XIV.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Der Weg zu Josef Hesemanns Haus führte Bastian quer durch Zons. Der Arzt wohnte fast neben der St. Martinus Kirche, die sich genau im Zentrum der Stadt befand. Franziskus Nolden begleitete ihn auf seinem Weg. Bastian hatte zwar keinerlei Beweise, aber die Tatsache, dass der Bruderälteste während seiner Ermittlungen jetzt schon zum zweiten Mal in Erscheinung trat, ließ ihn misstrauisch werden. Wenn er die Fakten, die bisher vorlagen, betrachtete, gab es zwei Punkte, die Nolden unmittelbar mit den beiden Verbrechen in Verbindung brachten. Er war zusammen mit Lodewich Jansen, einem Bediensteten des Hafenmeisters, der Letzte gewesen, der Martha am Abend des Geburtstagsfestes von Pfarrer Johannes lebend gesehen hatte. Und jetzt tauchte er aus heiterem Himmel auf, ruinierte die Verfolgung des verdächtigen Kuttenträgers und gab vor, zu wissen, wer der Mann mit dem zertrümmerten Schädel war.

Bastian drehte unauffällig den Kopf zur Seite und betrachtete den Bruderältesten. Auch er trug eine schwarze Kutte, die typische Bekleidung der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft. Vielleicht war Nolden nur aufgetaucht, um zu verhindern, dass Bastian und Wernhart den Unbekannten ergriffen, der sich an der Südmauer zu schaffen gemacht hatte. Aber nein, das wäre viel zu auffällig gewesen. Die Bruderschaft agierte doch meist bei Nacht. Noch einmal musterte Bastian seinen schweigenden Begleiter. Das Alter stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Feine Fältchen liefen quer über seine Wangen und vertieften sich um Augen und Mund. Die einst dunklen Haare waren von Grau durchzogen. Nolden bemerkte Bastians Blick.

»Noch eine Gasse und Ihr könnt Euch selbst von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen. Ich habe Josef Hesemann gebeten, Schimmelpfennigs Bruder bis zu Eurem Eintreffen aufzuhalten.«

Bastian nickte zögerlich, erwiderte jedoch nichts. Erst als sie am Haus des Arztes angelangt waren, unterbrach er das Schweigen.

»Lasst mich vorangehen und haltet Euch im Hintergrund.«

Nolden gewährte ihm den Vortritt. Als Bastian das Haus betrat, kam ihm Josef bereits entgegen.

»Habt Ihr Wernhart gesehen? Er ist einfach ohne ein Wort des Abschieds verschwunden.«

»Macht Euch keine Sorgen, mein Freund. Er wird sicher bald wieder zurück sein.«

Der Arzt führte sie in den Innenhof. Der Leichnam war mit Leinentüchern bedeckt, genauso wie die Werkzeuge, die Josef für die Leichenbeschau verwendete. In einer Ecke saß ein blasser Mann mittleren Alters. Er trug einfache Kleidung. Die Haare waren zerzaust, unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Die Lippen waren spröde und die Hände grob und von gelber Hornhaut überzogen. Eine breite Narbe verlief vom Mundwinkel des Mannes bis zum Ohr und die braunen Augen blickten nervös zwischen Bastian, dem Arzt und dem Bruderältesten hin und her.

»Mein Name ist Bastian Mühlenberg und das hier ist Franziskus Nolden, nennt uns Euren Namen und erklärt Eure Verbindung zu dem Toten.« Bastian sprach mit fester Stimme und der Mann schrak merklich zusammen. Die Zonser Stadtwache hatte einen hervorragenden Ruf und war für ihre gut ausgebildeten Soldaten bekannt. Bastians hünenhafte Erscheinung und die tiefe Stimme schüchterten so manchen Mitbürger ein.

»Ich heiße Bernhard Schimmelpfennig.« Die Augen des Mannes waren an Bastian hängengeblieben. »Der Tote ist mein Bruder, Georg Schimmelpfennig. Er ist in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen und ...«, er deutete mit dem Finger auf den Bruderältesten, »sein Weib hat mich hierher holen lassen.«

Bernhard Schimmelpfennig war noch blasser geworden. Sein Kehlkopf bewegte sich heftig auf und ab. Bastian konnte erkennen, dass er nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.

