XII.
Vor fünfhundert Jahren
Was trieb der Fremde dort oben? Noch immer stand Wernhart unter dem Wehrgang an der südlichen Stadtmauer, während sich oben die Gestalt in der schwarzen Kutte zu schaffen machte. Wernhart spitzte die Ohren. Erneut hörte er ein Klicken, gefolgt von einem kurzen Schleifton. Wernhart kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen, doch von dieser Stelle aus war das schlicht unmöglich. Er musste näher an den Mann herankommen. Als Mitglied der Stadtwache war Wernhart mit dem Aufbau der Stadtmauer vertraut. Sie bestand im unteren Teil aus schwarzen Basaltsteinen, die weiter oben durch Ziegelsteine abgelöst wurden. Dort gab es nichts, was diese merkwürdigen Geräusche hätte verursachen können. Bei seinen Dienstgängen an der Südmauer war er hunderte Male an dieser Stelle vorbeigelaufen und ihm war nie etwas aufgefallen. Doch wie sollte er näher an den Kuttenträger herankommen, ohne aufzufallen? Wernhart grübelte. Sollte er lieber abwarten, bis der Mann sich wieder entfernte? Aber dann lief er Gefahr, die Ursache des Geräusches niemals herauszufinden. Er könnte ihn einfach stellen und ihn anschließend im Juddeturm verhören. Er war in das Haus von Josef Hesemann eingedrungen. Das genügte bereits, um ihn vor ein Schöffengericht zu stellen.
Eine heisere Stimme hallte durch Wernharts Kopf. Verfolgt ihn! Instinktiv griff er sich an den Hals. Noch immer spürte er die Schlinge, die der Angreifer ihm hinterrücks um den Hals gelegt hatte. Wernhart seufzte. Wenn er herausfinden wollte, was der Kuttenträger dort oben trieb, musste er sich unentdeckt an ihn heranschleichen. Es gab keine andere Möglichkeit. Er blickte sich um. Im Abstand von ungefähr fünfzig Metern führten Treppen zum Wehrgang hinauf. Dieser Weg war ihm jedoch versperrt, da der Fremde ihn sofort sehen würde. Wernhart hielt sich die Hand über die Augen und schätzte die Maße der Holzkonstruktion ab, auf deren schweren Holzbalken der Wehrgang ruhte. Es gab im unteren Bereich keine Querbalken. Er würde eine Höhe von über zwei Metern überbrücken müssen. Mit den Oberarmen konnte er sich an den Außenpfosten nach oben ziehen. Das würde eine Menge Kraft kosten und Wernhart musste zudem extrem leise sein. Das kleinste Geräusch würde ihn verraten.
Er holte tief Luft und spuckte in die Hände. Langsam zog er sich einen halben Meter nach oben und verschränkte dann seine Oberschenkel um den dicken Holzpfosten. Er griff weiter nach oben und zog sich erneut hoch. Das Holz war nur grob geschlagen. Splitter ragten scharf aus dem Pfosten hervor, drangen durch die Haut in sein Fleisch ein und verursachten höllische Schmerzen. Wernhart biss die Zähne zusammen. Er bewegte sich langsam und atmete flach. Die Hälfte der Strecke war bereits geschafft. Wernhart spürte, dass die Kraft seiner Oberarme langsam nachließ. Ein Zittern lief durch seine Muskeln. Der Fremde hatte sich immer noch keinen Zentimeter bewegt. In regelmäßigen Abständen erklang das vertraute Klicken, dessen Ursache Wernhart unbedingt ergründen wollte. Er blickte nach oben. Noch zwei, drei Züge. Dort oben war der ersehnte Querbalken, auf dem er vorerst Halt finden würde. Erneut spannte er die Muskeln seiner Oberarme an und zog sich hoch. Schweißperlen rannten über die Stirn bis ins Auge, und Wernhart blinzelte. Er hatte sein Ziel im Visier und kämpfte sich die restlichen Zentimeter empor. Mit einem letzten Klimmzug hievte er sich auf den Querbalken. Der Fremde hatte einen Schritt zur Seite gemacht und nestelte weiter an den Steinen der Stadtmauer herum. Wernhart ergriff das äußere Ende der Holzdielen, die den Boden des Wehrganges bildeten, und zog sich schräg nach oben. Er hing jetzt quer unter den Holzdielen und schob sich so weit nach vorne, dass sein Kopf über den Boden hinausragte und seine Augen in das Innere des Wehrgangs blicken konnten. Die Muskeln seiner Oberarme zitterten erbärmlich, die Handflächen waren von Splittern übersät, doch Wernhart spürte längst keinen Schmerz mehr. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das gerichtet, was der Unbekannte dort tat.
