VI.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Das Elixier floss noch immer samtig wie Honig durch seine Blutbahnen und verwischte seine Erinnerungen. Er wusste nicht mehr sicher, ob er die Fläschchen mit dem Elixier tatsächlich in die Tonrohre gestopft hatte. Benommen lief er durch das erwachende Zons und stützte seinen taumelnden Körper dabei mit den Händen an der Stadtmauer ab. Nur noch wenige Meter und er würde das Südtor erreichen, von dort aus war es ein Katzensprung bis zum nächsten Stadttor. Zu dieser frühen Stunde war der Zwinger, so wurde die Konstruktion der Burgfestung an dieser Stelle von der Stadtwache genannt, noch menschenleer. Der Zwinger war im Grunde genommen nichts weiter als eine zweite Mauer, die ungefähr dreißig Meter vor der eigentlichen Stadtmauer errichtet war. Getrennt wurden diese beiden Mauern durch einen Wassergraben. Diese ausgefeilte Anlage sollte der Abwehr von Feinden dienen, die das Schloss Friedestrom erobern wollten. Sobald sie über die südliche Stadtmauer gelangten, saßen sie in der Falle und konnten von der zweiten Mauer aus beschossen werden. Die Gefahr, dass Eindringlinge die Stadtmauer erklimmen würden, erschien jedoch gering. Die Zollfeste Zons war nach dem neuesten Stand der Baukunst errichtet worden. Zons galt als uneinnehmbar und alleine dieser Ruf hatte bisher jeden Angreifer abgeschreckt.

Er blieb stehen und sah sich um. Der Morgen würde bald anbrechen. Mechanisch griff er an seine Hüfte und erinnerte sich im selben Moment daran, dass der Weinschlauch leer war. Deshalb hatte er ein Fläschchen des Elixiers getrunken. Er stöhnte. Das war ein Fehler, der hoffentlich unbemerkt blieb. Er war nur ein Bote und leicht zu ersetzen. Wenn sie seine Unzuverlässigkeit bemerkten, wäre er diese Aufgabe los. Und mit ihr die vielen Gulden, die er für seine nächtlichen Ausflüge und natürlich für sein Schweigen bekam. Er hätte das Elixier nicht anrühren dürfen. Die Bilder der toten Martha mischten sich in seine Gedanken und verstärkten das schlechte Gefühl, welches sich in der Magengrube ausbreitete. Noch hielt ihn der Rausch davon ab, Panik zu entwickeln. Bedächtig schlich er weiter an der Stadtmauer entlang. So schnell würden sie das Fehlen eines einzigen Fläschchens schon nicht bemerken. Unterdessen konnte er sich daran erinnern, dass er das Elixier wie immer in die Tonrohre gestopft hatte. Wankend schlüpfte er durch die kleine Pforte des Feldtores. Der wachhabende Stadtsoldat hatte nur kurz die müden Augen geöffnet und die Hand für den Silbertaler ausgestreckt, den er jede Woche bekam, damit er unbemerkt aus der Stadt gelangen konnte.

Gähnend marschierte der Bote über den holprigen Feldweg. Bis zu seiner Hütte in Stürzelberg hatte er noch einiges an Wegstrecke zurückzulegen. Ungefähr hundert Meter trennten ihn von der kleinen Waldbiegung, die ihn direkt nach Hause führen würde. Während er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, kreisten unaufhörlich die Bilder der ermordeten Martha in seinem Kopf und erinnerten ihn an das Blut an seinen Händen. Ein leichtes Schwindelgefühl ließ ihn erneut taumeln und die Bluttat verschwimmen. Das Elixier hat es wirklich in sich, dachte er genüsslich. Eine solche Wirkung war er von Wein nicht gewohnt. Das plötzliche Wiehern eines Pferdes ließ ihn aufhorchen. Ehe er sich versah, stürmte eine riesige schwarze Kutsche auf ihn zu. Die Hufe zweier Schlachtrösser donnerten auf den Boden und ließen Staubwolken aufsteigen. Die frische Morgenluft verwandelte sich in beißenden Rauch. Die Beine wollten ihm nicht gehorchen. Statt auszuweichen, blieb er stehen und starrte auf den schwarzen Tod, der getrieben von knallenden Peitschenhieben, auf ihn zuraste. Er war viel zu sehr vom Rauschmittel benommen, um in Panik zu geraten. Er fühlte sich wie ein Fels in der Brandung. Fast so, als müsse die Kutsche ihm ausweichen, um nicht zu zerschellen. Selbst als sein Körper unter den donnernden Hufen der Pferde zerschmettert wurde, fühlte er keinen Schmerz. Das Elixier in seinem Blut verhalf ihm zu einem sanften, schnellen Tod. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht tat der Bote seinen letzten Atemzug.

