XV.
Gegenwart
Emily saß entspannt mit Anna im Restaurant - Café »Altes Zollhaus« und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatten sich zwei große Latte macchiato bestellt und blätterten in der Rheinischen Post. Heute Morgen war endlich Emilys erster Teil »Die historischen Morde in Zons: Der Puzzlemörder Teil 1 von Emily Richter« erschienen. Es hatte zwar ganze drei Wochen gedauert, bis ihr Artikel gedruckt wurde, aber es hatte sich gelohnt. Die Hektik um den aktuellen Mord in Zons hatte sich gelegt und Neuigkeiten, sofern es überhaupt welche gab, wurden nur noch auf den hinteren Seiten unter Regionales erwähnt. Emilys Artikel jedoch prangte direkt auf der ersten Seite des Kulturteils. Stolz beobachtete Emily eine Frau am Nachbartisch, die sich mit einer Freundin aufgeregt über den Puzzlemörder unterhielt. Beide waren zum ersten Mal in Zons und wollten die im Artikel beschriebenen Orte nun besichtigen.
»Hast du das Puzzle denn mittlerweile gelöst?«, fragte Anna mitten in Emilys Gedankenwelt hinein.
Emily schüttelte den Kopf. Sie hatte die letzten Seiten von Bastians Notizbuch nicht entziffern können. Es musste irgendwie feucht geworden sein. Jedenfalls war die Tinte ziemlich verschwommen und die ohnehin schwer leserliche, altdeutsche Schrift war so überhaupt nicht mehr zu lesen. Im Internet hatte Emily sich einen Spezialanbieter für die Restauration historischer Schriften herausgesucht. Mit einer speziellen Technik wollten sie die verlaufene Tinte entfernen und anschließend Vergrößerungen der betroffenen Seiten anfertigen. Die Firma versprach, dass nach Anwendung des Spezialverfahrens wieder 80 Prozent des Textes lesbar wären. Die Vergrößerungen müssten eigentlich jeden Tag eintreffen. Emily war schon verdammt gespannt, denn dann würde sie dem Puzzlemörder endgültig auf die Spur kommen. Längst verschüttetes Wissen würde durch ihre Recherchearbeit wieder ans Licht gebracht werden. Ihr Artikel würde zeigen, dass kranke Serienmörder keine Neuerscheinung der modernen amerikanischen Kultur, sondern ein seit Jahrhunderten existierendes Problem auf allen Kontinenten waren. Gut, mit einem einzigen Artikel war diese These sicherlich nicht wissenschaftlich zu unterlegen, doch Emily träumte längst von ihren nächsten Recherchen zu europaweiten Serientätern aus vergangenen Zeiten. Aber einen Schritt nach dem anderen. Zuerst einmal würde sie das Rätsel um den Zonser Puzzlemörder lösen müssen.
...
Oliver Bergmann starrte fasziniert auf den Kulturteil der Rheinischen Post. Eine wunderschöne Frau mit einem geheimnisvollen Lächeln blickte ihn aus großen, braunen Kulleraugen an. Eigentlich hatte er die Zeitung gerade weglegen wollen. Der Kulturteil interessierte ihn meist nie. Doch direkt auf der ersten Seite wurde heute ein Artikel über historische Zonser Morde veröffentlicht. Er lass den Artikel eigentlich nur, um etwas mehr über diese hübsche Frau zu erfahren, doch je mehr er las, je bekannter kam ihm die Geschichte vor. Nachdenklich runzelte Oliver die Stirn. Klaus trat leise hinter ihn.
»Hübsch, die Kleine. Liest du oder starrst du?«, fragte er scherzhaft und knuffte Oliver in die Seite. Dieser lief leicht rot an und legte die Zeitung auf den Tisch.
»Du solltest das auch mal lesen, Klaus. Es erinnert mich ehrlich gesagt irgendwie an die Leiche von Michelle Peters.«
Klaus fing laut an zu lachen und schüttelte den Kopf.
»Na klar, Oliver. Es handelt sich hier ganz sicher um einen Nachahmungstäter und das Erste, was wir tun müssen, ist diese nette Autorin hier auf dem Foto zu interviewen!«
Oliver blickte Klaus an. »Weißt du was. Das ist genau das, was wir heute noch tun sollten!«
»Was wollten Sie beide heute noch tun?«
Erschrocken drehten sie sich um. Hans Steuermark stand hinter ihnen und blickte sie gereizt an. Oliver schaute auf die Uhr. Kurz vor zehn. Eigentlich noch zu früh für Steuermarks üblichen Kontrollgang. Wahrscheinlich hatte er wieder Druck aus dem Innenministerium bekommen, weil sie immer noch keine wirklichen Fortschritte im Fall Michelle Peters gemacht hatten.
