XV.
Gegenwart
Anna sah den zusammengeschlagenen Mann, der an Armen und Beinen angekettet war. Ein zweiter Mann stand vor ihm und schlitzte dem Gefangenen die Kleider auf. Seine Stimme dröhnte durch das finstere Labyrinth unter Zons. Anna träumte. Ihre Haare klebten schweißnass am Kopf und sie wälzte sich unentwegt im Bett hin und her. Plötzlich war Anna alleine mit dem gefesselten Mann in der Dunkelheit gefangen. Sie hielt verzweifelt Ausschau nach Bastian Mühlenberg, der sie schon einmal aus diesem Labyrinth gerettet hatte. Sie hatte Angst, zu sterben, falls der dunkle Mann zurückkehrte und sie immer noch dort unten gefangen war. In ihrer Verzweiflung sog sie heftig Sauerstoff in ihre Lungen ein, die in dem fauligen, stinkenden Gewölbe nahezu implodierten. Sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Der üble Gestank schnitt wie ein scharfes Messer in ihre Atemwege und der Sauerstoffmangel ließ Anna taumeln. Ehe sie sich versah, sank sie schwindelig vor dem anderen Mann zu Boden. Ihr Bewusstsein löste sich und kreiste an der Gewölbedecke. Mit einem Mal konnte Anna sich selbst von oben sehen. Fassungslos betrachtete sie ihren krampfenden Körper, der sich im Todeskampf wand. Immer wieder öffnete sie den Mund und wollte Luft holen, doch es drang kein Sauerstoff mehr in ihre Lungen ein. Ihr Herz pumpte mit donnernden Schlägen das Blut durch den Körper, der langsam aber sicher zu ersticken drohte. Ihr Geist flog immer höher, und gerade als er sich endgültig von ihrem Körper lösen wollte, hallten Schritte durch das dunkle Gemäuer. Im letzten Augenblick sah sie einen blonden Haarschopf, der sich durch die Dunkelheit kämpfte und auf sie zustürzte. Ihr Retter richtete den Kopf nach oben und blickte sie aus einem Gesicht an, das Bastian Mühlenberg zum Verwechseln ähnlich sah. Doch er war es nicht. Anna stieß einen erstickten Schrei aus und wachte schweißgebadet auf.
...
»Wiederhole das bitte noch einmal.« Oliver konnte es nicht fassen. Sein Partner Klaus stand mit dem Handy in der Hand vor ihm und hob die Augenbrauen an.
»Saskia Heinermann wurde vor zehn Minuten vor der alten Fabrikhalle beobachtet, in der wir den ermordeten Peter Groehn gefunden haben.«
»Verdammt Klaus, hättest du nicht gestern mit dieser Neuigkeit kommen können?« Oliver bückte sich und hob die Tageszeitung auf, die er gerade wütend auf den Boden geworfen hatte. Ohne ein weiteres Wort legte er sie auf den Schreibtisch und nahm einen gelben Textmarker in die Hand. Mit einem großen Kringel markierte den kurzen Artikel, der von einer grausam zugerichteten Leiche im Industriegebiet berichtete, und tippte mit dem Finger darauf.
Klaus runzelte die Stirn und überflog die Zeilen.
»Das gibt es doch gar nicht. Wie kommt dieser Artikel in die Presse?«
»Das wüsste ich auch gerne.« Olivers Lippen hatten sich zu zwei dünnen Strichen verzogen. Er war stinksauer und konnte seine Gefühle kaum im Zaum halten. Am liebsten hätte er laut geschrien oder irgendetwas zerstört. Ohne den Artikel in der Zeitung hätten sie jetzt eine echte Verdächtige. Aber so konnte Saskia Heinermanns Auftauchen auch ein bloßer Zufall sein. Das Industriegebiet war nicht besonders groß und nach Erscheinen des Zeitungsartikels würden sich bestimmt noch weitere Schaulustige einfinden, die einen Blick auf die Industriehalle werfen wollten. Die langen Absperrbänder der Polizei, die schon von weitem sichtbar waren, erleichterten jedem Neugierigen die Suche nach dem Fundort.
