IX.
Gegenwart
Anna ging am Rhein spazieren. Es war helllichter Tag und die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Der Himmel war strahlend blau. Gutgelaunt träumte sie vor sich hin und ließ ihre Gedanken frei umherschweifen. In der Ferne nahm sie plötzlich eine hockende Gestalt wahr, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte und ging auf die Gestalt zu. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, so dass sie nur seine breiten Schultern und sein vom Wind zerzaustes blondes Haar sehen konnte. Trotzdem wusste sie augenblicklich, wen sie da vor sich hatte. Sie erinnerte sich an den Abend vor gut zwei Wochen, als er sie in der Dunkelheit sicher nach Hause begleitet hatte. Als wenn er ihren Blick spüren konnte, drehte er sich mit einem Mal um und sah sie aus seinen tiefbraunen Augen lächelnd an. Ihre Knie wurden ganz weich. Sie überlegte krampfhaft, was sie sagen könnte. Aber ihr fiel kein einziges Wort ein. Sie brachte lediglich ein krampfhaftes, kurzes Nicken zustande. Glücklicherweise nahm er ihr den Anfang ab.
»Hallo, wie geht es Ihnen? Freut mich sehr, Sie wiederzusehen.« Gerade wollte sie zu einer Antwort anheben, als er sich ganz plötzlich in Luft auflöste. Er war weg. Es wurde noch schlimmer. Bastian war weg, der Rhein verblasste und verschwand und mit einem Mal stand sie allein im Dunkeln. Erschrocken fuhr sie hoch. Es war 21:00 Uhr. Sie war auf der Couch eingeschlafen und hatte geträumt.
Annas Hals fühlte sich trocken an. Langsam richtete sie sich auf und ging dann schlaftrunken in ihre Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und lief zum Wasserhahn hinüber. Dann drehte sie den Hahn auf und blickte dabei aus dem Küchenfenster. Komisch, unter der Laterne stand jemand und sah zu ihr hinauf. Im ersten Augenblick erschrak sie und dachte ein Stalker würde sie verfolgen und jetzt vor ihrem Fenster übernachten. Doch als sie genauer hinsah, glaubte sie den Mann zu erkennen, von dem sie gerade geträumt hatte. Er winkte ihr zu. Jetzt war sie sich sicher, dass es dieser Bastian sein musste. Oder wie immer er auch hieß, sie hatte seinen Namen ja nur geträumt. Sie winkte zurück, nahm einen großen Schluck Wasser, zog sich schnell Jeans und Sweatshirt an und ging dann auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Leise öffnete sie die Tür. »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«, flüsterte sie. »Nein, ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist.«
»O.K., ja. Es ist alles in Ordnung«, antwortete Anna. Ein kurzer Moment der Stille entstand und dann fragte sie:
»Haben Sie Lust eine Tasse Tee mit mir zu trinken?«
»Gerne, wenn Sie nichts dagegen haben, einen Fremden zu so später Stunde in Ihr Haus zu lassen.«
Anna öffnete die Haustür ein Stückchen weiter und winkte ihn hinein. Ein bisschen war sie selbst darüber erschrocken, einen eigentlich fremden Menschen in ihr Appartement zu bitten, doch tief in ihrem Innersten hatte sie ein gutes Gefühl und spürte, dass sie sicher bei ihm war. Er folgte ihr die Treppe hinauf und sie bat ihn, in der Küche Platz zu nehmen. »Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie mich damals nach Hause begleitet haben. Es war wirklich schon ziemlich spät und verdammt dunkel draußen«, sagte Anna, während sie Wasser für den Tee aufsetzte. »Ich heiße übrigens Anna.«
»Sehr erfreut. Bastian«, antwortete er, »Ich wollte nur, dass Ihnen nichts geschieht. Ich schaue hier öfter nach dem Rechten.«
»Ach, dann gehören Sie zu der neuen Zivilstreife, die seit letztem Monat verstärkt in Zons Wache schiebt? Ich habe gedacht, der Bürgermeister hat das gar nicht ernst gemeint. Also zumindest habe ich immer wieder gelesen, wie sich die Medien darüber lustig gemacht haben, weil man ja nie jemanden von der Patrouille zu Gesicht bekommen hat«, sprach Anna in einem Atemzug und vergaß ganz Bastians Antwort abzuwarten. Sein kurzes Nicken war ihr Bestätigung genug und so redete sie munter weiter und verwickelte ihn in ein lustiges Gespräch über die Stadt Zons und ihre Besonderheiten. »Wohnen Sie schon lange in Zons?«
»Oh ja, sehr lange. Fast länger als mir lieb ist«, antwortete er und lächelte sie an.