Zunächst hatte er Schwierigkeiten, die Geräusche zuzuordnen. Der Fremde griff in die Stadtmauer hinein, als gäbe es dort Löcher. Tatsächlich schob der Mann einen offensichtlich lockeren Stein beiseite und griff dann in die Öffnung hinein. Seine Finger bewegten sich und in diesem Moment machte es Klick. Die Hand wurde nach hinten gezogen und gab den Blick auf das Innere einer runden Öffnung, vielmehr ein Tonrohr, frei. Wernhart stockte der Atem. Wie war es möglich, dass er all die Jahre nichts davon geahnt hatte?
Der Unbekannte in der schwarzen Kutte holte ein leeres Glasgefäß aus dem Rohr. Ein verärgertes Grunzen entfuhr seiner Kehle, als er das Glas in die Luft hielt. Er schüttelte es, als könne er nicht glauben, dass es leer war. Der Fremde stieß einen Fluch aus und verstaute das Glas in der Innentasche seiner Kutte. Wernharts Oberarme zitterten jetzt so stark, dass er befürchtete den Halt zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Er beobachtete denselben Vorgang ein weiteres Mal. Wieder löste der Fremde den geheimnisvollen Mechanismus aus. Zuerst lockerte er einen Stein und griff dann in die Lücke hinein. Er drehte und zerrte so lange, bis die Öffnung des nächsten Rohres freilag. Auch in diesem Rohr befanden sich kleine Glasfläschchen, die allesamt leer waren. Der Unbekannte war mittlerweile so wütend, dass er sich kaum noch Mühe gab, seine Flüche zu unterdrücken. Was immer er in den geheimnisvollen Rohren der Stadtmauer verborgen hielt, es war nicht das, was er erwartet hatte.
Der Ruf einer Bachstelze schreckte Wernhart auf. Er ließ sich auf den Querbalken sinken und entspannte seine Oberarme. Der Ruf ertönte erneut. Verdutzt blickte Wernhart sich um. Nichts. Er ließ den Blick schweifen und blieb an einem blonden Haarschopf hängen, der hinter einer Tonne hervorlugte. Die Bachstelze stieß erneut ihren Lockruf aus und diesmal deutete Wernhart das Zeichen richtig. Bastian Mühlenberg hatte sich angeschlichen. Der Ruf der Bachstelze war ihr Erkennungssignal während der Nachtwache. Wernhart stieß denselben Laut aus und ließ sich langsam am Pfosten hinuntergleiten. Er hatte genug gesehen.
...
Bastian traute seinen Augen nicht. Er hatte sich zur südlichen Stadtmauer begeben, um nach Glasscherben aus jener Nacht, als er den Trunkenbold dort aufgeschreckt hatte, zu suchen. Er wusste zwar nicht, ob ihn das wirklich weiterbrachte, aber es war zumindest eine Spur, die er bisher außer Acht gelassen hatte. Wenn der Tote tatsächlich der Bote gewesen war, den er für August finden sollte, dann musste er etwas transportiert haben, und das Glas konnte möglicherweise der Schlüssel sein. Als Bastian sich der südlichen Stadtmauer näherte, staunte er nicht schlecht. Hoch über seinem Kopf hing Wernhart, der sich wie ein Akrobat am Boden des Wehrgangs festhielt. Er stemmte die Füße gegen den oberen Querbalken und krallte sich mit den Händen am Ende der Bodendielen fest. Sein Körper hing fast waagerecht in der Luft. Selbst aus der Entfernung konnte Bastian erkennen, dass Wernhart vor Anstrengung am ganzen Körper zitterte. Er folgte Wernharts Blick und erkannte eine dunkle Gestalt, die sich an der Mauer zu schaffen machte. Sein Verstand schaltete schnell und er duckte sich hinter einer Tonne, die ihm Sichtschutz bot. Er konnte sehen, dass Wernhart es nicht mehr lange dort oben aushalten würde.
Flink benetzte er seine Lippen und stieß das Erkennungssignal der Nachtwache aus. Es war der Ruf einer Bachstelze. Der Ton war so angelegt, dass er eine Nuance tiefer war als das Original. Nur ein Mitglied der Zonser Stadtwache kannte diesen winzigen Unterschied. Wernhart erstarrte, blickte dann in Bastians Richtung und ließ sich langsam am Holzpfosten des Wehrgangs hinabgleiten.