»Wissen wir, ob sich noch andere Schaulustige an der Halle herumgetrieben haben?«
Klaus, der immer noch sein Handy ans Ohr hielt, wiederholte die Frage, damit der Mitarbeiter des Observierungsteams sie verstehen konnte. Nach ein paar Sekunden antwortete er: »Nein, es wurden keine weiteren Personen vor der Halle gesichtet.«
Klaus legte auf und fügte hinzu: »Sie sind allerdings auch längst weitergefahren und setzen die Observierung von Saskia Heinermann fort. An der Fabrikhalle ist sie kurz aus ihrem Wagen ausgestiegen, bis zum Eingang gelaufen und hat dann kehrt gemacht. Gerade in diesem Moment holt sie ihren Sohn aus dem Kindergarten ab. Sollen wir den Fundort von einer Streife bewachen lassen?«
Oliver runzelte die Stirn. Es war unwahrscheinlich, dass der Mörder dort noch einmal auftauchen würde. Er hatte keinen konkreten Anlass und war sich unsicher, ob Hans Steuermark eine derart aufwendige Überwachung freigeben würde. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
»Nein, das macht keinen Sinn. Wir müssen uns auf das Umfeld von Saskia Heinermann konzentrieren. Ich habe gerade eine E-Mail von unserem Rechercheteam erhalten. Wir sollten uns den Sachstand kurz berichten lassen.«
...
Anna war spät dran. Sie hatte einen wichtigen Kundentermin, den sie auf keinen Fall verpassen durfte. Müde rieb sie sich die Augen und schluckte hektisch ihren Morgenkaffee hinunter. Die Nacht war eine einzige Katastrophe gewesen und sie fühlte sich wie gerädert. Noch immer hatte sie einen faulen, muffigen Geschmack im Mund, der auch nach dem Zähneputzen nicht verschwinden wollte. Der Gestank des Labyrinths aus ihrem Traum jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie konnte sich ihre Träume oder vielmehr Albträume in der letzten Zeit nicht erklären. Sie hatte in der Düsseldorfer Bank, in der sie seit einigen Jahren arbeitete, momentan nicht sehr viel Stress. Der hohe Arbeitsaufwand, der immer zum Jahresanfang anfiel, war geschafft, und sie steuerten auf das Sommerloch zu, welches noch mehr Ruhe versprach. Es gab nur zwei Punkte auf Annas Agenda, die ihr Sorgen bereiteten. Der erste war Bastian Mühlenberg, der auf merkwürdige Art und Weise aus ihren Träumen verschwunden war. Der zweite Punkt hieß Pascal Heinermann. Ihr wurde schon übel, wenn sie nur an seinen Namen dachte. Immer dann, wenn Anna mit Emily sprechen oder sich mit ihr treffen wollte, funkte Pascal dazwischen. Er hatte in den letzten Tagen mehrere Ausarbeitungen über mittelalterliche Heilkunst, Schmerzmittel und die Herstellung von Rauschgiften entworfen und Emily war beinahe euphorisch. Sie traf sich jeden Tag mit Pascal und hatte kein anderes Thema mehr als ihren neuen Artikel, der in den nächsten Wochen in der Rheinischen Post erscheinen sollte.
Anna fühlte sich ausgeschlossen. Was jedoch viel schwerer wog, war das schlechte Bauchgefühl, das Pascal bei ihr hinterließ. Sie ahnte, dass er nicht ehrlich war und sie wollte nicht, dass Emily so viel Zeit mit diesem Taugenichts verbrachte. Die Distanz, die in den letzten Tagen zwischen ihr und Emily entstanden war, hinterließ einen bitteren Beigeschmack auf ihrer Zunge. Anna empfand Einsamkeit. Selbst nachts gelang es ihr nicht mehr, sich in eine heile Welt zu flüchten.
Es klingelte an der Tür und sie schrak zusammen. Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihr weniger als zehn Minuten Zeit bis zum Aufbruch blieben. Danach würde sie zu spät kommen und das konnte sie sich nicht erlauben. Genervt spähte sie durch den Türspion. Ihr Magen verkrampfte sich unwillkürlich, als sie den Besucher erkannte, der lässig am Türrahmen lehnte. Sie riss die Tür auf und funkelte Pascal Heinermann wütend an.
»Was willst du hier?«, platzte sie ohne Begrüßung heraus.
Pascal senkte unterwürfig den Kopf und schenkte ihr dann ein charmantes Lächeln.
»Hör mal Anna, ich wollte mich bei dir entschuldigen.«
»Entschuldigen?« Anna war baff. »Warum solltest du dich bei mir entschuldigen?«
»Naja, ich glaube, wir hatten keinen guten Start und das wollte ich wieder gut machen.«
In Annas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Eine rote Alarmlampe leuchtete auf.
»Woher hast du überhaupt meine Adresse?«
Er zuckte mit den Schultern. »Steht im Telefonbuch.«
Anna schwieg. Er hatte recht, ihre Adresse stand im Telefonbuch.