Sie unterhielten sich prächtig und nach ungefähr einer Stunde sagte Bastian, dass es schon sehr spät wäre und er sie jetzt zu Bett gehen lassen wolle. Anna war im ersten Augenblick ein wenig enttäuscht, wusste jedoch, dass dies besser so war. Sicher würde sie ihn wiedersehen. Sie hoffte es jedenfalls inständig. Als er sich verabschiedete, nahm er ihre Hand und gab ihr einen kurzen Handkuss. Seine etwas altmodische Art fand Anna zwar sehr ungewöhnlich, aber auch irgendwie attraktiv. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie von Martin jemals so zuvorkommend und galant behandelt worden wäre. Sie war so gerührt von diesem Moment, dass sie ganz vergaß, nach seiner Handynummer zu fragen. Es versetzte ihr einen kleinen Stich ins Herz, als ihr auffiel, dass auch er sie nicht nach ihrer Nummer gefragt hatte. Doch sie wollte sich die Stimmung nicht verderben lassen und so schloss sie dieses nette Gespräch in ihr Herz ein und hoffte sehnlichst auf ein Wiedersehen.
Mitten in der Nacht öffnete Anna die Augen. Das Gespräch kam ihr irgendwie unwirklich vor. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr sicher, ob Bastian wirklich da gewesen war oder ob sie einfach nur erneut geträumt hatte.
...
Oliver Bergmann betrachtete sich im Spiegel. Seine neue Uniform stand ihm außerordentlich gut. Er war erst in der letzten Woche befördert worden und gehörte jetzt offiziell zur Kriminalkommission der Kreispolizeibehörde im Rhein-Kreis Neuss. Sein Zuständigkeitsgebiet erstreckte sich von Meerbusch, welches direkt an Düsseldorf angrenzt bis nach Rommerskirchen in der südlichen Ausrichtung. Er war für Gewaltdelikte verantwortlich. Hierunter fiel nicht nur Mord, sondern auch Vergewaltigung, Raub, schwere Körperverletzung und Vergiftung. Fast tausend Delikte dieser Art gab es pro Jahr und sein Team gehörte mit einer Aufklärungsquote von ungefähr 80 Prozent zu den erfolgreichsten Teams der Kreispolizei. Er hatte Glück gehabt, dass man ihn so schnell in die Kriminalkommission aufgenommen hatte. Vor ein paar Monaten, als er noch als normaler Streifenpolizist Verkehrskontrollen und Hausbesuche bei Lärmbelästigungen durchführte, konnte er seinen jetzigen Kollegen bei der Aufklärung des Mordes an einem Obdachlosen im Neusser Hauptbahnhof behilflich sein. Im richtigen Moment zückte er seine Handykamera und filmte den Täter auf der Flucht. Obwohl es schon dunkel gewesen war, konnte das Labor in der anschließenden Untersuchung das Fahrzeugkennzeichen von seiner Handy-Videoaufzeichnung isolieren und sichtbar machen. Somit wurde es möglich, den Täter schnell zu fassen. So viel Instinkt und vorausschauendes Handeln hatten mächtig Eindruck auf Hans Steuermark, den Leiter der Kriminalkommission, gemacht und so holte dieser ihn binnen kürzester Zeit in sein Team. Seine Abschlussnoten waren zwar nicht die Besten gewesen, aber Steuermark interessierte das nicht. Sogar Kandidaten mit besseren Noten hatte er abgelehnt. Für ihn zählte kein theoretisches Hochglanzwissen auf dem Papier, sondern Schnelligkeit, logisches Denkvermögen und der richtige Instinkt.