Bernhard hielt sich die Hände vor das Gesicht. »Ich habe einen so schrecklichen Anblick mein Lebtag noch nicht gesehen. Der Teufel muss ihn so zugerichtet haben. Keine Seele Gottes wäre zu einer solchen Tat fähig.« Seine Stimme zitterte. Verzweifelt wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen. »Mein Bruder war alles, was ich hatte.« Bernhard sank in sich zusammen. Sein grobes Antlitz wirkte plötzlich zerbrechlich. Die Trauer des Mannes schien echt. Nur die Augen, die jetzt wieder nervös hin- und herblickten, machten Bastian stutzig. Das war ein typisches Anzeichen dafür, dass der Mann nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

»Könnt Ihr uns irgendetwas erzählen, was uns hilft, seinen Mörder zu fassen?«, hakte Bastian nach.

Bernhards Augen wurden noch unruhiger und er stotterte: »Nein, ich kann Euch leider nicht mehr sagen.«

»Hatte er irgendwelche Feinde oder gab es jemanden, mit dem er sich nicht gut verstand?« Bastian bohrte sich langsam tiefer.

»Wir sind arme Leute und wir erledigen Botendienste, da sind wir gut beraten, immer freundlich zu sein.« Bernhard schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind mit allen gut ausgekommen.«

»Welche Botendienste hat Georg denn zuletzt erledigt?«

Unmerklich weiteten sich Bernhards Augen und Bastian wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

»Der letzte Botendienst war für sein Weib.« Wieder zeigte Bernhard mit dem Finger auf den Bruderältesten.

»Es gab doch bestimmt noch andere Aufträge, die ihn ab und an nach Zons geführt haben?« So einfach wollte Bastian den Mann nicht davonkommen lassen. Er wusste, dass Bernhard ihm nicht die Wahrheit sagen wollte. Sobald Wernhart zurückkam, würden sie den Kerl beobachten.

»Wir haben nicht alles gemeinsam erledigt. Ich kann Euch nicht mehr sagen«, erwiderte Bernhard jetzt ausweichend.

Bastian ließ es dabei bewenden. Er würde mehr herausfinden, wenn er den Mann laufen ließ und ihm folgte. Mit einem Kopfnicken bedeutete er Bernhard, dass er verschwinden sollte.

 

 

...

 

 

Das blasse Gesicht und die grünen Augen, die von dunkelbraunen Haaren gerahmt waren, verliehen dem Burschen eine jugendliche Ausstrahlung. Er wirkte recht klug und zuverlässig. Hugo von Spanheim betrachtete den Mann ausgiebig. Er hatte keine Zeit gehabt, in der Vergangenheit des jungen Mannes zu graben oder sich aussagekräftige Referenzen einzuholen. Aber er brauchte dringend einen neuen Boten. Seine Auftraggeber warteten auf das Elixier, und wenn er nicht bald lieferte, dann würden sie das Laudanum zukünftig bei jemand anderem bestellen. Zwar verfügte Hugo über eine einzigartige Rezeptur, aber die Sucht seiner Auftraggeber musste gestillt werden. Da kam jeder Nachschub recht, auch wenn die Qualität der anderen Lieferanten mit seinem Elixier nicht mithalten konnte.

Ihm gefiel der junge Mann. Kurzerhand nahm er ihn in seine Dienste. Er drückte ihm ein paar Weißpfennige Vorschuss in die Hand und verabredete sich in zwei Tagen mit ihm. Bis dahin war er in der Lage, neues Elixier herzustellen und so Gott wollte, würde er auch das gestohlene Laudanum bis zu diesem Zeitpunkt wiedergefunden haben. Die Abendsonne hatte sich bereits herabgesenkt und Hugo beschloss, zu handeln. Er sattelte sein schwarzes Schlachtross und verließ Zons durch das Feldtor. Die Luft war immer noch herrlich warm und die zahlreichen Frühlingsblumen auf den Feldern verströmten einen wunderbaren Duft. Hugo nahm die Natur in sich auf und fühlte sich großartig. Erst als er an der Weggabelung nach Stürzelberg angelangt war, verflüchtigte sich seine Hochstimmung. Auch in der Dämmerung waren die Spuren der Kutsche noch deutlich zu erkennen. An einigen Stellen war die Erde dunkelrot gefärbt. Die Erinnerung an seinen untreuen Boten ließ die Wut in Hugo aufkochen. Dieser Mistkerl hatte ihn hintergangen. Den Tod hatte er verdient. Ohne einen Gedanken der Reue gab Hugo dem Pferd die Sporen und ritt im hohen Tempo nach Stürzelberg. Am Ortseingang drosselte er die Geschwindigkeit. Er band sein Pferd an einen Baum und ging zu Fuß weiter. Vor dem Haus von Georg Schimmelpfennig blieb er stehen und trommelte ohne zu Zögern gegen die brüchige Holztür.