Auf Zehenspitzen lief er in Bastians Richtung. Seine Augen waren weit aufgerissen und der Körper schweißüberströmt. Bastian konnte Blut an Wernharts Händen sehen.
»Wer ist das dort oben?«, flüsterte Bastian.
»Ich weiß es nicht.« Wernharts Lungen pumpten und seine Stimme zitterte. »Oben in der Stadtmauer gibt es einen geheimen Mechanismus. Ich habe es genau beobachtet.« Wernhart fuchtelte mit den Händen und nahm schließlich einen Stock zur Hand. Im Sand malte er auf, was er gesehen hatte.
»Der Fremde hat kleine Glasflaschen aus den Rohren geholt und ich bin mir sicher, dass er wütend war, weil er sie allesamt leer vorfand«, schloss Wernhart seine Ausführungen ab.
Bastian hatte stumm zugehört und dachte angestrengt nach. Dann erhob er sich und ging ein paar Schritte zu der Stelle, an der er den betrunkenen Mann gefunden hatte. Die Glasscherben waren tief in den Sand getreten und jemand, der nicht danach suchte, hätte sie nicht bemerkt. Aber Bastian sah sie auf den ersten Blick. Vorsichtig grub er mit den Fingern danach und zog schließlich eine größere Scherbe hervor.
»Meinst du, das könnte einmal eine Flasche gewesen sein?«
Wernhart ergriff die Scherbe und nickte.
»Ja, ich bin mir sicher. Woher wusstest du ...?«
Bastian winkte ab. »Wir müssen herausfinden, wer der Mann dort oben ist.« Mit dem Finger zeigte er auf die schwarze Gestalt, die sich jetzt in Richtung der Treppen bewegte. Sie kam ihm merkwürdig bekannt vor. Der Gang und die arrogante Körperhaltung. Sein Verstand ratterte. Sollte das etwa Hugo von Spanheim sein?
Der Fremde hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass Bastian den Mann nicht identifizieren konnte. Ohne einen weiteren Blick auf die Glasscherben zu werfen, verstaute er sie im Wams und schlich dem Unbekannten hinterher, der inzwischen den Boden erreicht hatte. Wernhart war dicht hinter ihm. Es war helllichter Tag. Deshalb mussten sie großen Abstand wahren, um nicht entdeckt zu werden. Der Fremde blickte sich immer wieder nervös um.
»Bastian Mühlenberg! Wie gut, dass ich Euch treffe.« Die tiefe Stimme durchschnitt urplötzlich die Stille und Bastian blieb wie zu einer Salzsäule erstarrt stehen. Entsetzt registrierte er, wie der Mann in der schwarzen Kutte sich umdrehte, ihn erblickte und die Beine in die Hand nahm. Noch bevor Bastian sich besinnen konnte, war Wernhart dem Mann bereits hinterhergestürzt.
Franziskus Nolden, der Bruderälteste, näherte sich aus Richtung des Juddeturms und blieb verdutzt stehen. Mit großen Augen betrachtete er die Szene, die sich vor ihm abspielte. Dann schlug er entsetzt die Hand vor den Mund.
»Wer war das? Ich wollte Euch nicht in die Quere kommen.« Nolden verstummte und starrte Bastian an. »Es tut mir leid«, fügte er kleinlaut hinzu.
Bastians Erstarrung löste sich nur langsam. Verdammt, dachte er, Wernhart wird den Fremden nicht bekommen. Sie hatten sich weit zurückfallen lassen, um nicht entdeckt zu werden. Wenn der Unbekannte einigermaßen schnell laufen konnte, hatte Wernhart keine Chance. Wütend stampfte Bastian mit dem Fuß auf. Als er in das Gesicht des Bruderältesten sah, verrauchte die Wut so schnell, wie sie gekommen war. Am helllichten Tag konnte Nolden schließlich nicht ahnen, dass sie sich gerade auf einer Verfolgungsjagd befanden. Etwas in Noldens Blick ließ Bastian aufhorchen. Noch bevor er die Frage stellen konnte, schoss es aus dem Bruderältesten heraus.
»Ich weiß, wer der Mann mit dem zertrümmerten Kopf war.«
...