Hans Steuermark griff nach dem Artikel auf Olivers Tisch und begann diesen zu lesen.
»Das gibt es ja gar nicht!«, sagte Steuermark nach ein paar Minuten und drückte Klaus den Artikel in die Hand.
»Sie sollten auf ihren Partner hören und das hier mal lesen!«
Klaus blickte irritiert zwischen Oliver und Hans Steuermark hin und her. Dann tat er, wie ihm geheißen und begann den Artikel zu überfliegen.
Tatsächlich wies die Tote aus der Vergangenheit dieselben Merkmale wie Michelle Peters auf. Ihr waren die gleichen Zeichen in die Kopfhaut geritzt worden »1-6-K«. Wie konnte das möglich sein?
»Wir müssen herausfinden, wo diese Informationen veröffentlicht sind und wer alles Zugriff darauf hatte. Wir beginnen mit der Befragung von Emily Richter!«, mit diesen Worten drehte Hans Steuermark sich um und verließ das Büro von Oliver und Klaus.
...
Anna hätte wirklich heulen können. Gerade noch hatte sie unbeschwert und fröhlich mit Emily im Café gesessen und jetzt war alles vorbei! Hätte sie doch bloß nicht ihren Briefkasten geöffnet! Sie hatte gewusst, dass es irgendwann passieren musste. Hatte sich emotional für diesen Moment gewappnet, doch jetzt, wo es so weit war, konnte sie ihre Trauer nicht aufhalten. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie sie mit dieser Postkarte in der Hand lächelnd zum Mülleimer marschiert und damit einen endgültigen Schlussstrich unter ihre Beziehung zu Martin zieht. Diese Postkarte war das letzte Bindeglied zwischen ihnen beiden und innerhalb von ein paar Minuten hätte sie diese Postkarte eigentlich entsorgen sollen. Tausendmal im Geiste ausgeführt, saß sie jetzt hier an ihrem Küchentisch mit dieser Postkarte in den Händen und weinte.
Es war ein Spiel zwischen Martin und ihr gewesen. Jeder schickte dem anderen vom gemeinsamen Urlaubsort mit einer Verzögerung von sechs Monaten eine Postkarte mit Liebesbotschaften zur Erinnerung an die gemeinsamen Urlaubstage. Im Internet hatten sie einen Anbieter gefunden, der die Postkarten mit der gewünschten Verzögerung automatisch verschickte.
Diese Karte hier stammte aus Portugal. Noch vor sechs Monaten hatten sie dort verliebt eine Rundreise gemacht und sich an der herrlichen Steilküste der Algarve gesonnt. Sie liebte die sonnigen, südlichen Länder und auch Martin war ein Fan dieser Urlaube gewesen. Zu diesem Zeitpunkt wäre Anna nicht im Traum darauf gekommen, dass Martin nicht mehr lange Teil ihres Lebens sein würde. Fest hatte sie darauf gebaut, in ihm den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Doch sie irrte sich mächtig. Martin war ihr mit Christopher davon gelaufen. Nie hätte sie auch nur im Traum daran gedacht, dass er schwul sein könnte. Sie hatten häufig tollen Sex und Anna hätte seinerzeit schwören können, dass auch Martin Riesenspaß dabei hatte. Doch offensichtlich hatte sie sich total getäuscht. Der Mann, den sie zu kennen glaubte, hatte noch ein weiteres Gesicht, welches er die letzten fünf Jahre perfekt vor ihr verborgen hatte.