 

 

...

 

 

»Ihr seid ein Narr, Bastian Mühlenberg. Wo ist nur Euer Verstand geblieben?« Die kalten grünen Augen machten erst wenige Zentimeter vor Bastians Gesicht halt. Die Spitze eines Dolches stach ihm unangenehm in die Seite und der von Wein vergorene Atem, den August ihm ins Gesicht blies, löste eine Welle der Übelkeit aus. Eine Schlinge legte sich um seinen Hals. Bastian saß in der Falle. August hatte ihm am Mühlenturm aufgelauert und ihn in eine dunkle Ecke gedrängt, in der er nun feststeckte. Dies war seine zweite Begegnung mit August innerhalb kürzester Zeit und Bastian hatte keine Lust mehr darauf, von ihm bedroht zu werden. Er war auf der Suche nach Marthas Mörder und gerade unterwegs zu Wernhart, mit dem er die ersten Zeugenbefragungen durchführen wollte. Was also wollte August nun schon wieder von ihm?

Bastian holte aus und warf sich mit ganzer Kraft auf seinen Gegner. Doch der hatte offensichtlich mit dem Angriff gerechnet. August grinste böse und zog mit nur einem Finger die Schlinge um Bastians Hals enger. Bastian blieb auf der Stelle die Luft weg und Augusts Augen funkelten dabei vor Vergnügen. Er genoss seine Macht sichtlich.

Bastian brodelte vor Wut. Dieser elende Mistkerl würde schon noch merken, dass er sich mit dem Falschen angelegt hatte. Schnell wandte er eine andere Taktik an. Statt die Muskeln anzuspannen, ließ er seinen Körper erschlaffen. August, der sich gegen einen erneuten Kraftausbruch gewappnet hatte, rechnete nicht mit einer gegenläufigen Bewegung. Die Schlinge glitt ihm aus der Hand und dieser kurze Moment der Verwirrung gab Bastian die Gelegenheit, sich aus Augusts Fängen zu befreien. Zwar reichte Bastians Finte nicht aus, um August zu entwaffnen, aber immerhin hatte er genügend Abstand zwischen sich und seinen Feind gebracht. Zornig riss er die Schlinge über seinen Kopf und warf sie in hohem Bogen weg.

»Hört auf, mich zu verfolgen! Sonst sperre ich Euch für den Rest Eures Lebens in den Juddeturm«, zischte Bastian aufgebracht.

August ließ sich nicht beirren. Er hatte bereits zum Gegenangriff ausgeholt, den Dolch hoch über seinen Kopf erhoben. Als er Bastians Stimme hörte, hielt er inne und setzte ein erschrockenes Gesicht auf. Er verharrte in dieser Stellung und starrte Bastian an. Völlig irritiert blickte dieser sich um. Warum hatte August plötzlich Angst? Er konnte nichts entdecken. Als er den Kopf wieder nach vorne drehte, bemerkte er Augusts zuckende Mundwinkel, die mühsam ein Lachen verbargen.