Hugo rannte um sein Leben. Um ein Haar hätte die Stadtwache ihn erwischt. Der Riemen seiner Tasche, die er unter dem Wams versteckt hielt, hatte sich während der Flucht gelöst und es waren einige Fläschchen des Elixiers herausgepurzelt. Hugo hatte keine Zeit gehabt, die Flaschen aufzusammeln. Ein Soldat der Stadtwache verfolgte ihn. Der Kerl lief so schnell, dass Hugo alle Kraft zusammennehmen musste, um ihm zu entkommen. Er konnte nur hoffen, dass niemand die Spuren bemerkte und er später Gelegenheit haben würde, sie zu beseitigen. Wie ein Wahnsinniger war er am Südtor vorbeigerannt und hatte sich in die nächste Gasse gestürzt, um so dem Blick seines Verfolgers zu entgehen. In Windeseile hatte er sich von seiner schwarzen Kutte befreit und sie achtlos am Straßenrand liegenlassen. Völlig außer Atem lief Hugo weiter bis zum Feldtor und rannte dann in die Freiheit hinaus. Der Abstand zu seinem Verfolger hatte sich zwar verringert, er war jedoch immer noch groß genug, um ihn abzuschütteln. Hugo hastete über das große Feld und flüchtete sich dann zwischen die ersten Bäume, die am Rande des Wäldchens vor Zons standen. Mit letzter Willenskraft schaffte er es in den Wald hinein und ließ sich mit rasselndem Atem gegen einen dicken Eichenstamm sinken. Sein Herz raste derart, dass er befürchtete, es könnte vor Anstrengung aussetzen. Sein Kopf war leer. Glühende Hitze brannte auf seinen Wangen und er brauchte eine halbe Ewigkeit, bis sich sein Körper wieder erholt hatte.
Erschöpft griff er in seine Tasche und zählte die verbliebenen Glasflaschen. Verdammt! Er hatte mindestens fünf Flaschen verloren. Hektisch tastete er nach dem blauen Schutztuch. Er trug es immer bei sich, damit sich der schwarze Schimmelpilz, den er für die Herstellung des Laudanums benötigte, nicht in seinen Lungen einnistete. Er wusste, dass die Sporen giftig waren. Doch nur durch die Veredelung mit dieser Zutat konnte das Elixier die volle Rauschwirkung entfalten. Er hatte lange an der Mixtur herumexperimentiert, bis er die richtige Mischung herausgefunden hatte. Wütend stieß er die Tasche beiseite. Das Tuch war ebenso verloren wie die Hälfte der Flaschen. Viel wichtiger als der Verlust war das Verwischen seiner Spuren. Wenn Bastian Mühlenberg ihn erwischte, konnte er das Geschäft mit dem Rauschmittel vergessen und würde stattdessen die restlichen Jahre seines Lebens im Juddeturm verbringen.
Hugo kratzte sich am Kopf. Es gab noch eine zweite dringende Angelegenheit, die er erledigen musste. Es gab einen Mitwisser, jemanden, den der Bote eingeweiht und der die Hälfte seines Elixiers gestohlen hatte. Eigentlich hätte der Bote die Flaschen so weit in die Tonrohre hineinschieben müssen, bis sie durch das Fallrohr ins Stroh auf der anderen Seite der Mauer gefallen wären. Doch er hatte sie am vorderen Rand liegen lassen, damit jemand anderes sie leeren konnte. Wer immer es gewesen war, Hugo musste ihn finden! Und er hatte auch schon eine Idee, wo er mit der Suche anfangen würde.
...
Die Grube war tief genug. Keuchend setzte der Mann die Schaufel ab. Mit den Augen nahm er nochmals Maß. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Niemand würde ihm je auf die Schliche kommen. Natürlich, irgendwann bemerkten sie das Verschwinden des Elixiers, aber der Verdacht würde nicht auf ihn, sondern auf den Boten fallen. Ein Ast knackte in der Nähe und ängstlich hielt er inne. Wurde er verfolgt? Er schüttelte den Kopf. Nein. Das konnte nicht sein. Diese Stelle im Wald war absolut menschenleer. Niemand wagte sich so weit ins Dickicht vor. Hier draußen hausten hungrige Wölfe, und wer sich nicht auskannte, fiel ihnen leicht zum Opfer. Natürlich war die Gefahr zu dieser Jahreszeit geringer als sonst. Es war Frühling. Überall schlüpften die Jungtiere aus den Leibern ihrer Mütter und stellten eine leichte Beute dar. Im Winter war die Nahrung rar und jeder Mensch, der seinen Dunst in den Wind stellte, war ein potenzielles Opfer dieser Raubtiere. Aber auch im Frühling, gerade so weit draußen in der Wildnis, war es nicht ungefährlich. Er indes kannte sich bestens aus. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, wilderten sie in den Wäldern. Bisher hatte sie keiner der Wildhüter erwischt. Es war verboten, im Wald zu jagen. Doch der Hunger trieb die Familie dazu, und wenn man bescheiden blieb, fiel es nicht weiter auf.