Das Handy klingelte. Oliver sah auf das Display und runzelte die Stirn. Es war schon wieder seine Mutter. Obwohl es gerade mal acht Uhr morgens war, rief sie nun schon zum zweiten Mal an. Seit sein Vater vor einem Jahr gestorben war, fühlte sich seine Mutter in dem großen Haus sehr einsam und deshalb besuchte Oliver sie so oft, wie es ging. Er telefonierte fast täglich mit ihr und eigentlich verstanden sie sich recht gut, aber an manchen Tagen konnte sie ihm wirklich auf die Nerven gehen. Er konnte sich jetzt schon ausmalen, was sie ihn noch fragen wollte. Er hatte seinen Besuch am Wochenende angekündigt und seine Mutter war nun in heller Aufregung wegen der Essensplanung. Vorhin erst rief sie ihn an, um zu fragen, ob sie auch seine Cousine einladen solle. Es konnte sich bei diesem erneuten Anruf innerhalb kürzester Zeit also nur noch um das Essen handeln. »Hallo Mama«, sagte Oliver, »was gibt es denn?«
Tatsächlich fragte sie ihn, was er schon längst erahnt hatte, nämlich was sie am Wochenende kochen solle. Da er in einer viertel Stunde auf dem Revier sein musste, beendete er das Telefongespräch mit seiner Mutter zügig und machte sich dann auf den Weg. Keine zehn Minuten später war er in seinem Büro angekommen, wo sein Partner Klaus ihn schon erwartete. »Oliver, wir müssen sofort los. Steuermark will, dass wir den Fall ‚Waldleiche‘ übernehmen. Die Jungs aus Düsseldorf sind schon vor Ort und ich habe keine Lust, dass sie uns den Fall wieder abnehmen.« Oliver erinnerte sich an den letzten Fall von Klaus. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht an Bord gewesen, aber Klaus hatte fast ein Jahr lang an dem Mordfall an einer 7-Jährigen ermittelt. Da er nicht der Schnellste war, übernahm am Ende die Mordkommission Düsseldorf den gesamten Fall. Das war für Klaus ganz besonders ärgerlich, da er eine Menge Arbeit in den Fall gesteckt hatte und auch auf der richtigen Spur war. Doch die Düsseldorfer hatten großen Druck gemacht, da das kleine Mädchen aus einer angesehenen Düsseldorfer Familie stammte und man den Täter nach dieser langen Zeit unbedingt so schnell wie möglich schnappen wollte. Klaus ging bei seinen Ermittlungen immer auf Nummer sicher und beschuldigte erst dann jemanden, wenn er absolute Gewissheit über die Tat hatte. Doch im Fall des kleinen Mädchens wollte man einen Täter festnehmen, auch wenn es zum damaligen Zeitpunkt erst mit höchstens 80 Prozent Wahrscheinlichkeit der richtige Mann war. Seitdem machte Klaus bei seinen Fällen mehr Tempo und so blieb Oliver noch nicht einmal Zeit für einen Kaffee.
Sie fuhren zu einem Waldstück an der Autobahn A57 bei Neuss. Dort hatte ein Waldarbeiter die Leiche eines 27-jährigen Mannes gefunden. Der Tote hatte mehrere tausend Euro bei sich. Er war bis auf seine Schuhe vollständig bekleidet. Von den Schuhen und seiner Brieftasche fehlte jedoch jegliche Spur. Darüber hinaus waren der Leiche die Fingerkuppen verbrannt worden. Offensichtlich wollte der Täter verhindern, dass das Opfer schnell identifiziert werden konnte. Bisher hatte man mit Hilfe von Zeugenaussagen und der Untersuchung der Reifenspuren zumindest das Fluchtfahrzeug auf die Marke Ford reduzieren können. Des Weiteren wurde vor gut zwei Wochen eine Brieftasche in einer Hausmülltonne unweit einer großen Wohnsiedlung in Düsseldorf gefunden. Die Daten des in der Brieftasche gefundenen Personalausweises stimmten mit der Vermisstenmeldung von vor 8 Wochen zu einem jungen Mann überein. Die Identifizierung der Leiche stand somit aus Olivers Sicht kurz bevor. Warum die Leiche so viel Bargeld bei sich hatte, ergab im ersten Moment keinen Sinn. Denn es handelte sich um nicht registrierte Scheine, die der Täter leicht hätte ausgeben können, ohne erwischt zu werden. Vielleicht ist der Täter bei der Entsorgung des Leichnams ja einfach nur überrascht worden und hatte somit keine Zeit mehr, die Leiche gründlich zu durchsuchen. Andererseits könnte Geld oder Habgier auch gar nicht das Mordmotiv gewesen sein. Möglicherweise hatte der Täter sich deshalb nur darauf beschränkt, die Leiche unkenntlich zu machen. Das viele Geld war ihm eventuell völlig egal. Besonders erfahren war der Täter dann jedenfalls nicht, denn die größten Chancen für die Identifizierung einer Leiche waren immer noch die Zähne und diese hatte der Mörder seinem Opfer nicht ausgeschlagen. An diesem Fall würden Oliver und Klaus noch so einiges recherchieren müssen, um endlich auf die richtige Spur zu kommen.