»Für ein paar Momente hatte ich schon Angst, Ihr hättet Euch während meiner Abwesenheit verändert, lieber Bastian.« August grinste jetzt über das ganze Gesicht. »Aber wie ich sehe, seid Ihr immer noch unberechenbar.«

»Was wollt Ihr? Ein dummes Spiel mit mir spielen?«, bellte Bastians Stimme drohend in den beginnenden Tag hinein. August machte sich offenbar über ihn lustig. Er stand kurz vor der Explosion. »Ihr wollt doch, dass ich den Mörder Eurer Stiefmutter finde. Ihr tätet also gut daran, mich meine Arbeit tun zu lassen.« Bastian holte hörbar Luft durch die Nase und fügte hinzu: »Und hört auf, mich zu verhöhnen!«

August schüttelte gespielt den Kopf. »Das würde ich niemals wagen!« Mit einem Ruck spannte er seinen Körper an und ging erneut in Angriffsstellung. Bastian zuckte zurück und August brach im gleichen Moment in schallendes Gelächter aus. »Es tut mir leid, Bastian Mühlenberg. Das ist mein Naturell. Nichts an mir ist so, wie es scheint und doch stehe ich hier vor Euch und versuche, Euch zu helfen.«

Bastian kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er wollte diesen Mistkerl überwältigen. Seine Gedanken überschlugen sich nahezu. Da behauptete August doch tatsächlich, er wolle ihm helfen. Das war einfach lächerlich. Bisher hatte er Bastian nichts als Scherereien eingebracht.

Plötzlich hatte er eine Idee. Er würde Augusts Spiel nicht mehr länger mitmachen. Ein listiges Lächeln huschte über Bastians Gesicht. Dann entspannte er schlagartig seinen Körper und setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden.

»Ich habe Euer Spiel satt. Sagt, was Ihr wollt oder verlasst auf der Stelle die Stadt!« Demonstrativ lehnte Bastian den Kopf zurück und wartete.

August betrachtete Bastian eine Weile. Dann ging er auf die Knie und kroch so dicht an Bastian heran, dass dieser wieder seinen vergorenen Atem riechen konnte. August holte seinen Dolch hervor und fuhr spielerisch damit über Bastians Brust. Dieser ließ es ohne mit der Wimper zu zucken geschehen.

»Also gut, mein Freund«, hob August erneut an. »Ihr habt den Boten verpasst.«

Erstaunt blickte Bastian in die grünen Augen, die jetzt so dicht vor ihm waren, dass er kleine gelbe Punkte darin erkennen konnte. »Was meint Ihr damit? Wer ist der Bote?«

August seufzte theatralisch. »Der Bote, der betrunken vor Euren Füßen lag und der vermutlich der Letzte war, der meine Mutter lebend gesehen hat. Ihr solltet ihn für mich aufspüren, aber stattdessen habt ihr ihn achtlos liegen lassen.«

»Warum sprecht Ihr ständig in Rätseln?« Bastian verstand August nicht. »Hättet Ihr mich von Anfang an an Eurem Wissen beteiligt, hätte ich diesen betrunkenen Taugenichts sicher nicht des Nachts in der Gasse zurückgelassen. Woher wollt Ihr überhaupt wissen, dass dieser Kerl Martha als Letzter begegnet ist?«

»Nun, ich habe mich bei ein paar alten Bekannten umgehört. Ihr wisst doch selbst, dass ich nicht einfach unbescholten durch Zons laufen kann. Dafür brauche ich Euch.«