»Macht auf! Ich muss Euch sprechen!«

Hinter der Tür waren schlurfende Schritte zu vernehmen. Die Tür öffnete sich langsam. Ein müdes Gesicht erschien. Als Bernhard Schimmelpfennig seinen nächtlichen Besucher erkannte, verzogen sich seine Mundwinkel nach unten. Mit zittrigen Händen zog er die Tür weiter auf und ließ Hugo von Spanheim eintreten.

»Wo ist das Elixier?« platzte es ohne Umschweife aus Hugo heraus. »Ich weiß, dass Ihr beide gemeinsame Sache gemacht habt. Es ist immer dasselbe, wenn man sich mit Euch stinkendem Gesindel einlässt. Man füttert Euch durch und anschließend glaubt Ihr, stark genug zu sein, Euch gegen den eigenen Herrn zu stellen. Haltet Ihr Euch wirklich für so geschickt, dass Ihr es ernsthaft mit mir aufnehmen könntet?« Hugo hatte sich in Rage geredet. Aus seinen Mundwinkeln troff weißer Schaum. Die funkelnden Augen traten weit aus den Höhlen hervor. Außer sich vor Wut zog er seinen Dolch und hielt ihn Bernhard vor das Gesicht. »Euer Bruder hat für seine Untreue bereits mit dem Leben bezahlt! Wollt Ihr ihm sofort in die Hölle folgen?«

Bernhard schlotterte am ganzen Körper. »Ich weiß nichts, bitte lasst mich gehen.«

Hugos Stimme donnerte durch die dunkle Stube. »Was soll das heißen, Ihr wisst nichts! Wo ist mein Elixier?« Hugo stieß Bernhard sein Knie mit aller Gewalt in den Unterleib. Mit einem Schrei sank Bernhard zu Boden.

»Ihr sagt mir jetzt sofort, wo mein Elixier ist.«

»Ich habe es nicht!«

»Ich glaube Euch kein Wort.« Hugo riss Bernhard nach oben und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Zähne knirschten. Blut und Speichel spritzten Hugo in die Augen. Angewidert wischte er sich mit dem Ärmel trocken und schlug erneut zu. Diesmal traf er Bernhard an der Schläfe. Der Schlag war fest und brachte den Mann sofort zu Fall. Röchelnd und bewusstlos blieb Schimmelpfennig am Boden liegen. Doch Hugo war das ganz egal. Wütend trat er dem Besinnungslosen in die Seiten. So schnell würde er nicht aufgeben. Ob ohnmächtig oder nicht, er würde die Wahrheit aus diesem Taugenichts herausprügeln.

 

 

...

 

 

»Pssst. Seid leise!« zischte Bastian. Wernhart war hinter ihm über einen Stein gestolpert und polternd zu Boden gegangen. Die Nacht war rabenschwarz. Eine dicke Wolkendecke hatte sich am Himmel ausgebreitet. Nur vereinzelte Lücken ließen ab und an das Mondlicht hindurch. Sie hatten die Fackeln kurz vor Stürzelberg gelöscht und waren halb blind durch die Dunkelheit bis zu Bernhard Schimmelpfennigs Haus gestolpert. Pfarrer Johannes hatte ihnen eine Karte von Stürzelberg gezeigt. Der Lageplan stammte aus einem Fundus an Karten, der seit der Gründung der Stadt Zons von Pfarrer zu Pfarrer weitergegeben wurde. Die Karten beschrieben das Umland zwischen Düsseldorf und Köln. Das dünne und vergilbte Pergament war von Mönchen des Klosters Brauweiler sorgfältig mit schwarzer Tusche bemalt worden. Das Kloster stellte seit mehr als hundert Jahren den Pfarrer in Zons. Auch Johannes war in diesem Kloster aufgewachsen.