Eine Welle der Liebe überwältigte sie, als sie weiter auf die Postkarte starrte und seine liebevollen Worte las. Wie konnte das nur alles gelogen sein? Wie hatte er ihr so lange etwas vorspielen können? Warum war er überhaupt so lange mit ihr zusammen gewesen, wenn er doch auf Männer stand? Sie konnte es nicht nachvollziehen und sie würde es auch nie verstehen. In den letzten Wochen hatte sie eigentlich geglaubt, darüber hinweg zu sein. Es gelang ihr immer besser, den vielen Fragen, die ständig in ihrem Kopf herumgeisterten und nach Antworten suchten, Einhalt zu gebieten. Es hatte ganze Wochen gegeben, in denen sie nicht eine Sekunde lang an Martin denken musste, doch diese Postkarte hier hatte sie mit Gewalt wieder in ihre alte Welt zurückgeholt. Der Schmerz brach aus ihr heraus und große Tränen kullerten über ihr Gesicht. Dass Martin sich auch gar nicht mehr meldete! Erst hatte sie den Abstand gut gefunden. So konnte sie ihn am besten aus ihren Gedanken verbannen. Aber dass sie jetzt seit drei Monaten völlige Kontaktpause hatten, irritierte sie. Zumindest hielt sie Martin für so höflich, dass er sich in Abständen nach ihrem Wohlbefinden erkundigen würde. Aber offensichtlich war seine neue Welt gemeinsam mit Christopher in Berlin so spannend, dass er sie komplett vergessen hatte. Ob er auch ihre Karte in diesem Moment in seinen Händen hielt? Würde er sehnsüchtig an ihre gemeinsame Zeit zurückdenken? Würde er wenigstens den Hauch eines Bedauerns für seine Entscheidung spüren?
Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Es ging sofort die Mailbox dran. Entweder steckte er in einem Funkloch oder sein Akku war mal wieder leer. Enttäuscht und zugleich erleichtert legte Anna auf.
...
Oliver Bergmann rieb sich nervös seine feuchten Hände an seiner Jeans ab. Er stand in Köln Lindenthal vor einem riesigen Hochhaus. Das Studentenwohnheim lag sehr zentral in der Nähe der Universität und wirkte wie ein Taubenschlag. Trotz der eisigen Temperaturen im Januar öffnete und schloss sich die Haustür permanent. Junge, lachende Studenten gingen im Sekundentakt ein und aus. Angestrengt suchte Oliver auf den vielen Klingelschildern nach dem Namen »Emily Richter«. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, musste er wieder ein kleines Stückchen zur Seite rutschen und verlor die Konzen-tration. Als er zum vierten Mal von vorne anfing, die kleinen, mit verblassendem Toner bedruckten Klingelschildchen zu lesen, wurde er endlich fündig. Er atmete einmal tief durch und drückte dann entschlossen auf die Klingel. Eine krächzende Frauenstimme ertönte aus dem Lautsprecher über den Klingelschildern.
»Hallo, wer ist denn da?«
»Hier ist Oliver Bergmann von der Kriminalpolizei Neuss. Wir hatten vorhin telefoniert.«
»Richtig, kommen Sie doch bitte hoch!«, mit diesen Worten ertönte der Summer und Oliver drückte die Tür mit einem kräftigen Schwung auf.
Emily Richter wohnte in der sechsten Etage und Oliver kam trotz der kalten Außentemperaturen ein wenig ins Schwitzen. Oben angekommen begrüßte er Emily mit einem höflichen Lächeln und folgte ihr in das kleine Studentenappartement.
Auf dem Schreibtisch in der Ecke lagen in mehreren Stapeln verschiedene Papierhaufen verteilt. Der Rest des Zimmers sah sehr ordentlich und aufgeräumt aus. Emily folgte Olivers Blick und entschuldigte sich kurz für das Chaos auf ihrem Schreibtisch.
»Wissen Sie, ich plane insgesamt drei Teile über die historischen Zonser Morde zu schreiben. Für jeden Mord schreibe ich einen eigenen Teil und ich habe das Puzzle, für das der Mörder von damals berühmt war, immer noch nicht endgültig gelöst. Deshalb lasse ich alles so liegen, wie es ist, damit ich schnell in den Unterlagen suchen und lesen kann, falls mir etwas einfällt.«
Oliver lächelte.
»Kein Problem. Bei uns im Revier sieht es auch so aus, wenn wir einen Fall recherchieren. Natürlich haben wir noch riesige Pinnwände. Aber alles was irgendwie zusammengehört, wird auf einen Haufen gelegt.«
»Oh«, erwiderte Emily und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Tee vielleicht?«
»Gerne, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Emily verschwand kurz in der Küche, tauchte aber sogleich mit einem Tablett in den Händen wieder auf. Offensichtlich hatte sie den Tee schon für seine Ankunft vorbereitet. Oliver freute sich innerlich über so viel Aufmerksamkeit.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Bergmann?«, fragte Emily, während sie vorsichtig den duftenden Earl Grey in seine Tasse einschenkte.