Ein Geräusch ließ Bastian aufschrecken. Er drehte sich um und erblickte Bechtholt den Nachtwächter, der schlaftrunken durch das enge Gässchen auf ihn zuwankte. Dabei stieß er achtlos mit seiner Laterne an die Häuserwände. Das Scheppern hallte wie ein leiser Donnerhall durch die Gasse. Instinktiv duckte Bastian sich. Er wollte nicht entdeckt werden. Als er sich vorsichtig umdrehte, bemerkte er, dass August verschwunden war. Lautlos wie ein Schatten kroch er tiefer hinein in die enge Nische, an deren Rand August ihm aufgelauert hatte. Mit den Händen tastete er im Dunkeln nach seinem zwiespältigen Gegner. Seine Finger glitten ins Leere und fühlten nichts als den rauen Basaltstein, aus dem der Großteil der Stadtmauer bestand. Der Nachtwächter schlurfte geräuschvoll an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Bastian verharrte weiter im Dunkel, bis er sich ganz sicher war, dass Bechtholt ihn nicht mehr entdecken konnte. Dann erhob er sich müde und machte sich auf den Weg zu Wernhart. Seine Gedanken kreisten um August und dessen seltsames Benehmen. Auf der einen Seite konnte Bastian nachvollziehen, dass er Marthas Mörder stellen wollte und deshalb auf seine Hilfe angewiesen war. Auf der anderen Seite fragte er sich, warum August ständig versuchte, ihm Angst einzujagen. Er begriff Augusts Wesen nicht. Eigentlich hielt er ihn für einen kaltblütigen Menschen, aber Augusts Suche nach dem Mörder seiner Stiefmutter passte nicht richtig in dieses Bild. Wäre er tatsächlich von Grund auf kaltblütig, so wäre ihm Marthas Tod völlig egal. Auch Bastian hatte August sein Leben zu verdanken. Als er vor ein paar Monaten in der Klemme steckte, hatte August ihm geholfen. Er hätte ihn ebenso gut sterben lassen können. Bastian seufzte leise. Es schien fast so, als sei August vom Teufel besessen und ab und an glomm ein Licht Gottes in ihm auf. Er war so zwiespältig wie die Zunge einer Schlange und Bastian musste vor ihm auf der Hut sein. Sicher würde er seine Hinweise weiterverfolgen, aber trauen konnte er August keinesfalls. Er würde Marthas Mörder zur Strecke bringen, jedoch nicht weil es Augusts Wunsch, sondern Bastians ureigene Aufgabe als Soldat der Stadtwache war.

 

 

...

 

 

»Ihr müsst Euch doch erinnern, ob Ihr mit Martha zusammen das Fest verlassen habt oder nicht!« Bastian donnerte seine Faust auf die Holzplatte. Der Bruderälteste, Franziskus Nolden, zuckte sichtlich zusammen. Lodewich Jansen, der neben ihm saß, rieb sich nervös mit den Handballen über die Oberschenkel.

Bastian sog tief Luft ein. Sein Freund Wernhart tat es ihm gleich. Sie hatten die beiden in eine Zelle des Juddeturms gesperrt, um ihrer Befragung möglichst viel Nachdruck zu verleihen. Die meisten Bewohner von Zons hatten Angst davor, hier als Sünder zu landen. Der Juddeturm galt als ausbruchssicher. Sein Inneres beherbergte ein Verlies, welches sich elf Meter tief unter der Erde befand und nur durch eine kleine Öffnung mit Hilfe eines Seils zu erreichen war. Selbst die Mahlzeiten mussten diesen Weg nehmen. Licht drang nur spärlich durch die winzigen Öffnungen des Eisengitters, das den einzigen Ein- und Ausgang verschloss. Wer hier unten landete, hatte keine Aussicht auf Flucht. Der Juddeturm besaß in den oberen Etagen noch weitere Gefängniszellen. Von hier aus war vor einiger Zeit dem Mörder Dietrich Hellenbroich die Flucht gelungen. Alleine die Erinnerung an seine Gräueltaten trieb Bastian den Schweiß auf die Stirn.

Er fokussierte seinen Blick erneut auf die beiden Männer, die ängstlich vor ihm saßen. Bastian hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen. Noch immer steckte ihm die Begegnung mit August in den Knochen. Er hatte wenig Lust, seine Zeit mit neuen Lügengeschichten zu vergeuden. Er wollte endlich vorankommen. Außerdem fühlte er sich irgendwie verloren. Seit seine kleine Tochter auf die Welt gekommen war, hatten sich seine Träume verändert. Während er vorher unablässig von dieser wunderschönen brünetten Frau geträumt hatte, suchten ihn jetzt die Mörder heim, die er einst gejagt hatte. Seine Anna hingegen verblasste mehr und mehr. Es brach Bastian das Herz. In seinen Träumen war er mit ihr in einer anderen Welt, die sich so real anfühlte, dass er manchmal schon fast glaubte, dass sein eigentliches Leben ein Traum war. Natürlich, er liebte seine Frau und seine Tochter, aber Anna durchdrang sein Herz auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte. Seine Sehnsucht nach ihr war übermächtig. Dass er sie nicht mehr im Traum erlebte, machte ihn einsam. Bastian spürte eine unerträglich Leere in sich, die an ihm fraß, wie Ratten an einem Kadaver. Deshalb musste er im Mordfall Martha endlich vorankommen. Wenn seine Gedanken wieder frei wären und er sich entspannte, würden seine Träume zurückkehren, da war Bastian sich ganz sicher.