Sie hatten den Weg, den sie bis zu Schimmelpfennigs Haus nehmen mussten, vorher auswendig gelernt. Bastian glaubte, dass Bernhard mehr über seinen Bruder wusste, als er zugegeben hatte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er eine vielversprechende Spur verfolgte. In Gedanken fasste er die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammen. Spätestens seit Wernhart von seiner Verfolgungsjagd zurückgekehrt war, bestand für Bastian keinerlei Zweifel mehr. Die weggeworfene schwarze Kutte, die leeren Glasflaschen und dann noch das blaue Tuch, dass der Unbekannte auf seiner Flucht verloren hatte, und das jenem in der Hand der toten Martha so sehr glich: Wer immer dieser Mann war, er hatte etwas mit Marthas Tod zu tun. Mit einem Schaudern erinnerte sich Bastian an die totenstarren, kalten Finger. Der Arzt Josef Hesemann hatte einen ganzen Tag abwarten müssen, bis er die Faust öffnen und das blaue Tuch sichern konnte.

Bastian hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Als Marthas Mörder kamen zwei Männer in Frage. Zum einen der tote Georg Schimmelpfennig, der Marthas Ring bei sich getragen hatte, und zum anderen der Unbekannte in der schwarzen Kutte, dessen Körperhaltung Bastian an Hugo von Spanheim erinnerte. Hugo war bislang nicht wieder aufgetaucht. Bastian hatte Pfarrer Johannes gebeten, ihn aufzuhalten, sobald er in der St. Martinus Kirche erschien.

Doch es gab noch eine andere große Frage, die Bastian keine Ruhe ließ. Was hatte der Fremde in Josefs Haus gewollt? Und wer war der Mann gewesen, der Wernhart im Haus des Arztes davon abgehalten hatte, den Kuttenträger dingfest zu machen? Es war ein furchtbares Chaos von verschiedenen Spuren, die sich allesamt verliefen und sich einfach nicht zusammenfügen lassen wollten. Wernhart war die Stimme seines Angreifers bekannt vorgekommen. Er hatte eine raue, junge Männerstimme beschrieben, und just in diesem Moment war das Gesicht von August vor Bastians innerem Auge erschienen. Bastian hatte seinen Verdacht jedoch für sich behalten. Die Nacht, in der August ihm in seinem Schlafgemach aufgelauert hatte, war ihm bedrohlich in Erinnerung geblieben. Er wollte seine Familie keiner weiteren Gefahr aussetzen. August war unberechenbar und Bastian wusste, dass er keine Gnade kannte.

Ein Kieselstein knirschte unter Bastians Füßen und brachte den Strom seiner Gedanken für einen Moment zum Stillstand. Er musste sich jetzt sammeln und auf Bernhard Schimmelpfennig konzentrieren. Es war wichtig, dass er einen Schritt nach dem anderen machte und sich nicht von dem Chaos entmutigen ließ. Bastian schüttelte sich, als könne er so dem Durcheinander in seinem Kopf eine Ordnung aufzwingen. Er versuchte mit aller Macht, seinen Geist auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren.

Sie hatten sich extra bei Nacht angeschlichen, um Bernhard Schimmelpfennig auf frischer Tat zu ertappen. Bastian vermutete, dass er noch in dieser Nacht aufbrechen würde, um sein Geheimnis in Sicherheit zu bringen. Alles, was sie tun mussten, war vor seinem Haus zu lauern und ihm unauffällig zu folgen, sobald er es verließ.