»Hör zu. Ich weiß, dass du mich in schlechter Erinnerung hast, weil ich mir ab und an Geld von meiner Schwester geliehen habe.« Er grinste schief. »Du bist Bankerin und da kommt so etwas verständlicherweise nicht gut an. Naja ...«
Er zögerte, als müsse er über den nächsten Satz erst nachdenken. »Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich Emily nicht um Geld bitten werde. Ich komme alleine gut zurecht und will ihr wirklich nur helfen.« Er schluckte und sein Adamsapfel bewegte sich ruckartig nach unten. »Ich möchte mein Leben langsam auf festen Grund stellen. Bin ja nicht mehr der Jüngste und die Reportagen machen mir wirklich viel Spaß. Ich könnte mir gut vorstellen, öfter mal Artikel zu schreiben oder Recherchearbeiten zu erledigen. Du weißt schon ...« Er hielt inne und blickte Anna an. Doch die schwieg weiterhin.
»Also Emily merkt, dass du von unserer Zusammenarbeit nicht besonders begeistert bist und ich habe das Gefühl, es belastet sie. Vielleicht kannst du mir einfach eine Chance geben?« Pascal senkte den Blick und schwieg jetzt ebenfalls. In Annas Kopf wirbelten die Gedanken. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Alles, was sie fühlte, war tiefes Misstrauen. Pascals Worte waren nett gewählt, doch letztendlich war er wahrscheinlich nur hier, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Sie blickte auf die Uhr. Ihr blieben noch zwei Minuten. Sie starrte Pascal an, der immer noch den Kopf gesenkt hielt. So, wie er dort stand, wirkte er wie ein reumütiger kleiner Junge. Annas Herz machte einen Sprung, doch ihr Verstand blieb hart.
»Hör zu, Pascal. Es tut mir leid. Ich muss jetzt wirklich los. Ich verstehe, was du mir sagen willst und ich weiß das ehrlich zu schätzen. Vielleicht reden wir ein anderes Mal weiter.« Sie ließ die Tür offen stehen und ging in den Flur. Dort schnappte sie sich ihre Handtasche und einen leichten Mantel. Mit ein paar Schritten war sie bei ihren High Heels angekommen. Elegant schlüpfte sie hinein, warf einen letzten Blick in den Spiegel, der über einer kleinen Kommode im Flur hing und ging dann an Pascal vorbei aus der Tür. Pascal hatte sich nicht gerührt. Anna klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter, zog die Wohnungstür zu und lief hastig die Treppe hinab.
...
Das Büro des Rechercheteams befand sich eine Etage über den Büros der Kriminalkommissare. Es war ein lautes Großraumbüro mit hässlichen Neonleuchten an der Decke und vergilbten Wänden. Der Teppichboden war alt und abgewetzt, doch auch im neuen Zustand hätte die dunkelgraue Farbe des Bodenbelages nicht viel mehr Charme verströmen können. Die Schreibtische bestanden nicht aus Holz, sondern aus einem beigefarbenen Plastikwerkstoff und die Tischbeine waren einfache, unlackierte Metallrohre, die sich kaum vom Grau des Bodens abhoben. Jeder Tisch war mit einem Bildschirm ausgerüstet. Auch die PCs und die restliche Ausstattung entsprachen dem neuesten Stand der Technik.
Als Oliver und Klaus eintraten, sank der Geräuschpegel. Ein älterer Mitarbeiter namens Rolf Zielke erhob sich und bot den beiden einen Platz auf zwei leeren Stühlen an.
»Setzen Sie sich doch. Ich habe schon alles vorbereitet.« Der Mann rückte seine Brille zurecht und wühlte anschließend in den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch herum. Als er die richtigen Unterlagen gefunden hatte, nahm er ebenfalls Platz.
»Wir haben das Umfeld von Saskia Heinermann durchleuchtet. Ich nehme an, die persönlichen Fakten sind Ihnen bekannt?« Rolf Zielke blickte fragend in die Runde.
Oliver nickte. »Ja, die sind uns bekannt. Es handelt sich um eine fünfundzwanzig Jahre alte Frau mit einem Sohn namens Nils. Saskia Heinermann lebt in Zons, in der Deichstraße, und arbeitet als Kellnerin im ›Alten Zollhaus‹. Sie ist ca. 1,80 Meter groß und kräftig gebaut.«
»Das ist richtig. Ich habe noch weitere Details recherchiert. Sie hat einen drei Jahre älteren Stiefbruder namens Pascal. Er wurde von der Familie adoptiert, als Saskia fünf Jahre alt war. Der Vater, Wolfgang Heinermann, ist der Inhaber einer bekannten mittelständischen Firmengruppe, die chemische Grundstoffe für die Pharmaindustrie herstellt. Er hat die Firma von seinem Vater geerbt und klein angefangen. Innerhalb von nur zehn Jahren hat er ein ganzes Firmenimperium aufgebaut.« Zielke machte eine Pause und blätterte durch die Unterlagen.