Sein Blick auf die beiden Männer verhärtete sich. »Also, genug des Nachdenkens. Wer von Euch beiden hat Martha zuletzt gesehen?«

Der Bruderälteste fasste sich als Erster. »Ich saß neben Martha am Tisch, keine fünf Meter von Euch entfernt. Ich habe genauso viel getrunken wie Ihr auch. Warum also glaubt Ihr, ich könnte mich besser erinnern, als Ihr selbst es könntet?«

Bastian fühlte die Wut in sich aufbrodeln. Er konnte Franziskus Nolden nicht ausstehen. Dieser hatte erst vor kurzem das Amt seines verstorbenen Bruders übernommen. Wie alle Bruderältesten der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft strahlte Franziskus eine Arroganz aus, die Bastian abstieß. Damit konnte er vielleicht die Schützenbrüder beeindrucken, ihn jedoch nicht. Franziskus hatte großes Glück, dass er noch auf freiem Fuß war. Wäre es nach Bastian gegangen, würde er die nächsten Jahre wegen Münzfälscherei im Verlies verrotten. Er hatte seinen Bruder vor ein paar Monaten dabei erwischt und war sich sicher, dass auch Franziskus in die Sache verstrickt war. Doch Nolden hatte einflussreiche Freunde in der Kirche und diese hatten die schützende Hand über sein Haupt gehalten. Franziskus wurde nicht einmal vor das Schöffengericht gestellt, obwohl Bastian alle erdenklichen Beweise hatte vorlegen können. Er spuckte verächtlich aus. »Nun, Nolden, die Antwort ist ganz einfach. Ihr habt Euch den ganzen Abend mit Martha unterhalten und amüsiert. Etwas davon wird in Eurem Hohlkopf doch hängengeblieben sein!«

Ehe Nolden erneut antworten konnte, fing Lodewich an zu schluchzen. »Ich bin mit ihr zusammen aufgebrochen. Franziskus war längst gegangen.« Bastian traute seinen Ohren nicht. Hatte der Bruderälteste Lodewich etwa unter Druck gesetzt, damit er alle Schuld auf sich nahm? Er sah Lodewich tief in die Augen. Wenn er den Blickkontakt abbrach, log er. Doch Lodewich hielt seinem Blick ohne Zögern stand.

»Also gut, zeigt mir Eure Arme und Euren Oberkörper.«

Lodewich starrte Bastian ungläubig an. »Warum? Was wollt Ihr von mir?«

»Das hat Bastian Mühlenberg doch gerade klar gesagt!« Wernhart hielt es nicht länger an der Tür aus. Er hatte Bastians Frage auf Anhieb verstanden und zwinkerte ihm zu. »Und während Ihr Euer Wams auszieht, beschreibt uns doch einmal, was Ihr zur Geburtstagsfeier von Pfarrer Johannes getragen habt.«

Zögernd begann Lodewich, das Wams über den Kopf zu ziehen. Dicke rote Striemen kamen zum Vorschein. Entsetzt trat Bastian näher. »Wer hat Euch das angetan?«

»Mein Herr. Ich war nicht aufmerksam genug.« Lodewich schluchzte nun lauthals. »Aber ich habe Martha nichts getan. Ich habe sie bis zur Hubertusstraße begleitet. Das war nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt. Ich hatte keine Ahnung, dass sie nicht hineingegangen ist. Bitte glaubt mir!«

Bastian hatte kaum Ohren für Lodewichs Worte. Seine Augen hingen immer noch an den blutverkrusteten Striemen, die Lodewichs ganzen Körper überzogen. Er hatte schon oft gehört, dass der Hafenmeister nicht zimperlich war. Dass er jedoch solche Züchtigungen durchführte, erschütterte Bastian. Eigentlich hätte man Lodewichs Schreie bei einer derartigen Bestrafung in ganz Zons hören müssen. Bastian griff Lodewich in den Nacken und betrachtete Hals und Mund des weinenden Mannes. Die Antwort lag auf der Hand. Dicke Einschnittspuren prangten an Lodewichs Gurgel und die Mundecken waren von Schorf übersät. Er hatte den Ärmsten gefesselt und geknebelt, bevor er mit der Prügel begann. Kein Wunder, dass niemand Lodewichs Schreie gehört hatte. Bastian würde mit Pfarrer Johannes darüber sprechen. Lodewich war kein Leibeigener, und egal, wie schwer sein Fehler gewesen war, das hatte er nicht verdient.