Bastian gab Wernhart ein Zeichen, sich auf die Rückseite des Hauses zu begeben. Er wollte verhindern, dass Schimmelpfennig sich ungesehen davonschleichen konnte. Wernhart verschwand und Bastian bezog in einer dunklen Nische auf der anderen Straßenseite Posten. Von hier aus hatte er einen hervorragenden Blick auf Schimmelpfennigs Haus. Selbst wenn Bernhard sich durch eines der Seitenfenster hinausstehlen sollte, Bastian würde es von seinem Beobachtungsposten aus nicht entgehen. Die Nacht hatte gerade erst begonnen und er rechnete mit einer Wartezeit von ein oder zwei Stunden. Es war zu schade, dass er kein Feuer anzünden durfte. Sonst hätte er die Zeit nutzen und sein Notizbuch abermals studieren können. Bastian hatte zwischenzeitlich etliche Anhaltspunkte, die er dringend in die richtige Reihenfolge bringen musste. Dafür waren seine Notizen ein wichtiges Hilfsmittel, das ihm immer wieder kostbare Dienste geleistet hatte. Seufzend lehnt er den Kopf rücklings an die Wand und kniff die Augen zusammen. Im Geiste ging er die verschiedenen Vorfälle durch, die sich seit dem Geburtstagsfest von Pfarrer Johannes ereignet hatten. Er grübelte und grübelte, doch er konnte die Dinge einfach nicht richtig greifen. Wie Nebelschwaden verflüchtigten sich seine Überlegungen, noch ehe sie richtig ausgereift waren. Die Luft war trotz der Nachtkälte angenehm warm und die Müdigkeit schlich sich an Bastian heran.

Noch immer herrschten Stille und Dunkelheit in Bernhards Haus. Als Bastian merkte, dass ihm bald endgültig die Augen zufallen würden, richtete er sich auf. Auf Zehenspitzen schlich er um das Haus herum und rief leise nach Wernhart.

»Wernhart, wo bist du?«

Eine Hand legte sich auf Bastians Schulter und er zuckte zusammen.

»Was machst du hier?«, flüsterte Wernhart.

»Ich bin mir nicht sicher, wie lange wir noch warten sollen. Es ist so still in dem verdammten Haus, dass ich mich frage, ob der Kerl überhaupt da ist.«

»Ich habe auch keinen einzigen Laut vernommen«, pflichtete Wernhart ihm bei.

»Lass uns an der Hintertür nachsehen. Vielleicht steht sie offen.« Noch bevor Bastian die Worte ausgesprochen hatte, machte er ein paar Schritte auf das Haus zu. Er tastete die grobe Holztür ab, bis er schließlich einen kleinen Haken entdeckte, der die Tür an der Seite verriegelte. Die Tür knarrte und quietschte, ließ sich jedoch problemlos öffnen. Bastian trat ein und verharrte einige Momente in der Dunkelheit. Erst nach und nach passten sich seine Augen den neuen Lichtverhältnissen an und wurden der unterschiedlichen Konturen des Hauses gewahr. Den Umrissen nach zu urteilen, befand er sich in der Küche. Links in der Ecke entdeckte er einen Holzstapel, der den Nachschub für die Feuerstelle bildete, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand. Ein grober Holztisch stand in der Mitte, rechts und links davon zwei Stühle. Die Brüder hatten hier offensichtlich alleine gelebt. Bastian erspähte einen Durchgang rechts hinter dem Tisch. Er tastete sich vorwärts. Dahinter musste sich die Stube befinden, in der er auch die Betten vermutete. Das Haus war nicht besonders groß und hatte nur ein einziges Geschoss. Da die Brüder nicht reich waren, konnten sie sich, wie die meisten Bürger ihrer Schicht, kein eigenes Schlafgemach leisten, und mussten mit einer Stube und einer Küche auskommen.

Im Inneren der Stube war es noch dunkler. Die Fensterläden waren verschlossen und ließen nur durch die schlecht vernagelten Ritzen ein wenig Mondlicht hinein. Bastian strengte seine Augen an, nahm den Raum jedoch nur schemenhaft wahr. Mit der Hüfte stieß er schmerzhaft gegen etwas Hartes, was sich bei näherem Befühlen als Tischkante herausstellte. Der Laut hätte Bernhard eigentlich aus dem Schlaf reißen müssen, doch es war totenstill und nichts regte sich. Bastian entdeckte die Betten, die an der Wand neben dem Fenster standen. Mit schnellen Schritten näherte er sich dem ersten Bett und tastete nach Schimmelpfennig. Er war sich nicht sicher, ob er sich am Kopf- oder Fußende befand, und war daher auf alles gefasst. Doch seine Hände griffen ins Leere. Eilig hastete Bastian zum anderen Bett. Seine Schritte hallten laut durch die Stube, doch das war ihm mittlerweile egal. Bernhard hatte ihn mit Sicherheit schon gehört, als er gegen den Tisch gestoßen war. Als er das zweite Bett abgesucht hatte, stellte Bastian mit klopfendem Herzen fest, dass es ebenfalls leer war.