»Ich habe mich erkundigt. Saskia Heinermann ist die designierte Nachfolgerin für die Firmengruppe. Bisher gibt es jedoch keine Pläne, wann Wolfgang Heinermann die Firma übergeben wird. Er ist jetzt fünfundsechzig Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit. Die Mutter starb übrigens vor zehn Jahren an Krebs. Es gab noch einen Großvater väterlicherseits, der im Haus der Heinermanns lebte. Er ist vor drei Jahren verstorben.«
Erneut unterbrach Rolf Zielke seine Ausführungen und zog ein weiteres Blatt aus seinem Stapel. Er überflog die Seite und fuhr dann fort: »Saskia Heinermann hat einen fünf Jahre alten unehelichen Sohn. Wolfgang Heinermann hat seit der Geburt nur noch selten Kontakt zu seiner Tochter. Eine Angestellte hat mir anvertraut, dass das Kind zu einem Familienzerwürfnis geführt hat. Wolfgang Heinermann ist sehr konservativ und wollte ein unehelich gezeugtes Kind in seiner Familie nicht akzeptieren. Seit dem Bruch schlägt sich Saskia Heinermann ohne große finanzielle Unterstützung von ihrem Vater durch. Sie hat ihr Journalismusstudium früh abgebrochen, danach gab es ein paar Gelegenheitsjobs. Nichts Großartiges. Sie hat keinen festen Freund.« Rolf Zielke beendete seine Ausführungen und blickte in die Runde. Offensichtlich wartete er auf Fragen.
»Haben Sie die Konten von Saskia Heinermann bereits überprüft?«, fragte Oliver prompt.
Zielke verneinte: »Ohne richterlichen Beschluss kommen wir nicht an die Kontobewegungen heran. Ich habe mit ihrem Chef in der Kneipe gesprochen, er behauptet, dass sie immer ziemlich knapp bei Kasse ist und schon des Öfteren nach einem Vorschuss gefragt hat.«
Eine junge Frau erhob sich von ihrem Schreibtisch und steckte Rolf Zielke ein neues Blatt Papier zu. Dieser runzelte die Stirn und überflog die Seite.
»Das Überwachungsteam hat gerade den Bericht fertiggestellt. Wollen Sie ihn haben oder sollen wir die wichtigsten Punkte für sie aufarbeiten?«
Oliver streckte die Hand aus. Er wollte den Bericht selbst lesen. Er bedankte sich bei Zielke und lief gemeinsam mit Klaus zurück in sein Büro. Dort angekommen begann er, den Report zu überfliegen.
Saskia Heinermann brachte ihren Sohn offensichtlich jeden Tag in den Kindergarten. Danach erledigte sie diverse Besorgungen, war dann gegen Mittag wieder zu Hause und verbrachte dort zwei bis drei Stunden. Am frühen Nachmittag holte sie ihren Sohn aus dem Kindergarten ab und zwischen sieben und acht Uhr abends begab sie sich in die Gaststätte »Zum alten Zollhaus«, um ihrem Job als Kellnerin nachzugehen. Die Schicht endete gegen Mitternacht, je nachdem, wie viele Gäste noch anwesend waren. Der Tagesablauf erschien ziemlich eintönig. Es gab nur zwei Punkte, die außerhalb der normalen Routine abliefen und Olivers Aufmerksamkeit erregten. Zum einen fuhr sie zwei bis drei Mal in der Woche in eine Klinik nach Köln. Dort wurde sie von einem gewissen Dr. Neuenhaus behandelt. Zum anderen war sie innerhalb der letzten Tage mehrmals in einen Schrebergarten gefahren, der offenbar ihrem Großvater gehört hatte. Die Uhrzeiten, zu denen sie den Garten aufgesucht hatte, variierten erheblich. Sie hatte sich jedes Mal in das kleine Gartenhäuschen zurückgezogen, ohne einen einzigen Handschlag am Wildwuchs zu tun, der laut Angaben des Observierungsteams im Garten vorherrschte. Oliver runzelte die Stirn und überlegte. Es dauerte eine Weile, bis er seine Gedanken geordnet hatte. Dann sagte er zu Klaus: »Ich will mir dieses Gartenhaus selbst ansehen und wir sollten mit Dr. Neuenhaus über Saskia Heinermann sprechen.«
...