»Was habt Ihr angestellt?«

Lodewich wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe eine wertvolle Ladung verloren. Es war Saatgut und hätte nicht nass werden dürfen, doch ich habe nicht achtgegeben und die Ladung fiel ins Hafenbecken.« Lodewich schüttelte den Kopf. »Alles war verdorben und mein Herr hat keinen einzigen Kreuzer dafür bekommen.«

Bastian ergriff Lodewichs Arme und untersuchte sie ausgiebig. Er wusste, dass Martha sich heftig gewehrt hatte. Ihr Mörder musste demzufolge etliche Kratzspuren am Körper aufweisen. Da sich diese Spuren deutlich von denen unterschieden, die ein Lederriemen verursachte, würde Bastian also fündig werden, wenn Lodewich etwas mit Marthas Tod zu tun hatte. Doch seine Unterarme waren völlig frei von Kratzern. Dasselbe galt für den Rest seines Körpers.

»Ich glaube Euch!«, sagte Bastian und ließ von ihm ab. »Zieht Euch wieder an.« Er drehte sich zum Bruderältesten um, der wie angegossen auf seinem Stuhl saß. Im Gegensatz zu Lodewich wich er Bastians Blick aus.

»Wollt Ihr uns nicht von Eurer Unschuld überzeugen? Diesmal helfen Euch Eure hochrangigen Freunde nicht!«

Der Bruderälteste knurrte: »Ich bin kein Mörder und im Gegensatz zu ihm dort hatte ich auch nie ein Interesse an Martha.« Mit einem schiefen Grinsen deutete er in Lodewichs Richtung. Dieser lief auf der Stelle rot an. Bastian ließ sich jedoch nicht ablenken. »Los, zieht Euer Wams aus!«

Franziskus Nolden tat wie ihm befohlen und zog sich langsam das Wams über den Kopf. Die blasse faltige Haut eines alten Mannes kam zum Vorschein. Bastian kniff die Augen zusammen und begutachtete den Oberkörper und die Arme des Bruderältesten. Nichts. Kein einziger blauer Fleck oder noch so kleiner Kratzer waren auf der unversehrten Haut Noldens zu erkennen. Bastian war enttäuscht. Es wäre zu schön gewesen, wenn er Nolden hätte festsetzen können. Aber wahrscheinlich hatte dieser recht. Er war kein Mörder und im Gegensatz zu Lodewich fehlte ihm jedes Motiv. Martha war weder äußerlich sein Typ noch besaß sie irgendetwas Wertvolles, was für Nolden interessant gewesen wäre. Nein. Der Bruderälteste war diesmal nicht im Spiel. Bei Lodewich sah es schon anders aus. Zwar konnte sich Bastian nicht vorstellen, dass er Martha auch nur ein Haar gekrümmt hatte, aber jeder in Zons wusste, dass er sie gerne zur Frau gehabt hätte. Nur stieß seine Zuneigung zu Lodewichs Unglück nie auf Gegenliebe. Seit Jahren hatte er Martha vergeblich den Hof gemacht. Es wäre nicht verwunderlich, wenn ihm nach einem ausgiebigen Fest mit einer großen Menge Alkohol im Blut die Nerven durchgegangen wären.

»Gut, dann wiederhole ich jetzt Wernharts Frage. Was hattet ihr beide am Abend des Geburtstagsfestes für Kleidung am Leib?« Bastian hatte sich vor der Vernehmung mit Wernhart abgestimmt. Der Arzt Josef Hesemann hatte einen dunkelblauen feinen Stofffetzen in Marthas Faust gefunden. Vermutlich hatte sie diesen Fetzen ihrem Mörder beim vergeblichen Überlebenskampf aus der Kleidung gerissen. Leider handelte es sich hierbei nur um ein kleines Stoffstückchen. Josef hatte weder Nähte noch andere Applikationen entdeckt. Sie waren sich also nicht sicher, ob es sich tatsächlich um den Rest eines Kleidungsstückes oder gar etwas ganz anderes handelte.

