen gelegt. Der Umlauf von minderwertigen Münzen war ein betrügerischer Akt, welcher der Wirtschaft erheblichen Schaden zufügte und der die Glaubwürdigkeit der echten Münzen infrage stellte.

Bastian betrat die Kirche. Pfarrer Johannes war gerade dabei, die Kerzen vom Altar zu löschen. Der alte Mann hatte mittlerweile schwer an seiner Körperfülle zu tragen. Sein Umhang saß straff um Brust und Bauch, seine Füße waren allerdings immer noch flink. Bastian liebte den Pfarrer wie seinen eigenen Vater. Pfarrer Johannes hatte ihn früh Lesen und Schreiben gelehrt und Bastian war dankbar für diese Fähigkeiten. Als sechster und jüngster Sohn des Zonser Müllers wäre er womöglich im Kloster gelandet, wenn Pfarrer Johannes ihn nicht davor bewahrt hätte.

»Pfarrer Johannes, seid gegrüßt!«

Der Geistliche drehte sich lächelnd zu Bastian um. Er war unglaublich stolz auf diesen jungen Mann. Von Anfang an hatte er gewusst, dass Bastian ein kluger und aufrichtiger Junge war. Er begrüßte Bastian mit einer liebevollen Umarmung.

Bastian kramte seinen Lederbeutel mit den Münzen hervor.

»Wo habt Ihr die her, Bastian?« Der Pfarrer runzelte die Stirn und betrachtete die Gold- und Silbermünzen. »Die Prägung der Silbermünzen gleicht jener der Goldmünzen aufs Haar«, stellte er mit rauer Stimme fest. Johannes hielt die Silbermünze ins Licht. »Nun, die Prägung mag gleich sein, aber seht selbst, Bastian. Die Inschrift der Silbermünzen ist tiefer.«

Bastian biss sich auf die Unterlippe und legte eine Silbermünze flach auf seine Hand. »Ihr habt recht, Pfarrer Johannes. Woran kann das liegen? Wurden die Münzen in zwei verschiedenen Münzstätten geprägt?«

»Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht. Eigentlich ist Silber härter als Gold. Die Prägung müsste demnach flacher sein, als die der Goldgulden.« Pfarrer Johannes schüttelte den Kopf. »Lasst uns meinen alten Freund im Kloster Brauweiler befragen. Es ist weniger als einen halben Tagesritt entfernt und ich bin mir sicher, dass Bruder Anselmus auf den ersten Blick erkennt, ob hier Münzfälscher am Werk waren.«

 

 

...

 

 

Lautlos wie eine Katze bewegte sich August hinter der Steinmauer. Er verfolgte den buckligen Gilig nun schon den ganzen Tag und konnte sich auf seine Machenschaften keinen Reim machen. Ständig schleppte Gilig schwere Säcke durch Zons. Manche landeten im Hafen auf einem Schiff, andere wiederum im Haus des Bruderältesten. August knirschte mit den Zähnen. Er spürte unbändigen Hass auf Gilig, der es gewagt hatte, sein eigen Fleisch und Blut unsittlich zu berühren. Am liebsten hätte er ihm bei Nacht in seinem Haus aufgelauert und ihm die Kehle durchgeschnitten. Doch irgendetwas hielt August von seinem Vorhaben ab. Eine innere Stimme gebot ihm Einhalt und beruhigte das Ungeheuer in ihm. Töten konnte er ihn immer noch. Hin und wieder flackerte die Ungeduld wie ein sterbendes Feuer in ihm auf und wollte die Sache zu Ende bringen, doch August ließ sich nicht beirren.

Er verfolgte Gilig zurück zum Krötschenturm. Dabei achtete er darauf, die Parallelgassen zu nutzen, damit der Bucklige ihn nicht entdeckte. Während Gilig entlang der westlichen Stadtmauer durch die Wendelstraße lief, schlich August durch die Hubertusstraße. Sein Tempo hatte er genau an Giligs Schritte angepasst, sodass er ihn in regelmäßigen Abständen durch die kleinen Quergassen, die alle fünfzig Meter kreuzten, beobachten konnte.

Vor einem großen Holzverschlag blieb Gilig stehen und holte abermals einen schweren Leinensack heraus. August musste unbedingt herausfinden, was sich in diesen Säcken befand. Er gab seine Deckung auf und schlich sich bis auf zehn Meter an den Buckligen heran. Dabei duckte er sich in die Hauseingänge der kleinen Lehmhütten, die rund um den Krötschenturm gebaut waren.

Plötzlich legte sich eine alte, knochige Hand auf seinen Arm. Verwirrt über die Berührung, jedoch ohne Furcht, drehte August sich um. Die alte Jonata Heusenstamm blickte ihn aus trüben Augen an und wollte gerade zu einem lauten Schrei ansetzen, doch August legte ihr in einer blitzschnellen Reaktion seine Hand auf den Mund und drängte die Alte mit aller Kraft in ihre Stube hinein.

»Seid still, alte Hexe!«, zischte er wütend. Die Alte störte seinen Plan. Sie hielt ihn davon ab, Gilig zu beobachten. Er überlegte, was er mit ihr anstellen sollte. Sie hatte ihn erkannt und sie war eine Klatschbase. Es gab nur einen Ausweg. Jonata Heusenstamm bäumte sich auf, als sie erkannte, was August vorhatte. Doch es war zwecklos. Seine starken Hände drückten ihren Kehlkopf unbarmherzig zusammen. Ihr Gesicht lief blau an und innerhalb weniger Augenblicke begann ihr Körper unkontrolliert zu zucken.

August wartete ab, bis Jonata schlaff in sich zusammensank. Dann ließ er sie achtlos liegen und begab sich erneut nach draußen, doch Gilig hatte das Lager längst wieder verlassen. Eine Welle des Zorns durchströmte August. Diese alte Hexe hatte alles verdorben! Doch dann hatte August eine neue Idee. Er schlich hinüber zu dem Holzlager und machte sich an der Tür zu schaffen. Geschickt öffnete er das schwere Schloss und trat ein.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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