Nervös betrachtete Saskia sich im Spiegel. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren alte Bekannte. Sie griff zur Puderdose und überschminkte die Stellen, so gut es ging. Anschließend versuchte sie, die blonden Haarsträhnen in Form zu bringen, die am Hinterkopf in alle Richtungen abstanden. Mit einer Portion extra starkem Haargel schaffte sie es, die widerspenstigen Strähnen zu bändigen. Sie warf ihrem Spiegelbild einen letzten, prüfenden Blick zu und ging dann zurück ins Wohnzimmer. Ihre Handtasche lag auf dem Tisch, genau wie ihr Handy. Saskia spürte, dass ihr Herz raste. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr Vater sie das letzte Mal angerufen hatte. Und plötzlich, nach all den Monaten, meldete er sich wie aus heiterem Himmel bei ihr und wollte sie sehen. Natürlich sollte sie alleine kommen, ohne Nils. Im ersten Moment war eine Welle des Zorns durch ihren Körper gegangen. Was konnte der Kleine dafür, dass sie nicht mehr mit dem Vater des Kindes zusammen war? Konnte ihr Vater nicht endlich akzeptieren, dass Nils sein einziges Enkelkind war? Es war doch völlig egal, ob er aus einer Ehe oder einer losen Beziehung stammte. Nils war ihr Kind. Genügte das nicht?
Doch eine kindliche Stimme in ihrem Inneren hatte den Zorn unterdrückt. Das kleine Mädchen in ihr wollte seinen Vater sehen. Den Mann, um dessen Zuneigung es sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. Dem es stets hatte gefallen wollen. Für den es Dinge tat, die ihm selbst gar nicht so wichtig waren, die zuweilen sogar langweilten. Dazu gehörten die Klavierstunden oder der Malunterricht. Ein einziges Lächeln ihres Vaters machte Saskia glücklich. Ihr Vater hatte sie vergöttert, als sie noch ein Kind war, doch der Preis dafür war hoch gewesen. Er hatte eine jähzornige Persönlichkeit, und wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging, rastete er regelmäßig aus. Als kleines Mädchen konnte Saskia seine Stimmungsschwankungen nicht gut abschätzen und erntete nur allzu oft Schläge, weil sie die Situation nicht begriff und sich anders verhielt, als es von ihr erwartet wurde. Sie hasste ihn für seine Ungerechtigkeit und umso mehr liebte sie ihn für jede Aufmerksamkeit, die er ihr in guten Zeiten zuteilwerden ließ. Doch seit ihrer ungewollten Schwangerschaft hatte er kein gutes Haar mehr an ihr gelassen. Er hatte verlangt, dass sie das Kind abtrieb. Wochenlang quälte er sie mit Erniedrigungen, die sie dazu bewegen sollten. Als sie Nils trotzdem zur Welt brachte, hörten die Beschimpfungen auf, und ein Schleier des Schweigens breitete sich zwischen ihnen aus. Der Kontakt brach fast vollständig ab, und das hatte Saskia zutiefst verletzt. Sein Anruf ließ ihre Gefühle Achterbahn fahren. Was wollte er nur so plötzlich von ihr?
Saskia ergriff das Handy und ließ es in der Handtasche verschwinden. Wenn sie mehr Vorbereitungszeit gehabt hätte, wäre sie noch schnell in einen Spirituosenladen gefahren und hätte einen guten, rauchigen Whiskey, das Lieblingsgetränk ihres Vaters, gekauft. Aber ihr blieb keine Zeit. Nervös und durcheinander machte sie sich auf den Weg.
...
Alles sah wie immer aus. Das große gusseiserne Tor, das ein bekannter Kunstschmied von Hand gefertigt hatte. Der lange Kiesweg, der durch eine Allee mit alten Eichenbäumen führte und schließlich das Rondell, das mit bunten Blumen bestückt, jedem Besucher ein herzliches und zugleich exquisites Willkommen bereitete. Saskia hielt vor dem Rondell inne und ließ den Anblick auf sich wirken. Es war Jahre her, dass sie zuletzt ihr Zuhause betreten hatte. All die schönen Kindheitserinnerungen strömten mit einem Mal auf sie ein. Ihr wurde warm ums Herz. Im Geist sah sie Pascal als kleinen Jungen quer durch eines der bunten Blumenbeete stürmen. Ihre aufgeregte Mutter verfolgte den Wirbelsturm, darauf bedacht, die zarten Pflänzchen vor den wilden Jungenfüßen zu retten. Saskias Mutter war eine außergewöhnlich schöne Frau mit langen blonden Haaren und großen blauen Augen gewesen. Ihr Vater hatte sie vergöttert, genauso wie er es mit Saskia getan hatte. Als junges Mädchen war sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen. Erst als Nils‘ Vater in Saskias Leben getreten und die Nächte von Alkoholexzessen geprägt waren, wich ihr strahlendes Antlitz einer blassen, abgelebten Erscheinung. Der Alkohol schwemmte nach und nach ihren jugendlichen Körper auf und fast unmerklich überschritt sie die Gewichtsgrenze, die sie von einer zierlichen Schönheit zu einer eher molligen Person werden ließ. Saskia schüttelte die Gedanken ab und fuhr weiter auf das Rondell zu.