»Ich habe wie üblich zu besonderen Anlässen meine Schützentracht getragen.«

Bastian nickte. Auch in diesem Punkt konnte er dem Bruderältesten nichts anlasten. Die Schützentracht bestand aus schwarzer Kleidung. Selbst die spitzen Filzhüte, die auf ihn immer bedrohlich wirkten, waren tiefschwarz.

»Ich kann mich nicht genau erinnern«, wimmerte Lodewich.

Kein Wunder, dass die schöne Martha kein Interesse an ihm gehabt hatte, fuhr es Bastian durch den Kopf. Lodewich verkörperte im Grunde nichts Männliches. Er war klein und untersetzt gebaut. Das Haar war ihm bereits in jungen Jahren ausgegangen und Wohlstand hatte er auch nicht zu bieten. Bastian seufzte. Der arme Tropf würde wohl zeitlebens ohne Weib bleiben.

»Dann denkt nach. Wir haben Zeit.«

Lodewich fühlte sich sichtlich unter Druck gesetzt und lief rot an. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Seine Augen rollten vor Anstrengung nach oben, während er nachdachte.

»Ich glaube, ich hatte meine helle Leinenhose und das graue Wams an«, stotterte er schließlich.

»Könnt Ihr das bestätigen?« Bastians Blick ruhte wieder auf dem Bruderältesten, der sich nachdenklich am Kinn kratzte.

»Ich denke, ja. Soweit ich mich erinnere, war das seine Kleidung an jenem Abend.«

Bastian seufzte. Im Grunde hatte er vorher schon geahnt, dass die Befragung der beiden keine neuen Erkenntnisse bringen würde. Den Bruderältesten konnte er komplett von seiner Liste streichen. Blieb nur noch Lodewich übrig, der Martha zumindest bis zur Hubertusstraße begleitet hatte. Bastian dachte nach. Martha wohnte eine Parallelstraße von der Hubertusstraße entfernt in der Wendelstraße. Ihr Haus befand sich in südlicher Richtung kurz hinter dem Feldtor, dem westlichen Ausgang der Stadt. Bis zum Burggraben, der einmal um die komplette Stadtmauer herum führte, waren es ungefähr fünfzig Meter. Irgendetwas oder irgendwer musste sie auf dem Weg nach Hause durch das Feldtor hindurch aus der Stadt geführt haben. Er schüttelte den Kopf. Das ergab alles keinen Sinn. Martha wurde im Burggraben an der Südmauer gefunden und nicht auf der Westseite, die man durch das Feldtor erreichte. Da sie jedoch in der Wendelstraße wohnte, die parallel zum westlichen Burggraben verlief, musste sie an ihrem eigenen Haus vorbeigelaufen sein.

Im Geiste lief Bastian die Zonser Straßen ab. Warum sollte sie bis zum Südtor gelaufen sein? Natürlich wäre sie auch durch das Feldtor nach draußen gelangt, aber das ergab keinen Sinn.

»Lodewich, seid Ihr sicher, dass Euch niemand begegnet ist, als Ihr Martha begleitet habt?«

Lodewich nickte: »Ich sage es Euch doch. Ich habe nichts gesehen. Sonst hätte ich Martha doch nicht den Rest des Weges alleine gehen lassen.«

Bastian stand vor einem Rätsel. Er würde versuchen, den Weg zu rekonstruieren, den Martha wahrscheinlich in jener Nacht zurückgelegt hatte. Es musste etwas mit der Südmauer zu tun haben, schließlich hatte auch August ihn dorthin geschickt. Der nächste logische Schritt war es, den betrunkenen Boten aufzutreiben. Zu schade, dass August so schnell verschwunden war. Da er keine Ahnung hatte, wo August sich aufhielt und Bastian sich sicher war, dass er ihn ohnehin nicht aufspüren konnte, solange dieser es nicht wollte, würde er sich wohl alleine auf die Suche nach dem Boten machen müssen.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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