»Ich wollte Sie zu Ihrer Reportage befragen. Es gibt dort einige Details, die in Zusammenhang mit dem aktuellen Mord in Zons stehen könnten.«
Oliver biss sich auf die Zunge. So sympathisch ihm diese hübsche, junge Frau auch war, so durfte er jetzt jedoch nicht die Nerven verlieren und ihr womöglich noch geheime Details zum Mord an Michelle Peters erzählen. In der Öffentlichkeit waren bisher lediglich der Name des Opfers und die Todesursache bekannt. Über die abgeschorenen Haare und die eingeritzten Zeichen in der Kopfhaut des Opfers wussten nur die eingeweihten Mitglieder der Kriminalkommission Bescheid.
Er erklärte ihr kurz den Hintergrund seiner Befragung. Beide Opfer waren, wenn auch mit fünfhundert Jahren Zeitunterschied, am Wehrturm des Schlossplatzes in Zons aufgehängt worden. Oliver wollte von Emily wissen, wo genau sie für ihre Reportage recherchiert hatte. Emily zeigte ihm ihre gesamten Unterlagen und erzählte ihm von ihrem Besuch im Kreisarchiv. Das Archiv an der Schlossstraße 1 in Zons würde seine nächste Anlaufstelle werden. Es war sehr wahrscheinlich, dass der Mörder von Michelle Peters die Unterlagen aus diesem Archiv hatte. Zumindest befanden sich laut Emilys Aussage nur dort Beschreibungen und Skizzen zum Leichenfund. Ein Blick in das uralte Notizbuch von Bastian Mühlenberg hatte Oliver genügt, um zu wissen, dass die Zeichen auf Michelle Peters Schädel exakt denen auf Elisabeth Kreuzers Kopfhaut glichen. Sogar die Anordnung der Zeichen war hundertprozentig kopiert worden.
Sein Instinkt hatte ihn nicht im Stich gelassen, als er noch heute Morgen erstaunt die Reportage von Emily Richter in der Rheinischen Post gelesen hatte. Es handelte sich offensichtlich um einen Nachahmungstäter.
Fürs Erste hatte Oliver genug erfahren. Er erhob sich aus seinem Stuhl und bedankte sich mit einem Händedruck bei Emily.
»Ich schicke Ihnen nachher noch Kollegen vorbei, die ihre Unterlagen kopieren.«
Emily öffnete ihm die Wohnungstür, nickte dabei aufmerksam mit ihrem Kopf und blickte Oliver aus großen, braunen Augen an. Sein Herz machte einen Satz. Er hatte es bereits geahnt, als er ihr Foto zum ersten Mal in der Rheinischen Post betrachtet hatte. Er hatte sich augenblicklich in Emily Richter verliebt.
...
Oliver saß wieder an seinem Schreibtisch und blickte auf den großen Umschlag in seinen Händen. Endlich lag ihm der Laborbericht mit den Ergebnissen der an Michelle Peters Leiche sichergestellten Fasern vor. Er öffnete gespannt den Briefumschlag und begann zu lesen. Insgesamt gab es im Bericht keine Auffälligkeiten, nur eine Sache machte Oliver stutzig. Die Faserspuren am Leinentuch, in welches die Leiche eingewickelt war, wiesen Faserspuren auf, die typischerweise aus dem Sitzpolster eines Ford Mondeo stammten. Das Labor wies aus, dass es sich um ein Ford Mondeo Modell der Baureihen 2000-2003 handeln musste. Oliver kratzte sich am Kopf und blickte vom Schreibtisch auf. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendwo in seinem Hinterkopf schellte eine Alarmglocke. Fast automatisch glitt seine linke Hand in sein Sideboard und holte die Akte »Waldleiche« hervor. Interessant! Das von Zeugen beobachtete Fluchtfahrzeug war ebenfalls ein Ford Mondeo! Auch hier wies der Laborbericht dieselben Faserspuren auf. Zumindest stammten die Faserspuren aus derselben Baureihe. Oliver nahm den Telefonhörer in die Hand und rief das Labor an. Er beauftragte das Labor damit, zu untersuchen, ob die gefundenen Faserspuren im Fall »Waldleiche« mit denen vom Fall »Michelle Peters« identisch waren. Sollte es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Waldleiche und der Toten aus Zons geben?