Noch bevor sie auf den ihr zugewiesenen Parkplatz zusteuern konnte, öffnete sich die schwere Haustür und ihr Stiefbruder Pascal stürmte mit vor Zorn gerötetem Gesicht die Stufen hinunter. Als er Saskias Wagen erkannte, blieb er abrupt stehen und rannte dann auf sie zu. Saskia kurbelte die Fensterscheibe an der Fahrerseite herunter.
»Hi Saskia, du brauchst dort nicht hineinzugehen. Erspare dir diesen Anblick. Unser alter Herr ist total durchgeknallt.« Pascals Stimme überschlug sich nahezu und Saskia hatte Mühe, ihm zu folgen.
»Was ist denn passiert?«
»Er hat eine Neue.« Der Satz platzte mit einer solchen Wut aus Pascal heraus, dass Saskia der Atem stockte. Verwirrt versuchte sie, den Inhalt seiner Worte zu begreifen.
»Was soll das bedeuten: eine Neue?«
»Ganz einfach. Sobald du durch diese Tür gehst, wird dir die neue Verlobte unseres Vaters entgegenkommen. Sie ist übrigens nur ein paar Jahre älter als du. Die Hochzeit ist in zwei Wochen geplant und nebenbei bemerkt, sie planen auch Nachwuchs. Dein Erbe kannst du dir also weitgehend abschminken!« Pascal war außer sich.
Saskia benötigte einige Sekunden, bis sie seine Neuigkeiten verarbeitet hatte. Deshalb also hatte ihr Vater sie so dringend sprechen wollen - weil die Hochzeit schon in zwei Wochen stattfinden sollte.
»Ist sie nett?« Eine bessere Frage fiel Saskia nicht ein.
»Ob sie nett ist? Spielt das eine Rolle?« Pascal schüttelte entrüstet den Kopf. »Die Frau ist eine Heiratsschwindlerin. Das ist doch ganz klar. Welche junge Frau lässt sich denn auf einen alten Knacker ein, wenn nicht wegen des Geldes. Verdammt Saskia, jetzt denk doch mal nach.« Seine Augen waren weit aufgerissen und kamen immer näher.
»Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis er uns beide enterbt und seine neue Flamme und ihren Nachwuchs ans Steuer lässt«, fügte er hinzu.
In Saskias Kopf schwirrten die Gedanken wie ein wild gewordener Bienenschwarm herum. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Pascal starrte sie wütend an. Er konnte offensichtlich nicht begreifen, warum sie nicht auf der Stelle kehrt machte und ihrem Vater für immer den Rücken zuwandte. Er redete wie verrückt auf sie ein. Doch seine Worte prallten an ihr ab wie Hagelkörner an einer Glasscheibe. Sie blickte auf seinen Mund, der sich mit jedem Wort öffnete und wieder schloss. Seine weißen Zähne blitzten ab und an auf. Manchmal konnte sie auch seine rote Zunge sehen. Sie starrte ihn an und blieb stumm in ihrem Wagen sitzen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie sich die Haustür abermals öffnete und ihr Vater in Begleitung einer blonden Frau, die wie seine Assistentin aussah, herauskam. Die Frau hatte lange, lockige Haare. Ein viel zu kurzes Kleid schmiegte sich eng an ihre Hüften und das Gesicht war auffällig geschminkt. Die roten Lippen erinnerten Saskia an den Clown aus Stephen Kings Horrorfilm »Es«. Saskia drehte den Kopf weg. Sie befürchtete, dass die Frau ihre Lippen öffnen und sie die spitzen Wolfszähne erblicken würde, die sie schon im Kino in Angst und Schrecken versetzt hatten. Sie hörte, wie ihr Vater ihren Namen rief. Doch sie konnte ihn nicht ansehen, weil neben ihm die Frau mit den Clownslippen stand. Stattdessen blickte sie in Pascals Gesicht, das eine merkwürdig dunkelrote Farbe angenommen hatte. Er schrie sie an, doch sie konnte ihn nicht mehr hören. Ein dumpfes Rauschen hatte sich in Saskias Kopf ausgebreitet. Es war, als ob sie in einem schwarzen Loch gefangen war, das alle Stimmen verschluckte. Pascal riss sich von ihrem Wagen los und rannte auf ihren Vater zu. Er rammte ihn an der Schulter. Ihr Vater wankte. Die Clownsfrau klappte den roten Mund auf und stieß einen Schrei aus, den Saskia nicht mehr hören, sondern nur sehen konnte. Ihre Zähne waren weiß und kein bisschen spitz. Verwundert fasste Saskia sich an die Schläfen und presste mit aller Kraft die Finger darauf.