»Wernhart, zünde die Fackel an!« Sein Befehl gellte durch die Nachtstille, während er sich zum Eingang begab und ihn verstellte. Wernhart sicherte den Hinterausgang. Ein paar Augenblicke später flackerte ein Feuerschein in der Stube auf. Die Möbelstücke warfen gruselige Schatten, die zitternd durch den Raum tanzten. Mit einem einzigen Blick hatte Bastian die Situation erfasst. Das Haus war leer und Bernhard verschwunden.

»Verdammt!« Bastian fluchte lauthals. »Wir haben ihn verpasst.«

Wernhart kam ein paar Schritte näher und leuchtete den Boden ab.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er und deutete auf ein paar frische Blutflecken, die auf dem Boden verschmiert waren.

 

 

...

 

 

»Ihr könnt ruhig tief einatmen, elender Mistkerl.« Die kalte Stimme zischte durch das dunkle Gewölbe und hallte von den hohen Decken wider.

»Ich habe etwas für Eure Ohren. Die Luft in diesem Teil des Ganges ist absolut tödlich. Ich gebe Euch vielleicht noch drei oder vier Stunden, danach sind Eure Lungen von Schimmel verseucht und der Tod wird Euch in spätestens zehn Wochen unter die Erde gebracht haben.« Hugo von Spanheim machte eine kurze Pause und ließ seine Worte auf Bernhard wirken.

»Eure Lungen werden von innen zerfressen und können die Atemluft nicht mehr aufnehmen. Es ist fast so, als würdet ihr ertrinken. Mit dem einzigen Unterschied, dass es um ein Vielfaches länger dauert. Es ist ein sehr qualvoller Tod, wenn Ihr mich fragt.«

Bernhard, der an Armen und Beinen mit Eisenringen an die Wand geschlagen war, schwieg. Sein Kopf hing immer noch schlaff herunter. Das Doppelkinn vergrub sich an der Brust, doch Hugo wusste, dass der Kerl die Ohnmacht längst überwunden hatte und ihn hören konnte. Er bemerkte es an seiner Atmung, die schneller und tiefer wurde, nachdem er ihm die Fesseln angelegt hatte.

»Nun, mein lieber Bernhard Schimmelpfennig. Eure Täuschung ist nicht besonders gut gelungen. Ein Blinder kann sehen, dass das Bewusstsein in Euren Körper zurückgekehrt ist.«

Hugo zückte seinen Dolch und trennte mit langsamen Bewegungen Bernhards Wams auf. »Ihr befindet Euch übrigens an einem geheimen Ort. Die Anzahl der Menschen, die diese Stätte kennen, dürfte weniger als eine Handvoll ausmachen. Falls ihr Euch also Chancen auf Hilfe ausrechnet ...« Hugo hauchte die letzten Sätze heiser in Bernhards Ohr: »Ich kann Euch beruhigen. Wir sind ganz unter uns.«

Bernhard schwieg noch immer. Nach einer Weile fuhr Hugo fort.

»Nun gut, mein Freund. Ich gebe Euch ein paar Minuten, um darüber nachzudenken, ob Ihr reden wollt oder nicht.« Er klopfte Bernhard fast freundschaftlich auf die Schulter und lächelte finster.

»Wenn ich wiederkomme, werde ich die Gerätschaften, die genau zu Euren Füßen liegen, benutzen, um Euer Schweigen zu brechen. Ihr könnt Sie Euch ja schon einmal ansehen. Ich mache Euch Licht.« Mit diesen Worten zündete Hugo von Spanheim eine Fackel an und stieß ein kehliges Lachen aus. Abermals klopfte er Bernhard Schimmelpfennig auf die Schultern und verließ dann mit hallenden Schritten das Gewölbe. Sein gurgelndes Lachen hallte noch lange, nachdem Hugo gegangen war, düster von den Wänden wider.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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