Pascal lief die Treppen hinauf und ins Haus hinein. In diesem Moment löste Saskia ihren Sicherheitsgurt aus der Halterung, öffnete die Wagentür und stürmte hinterher. Sie streifte die Clownsfrau mit den runden Zähnen, ignorierte die wilde Gestik ihres Vaters und lief auf die Haustür zu. Gerade als sie die Klinke herunterdrücken wollte, öffnete sich die Tür und Pascal hastete wieder hinaus, eine Jacke über dem Arm. Er blickte sie flüchtig an und rannte dann auf das Rondell zu, vorbei an ihrem Vater und seiner neuen Frau.
Saskia blieb auf der Schwelle stehen, unfähig, auch nur einen einzigen Gedanken zustande zu bringen. Dann drehte sie sich mechanisch um und trat ins Haus. Das Rauschen in ihrem Kopf war unerträglich. Grelle Blitze schränkten ihr Blickfeld ein und schwächten ihr Bewusstsein so sehr, dass sie einer Ohnmacht nahe war. Mit letzter Kraft rannte sie in die Küche. Sie brauchte dringend ein Glas Wasser. Sie öffnete den Schrank, doch dort waren keine Gläser. Die Ordnung hatte sich geändert. Weiße Porzellanteller in verschiedenen Größen stapelten sich ordentlich übereinander. Die kleinen Teller sahen aus wie große Augen, die sie unentwegt anstarrten. Saskia blinzelte zweimal, um das Bild zu verscheuchen. Sie drehte den Kopf zum Fenster. Durch die Gardinen fiel Sonnenlicht in die Küche. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und malte ein löchriges Muster auf die Küchenplatte. Wie ein langer Finger aus grellem Licht streckte sie sich durch die Maserung der Gardine und zeigte auf Saskias Stirn. Ich sehe dich! Und ich weiß was du getan hast! Die Stimme durchbrach das Rauschen und verurteilte sie mit der Strenge eines Richters. Entsetzt wandte Saskia sich vom Fenster ab.
Die Clownsfrau war in die Küche gekommen. Sie hatte die Hände an die Brust gehoben. Ihre roten Lippen bewegten sich wie die eines Karpfens. Unverständliches Blubbern drang aus ihrem Mund. Zusammenhanglose Geräusche, die es nicht vermochten, sich zu einem sinnvollen Wort zu formieren. Aus der Nähe war das Gesicht gar nicht mehr so hübsch. Die Augen waren dick mit schwarzem Lidschatten umrandet und blickten Saskia stumpf wie Kohlestücke an. Doch was Saskia am allermeisten hasste, waren die dicken roten Lippen. Die Frau wankte plötzlich einen Schritt auf sie zu. Saskia trat automatisch zurück und stieß mit den Hüftknochen an den Küchentisch. Ihre Hände tasteten nach Halt. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Sie fühlte sich von der Clownsfrau bedroht, die einfach nicht von ihr ablassen wollte. Sie kam immer näher und Saskias Hände suchten verzweifelt Halt am Küchentisch. Stattdessen landete ihre rechte Hand an einem Messerblock. Fünf oder sechs scharfe Fleischmesser steckten darin. Ihre Mutter hatte sie oft benutzt. Ehe Saskia sich versah, hatte sie eines der Messer in der Hand. Die Clownsfrau kam unaufhörlich näher. Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als wolle sie einen Tanz aufführen. Es war eine absurde Szene, die sich da vor Saskias Augen abspielte und auf die sich ihr Verstand keinen Reim machen konnte. Die Frau hatte riesige Hände und packte sie an den Oberarmen. Das Schrillen in Saskias Kopf wurde unerträglich. Ihre Gehirnmasse drohte zu explodieren. Sie spürte den Griff der Frau an ihrem Bizeps. Die Berührung war kaum zu ertragen. Sie löste eine Panikwelle in Saskia aus. Adrenalin strömte durch ihre Blutbahnen und ihr Hirn gab den Befehl zur Gegenwehr. Unkontrolliert holte sie aus und stach zu.
Endlich stolperte die Clownsfrau einen Schritt zurück. Ihr roter Mund war zu einem Schrei verzerrt. Das Messer steckte in ihrer rechten Brust und tränkte das helle Kleid mit dunklem Rot. Die Klinge ragte ein gutes Stück heraus. Sie sitzt nicht tief genug, schrie eine Stimme in Saskias Kopf. Automatisch ging ihre Hand zum Messerschaft und zog die Klinge heraus. Mit einer 90-Grad-Drehung rammte sie das Messer erneut in die Brust der Clownsfrau. Diesmal konnte sie spüren, wie es zwischen zwei Rippenknochen hindurch tief im Brustkorb versank. Die Frau rollte die stumpfen Augen nach oben. Es war nur noch das Weiß inmitten ihres dicken schwarzen Lidschattens zu erkennen. Saskia hatte die Hand immer noch am Messer und spürte, wie das Gewicht der Frau sich wankend dagegen lehnte. Sie drückte die Klinge noch ein wenig tiefer in den Brustkorb hinein. Blut sickerte aus der Wunde und tropfte auf den Küchenboden. Endlich sank die Frau zu Boden und blieb regungslos liegen. Wie in Trance zog Saskia das Messer aus ihrer Brust und lehnte sich schwer atmend gegen den Küchentisch. Ein ohrenbetäubender Schrei ließ sie erneut zusammenzucken.
Saskias Vater stürzte auf sie zu. Er schenkte dem blutigen Messer in ihrer Hand keine Beachtung. Erst, als es in seinen Bauchraum eingedrungen war, sendeten seine Nervenzellen unverwandt ein Schmerzsignal in die Gehirnzentrale und er bemerkte die scharfe Klinge. Ungläubig taumelte er zurück und presste die Hände auf die klaffende Wunde. Das Messer hatte sich aus dem weichen Fleisch seines Bauchraumes gelöst und lag sicher in Saskias Hand, bereit, erneut in den angeschlagenen Körper einzudringen. Saskias Hände zitterten. Es war wie ein Blutrausch, der seinen Tribut forderte. Sie leckte sich die trockenen Lippen. Die Begierde, erneut das Schneiden der Klinge in lebendigem Fleisch zu spüren, war übergroß. Auch die kindliche Stimme in ihrem Inneren konnte das Monster in ihr nicht mehr zurückhalten. Sie riss den Mund zu einem Schrei auf, holte aus und stieß das Messer abermals in die Eingeweide ihres Vaters. Sie genoss den Stoß, die Kraft, die dahintersteckte, und das warme Blut, das über ihre Hände lief. Die ganze Wut, die Jahre der Zurückweisung, alles steckte sie in diesen letzten Stoß, der ihren Vater in sich zusammensacken ließ. Erst als sie in sein Gesicht blickte, die verständnislosen Augen sah und den Schmerz, der in ihnen aufschrie, erwachte sie aus ihrem Blutrausch.
Plötzlich war alles um sie herum in Schwärze getaucht. Die Sonne, die eben noch durch die Gardinen geschienen hatte, war verschwunden. Sie befand sich im Nirgendwo und schwebte durch das Nichts. Die Sirenen in ihrem Kopf schwiegen. Nur das dumpfe Pochen ihres Herzens durchdrang die plötzliche Stille. Ihr Blut wallte durch die Adern, während ihre Gedanken stillstanden. Es gab nur ein einziges Bild, das sich vor ihrem inneren Auge aufbaute. Der Schmerz, den es verursachte, krallte sich mit Eisenklingen in ihren Eingeweiden fest. So fest, als wolle er Saskia nie wieder loslassen. Die Liebe, die sie im letzten Moment in den Augen ihres Vaters gesehen hatte, ließ sie das Geschehene auf der Stelle bereuen. Tränen traten in ihre Augen und sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen. Das Messer weglegen und die Rachsucht verhindern, die sie in diese Lage gebracht hatte. Doch es war längst zu spät. Keine Macht der Welt konnte die Toten zum Leben erwecken. Und niemand würde ihr je vergeben.
Ein Klacken ließ Saskia aufschrecken. Sie hob die Hände und registrierte die Nässe, die sie umgab. Sie leckte einen Finger ab. Er schmeckte salzig. Dem Klacken folgte ein Surren oder vielmehr ein Schaben. Es war direkt über ihrem Kopf. Sie versuchte, das Dunkel zu durchdringen und die Geräusche zuzuordnen, als schlagartig die Sonne ihre Finger durch die Finsternis streckte. Das Licht war mit einem Mal überall.
»Wie geht es Ihnen?«
Saskia kannte diese Stimme. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich im Floating-Tank befand.