Wieder knackte ein Ast und diesmal unterbrach er seine Arbeit. Er kauerte sich hinter einen dicken Baumstamm und verharrte die nächsten Minuten regungslos, die Augen starr aufs Dickicht gerichtet. Nichts. Die jungen, hellgrünen Blätter der uralten Laubbäume rauschten sanft im Wind. Ab und zu trällerte ein Vogel. In regelmäßigen Abständen verdunkelten die Wolken die Sonne, um sie kurz darauf wieder freizugeben. Die Schatten des Waldes tanzten und konnten einem unerfahrenen Auge vorgaukeln, lebendig zu sein. Doch er konnte keine Menschenseele entdecken. Er war alleine. Trotzdem blieb das ungute Gefühl in seiner Magengrube und er beeilte sich, das Elixier zu vergraben. Er hatte es in einen Tonkrug umgefüllt. Die Glasflaschen waren ihm zu zerbrechlich erschienen und er wollte sichergehen, dass das Rauschmittel unversehrt bei seinem Auftraggeber ankam. Im Geiste zählte er die Gulden, die ihm dieses Geschäft einbringen würde. Die Vorstellung verdrängte das schlechte Gefühl und zauberte ein Lächeln auf sein bärtiges Gesicht. Er schnappte die Schaufel, lud sie über die Schulter und machte sich gutgelaunt auf den Heimweg.
...
Bastian starrte den Bruderältesten ungläubig an. Woher wollte dieser Mann wissen, wer der Tote mit dem zertrümmerten Schädel war? Und warum sollte Reinhold Nolden ihm plötzlich behilflich sein? Bastian erinnerte sich nur allzu gut an die Münzfälscherei, die Nolden bis vor ein paar Monaten betrieben hatte. Der Bruderälteste hatte ihn lange an der Nase herumgeführt, bis Bastian ihm endgültig auf die Schliche gekommen war. Bastian verzog misstrauisch das Gesicht und wartete.
»Er heißt Georg Schimmelpfennig und stammt aus Stürzelberg«, hob der Bruderälteste schließlich an. »Mein Weib hat ihn ab und an in ihre Dienste genommen. Er konnte schnell laufen, war einigermaßen zuverlässig und hat etliche Botendienste für sie verrichtet.« Als Bastian immer noch schwieg, fügte er hinzu: »Ihr wisst doch, dass die Stickereien meines Eheweibes sich großer Beliebtheit erfreuen?«
Bastian nickte mechanisch, ohne zu antworten. Der Bruderälteste räusperte sich und ignorierte das Schweigen.
»Mein Weib hat heute Morgen unseren persönlichen Dienstboten zu Georg Schimmelpfennig gesandt. Er war nicht wie vereinbart erschienen, und da sie einen wichtigen Auftraggeber beliefern musste, wollte sie ihn an seinen Auftrag erinnern. Doch der Dienstbote hat nur Schimmelpfennigs Bruder angetroffen.« Franziskus Nolden holte tief Luft und kam zum Ende. »Er war selbst auf der Suche nach seinem Bruder. Er ist seit zwei Tagen verschwunden.«
»Und woher wollt Ihr nun wissen, dass der Tote und dieser Georg Schimmelpfennig ein und dieselbe Person sind?« In Bastians Stimme klang Zweifel.
»Nun«, hob der Bruderälteste erneut an. »Sein Bruder hat die Ledertasche und die Kleidung wiedererkannt.«
In Bastians Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie konnte der Bruder von Schimmelpfennig die Habseligkeiten des Toten erkannt haben? Noch bevor Bastian erneut fragen konnte, schob der Bruderälteste die Erklärung hinterher.
»Ihr kennt doch mein Eheweib. Klatsch und Tratsch erfährt sie immer zuerst. Sie wusste von dem Toten und auch, dass Josef Hesemann ihn untersucht hat. Nachdem sie eins und eins zusammengezählt hatte und die Vermutung nahelag, dass Schimmelpfennig der Tote sein könnte, hat sie seinen Bruder ins Haus des Arztes geschleppt.« Nolden lachte bitter auf. »Ihr könnt Euch ja vorstellen, dass der sich anfangs mit Händen und Füßen gewehrt hat, doch in solchen Angelegenheiten kennt mein Weib keine Gnade.«
»Es ist also sicher«, schloss Bastian leise. Die Bilder der ertrunkenen Martha kamen in ihm hoch und lasteten schwer auf seiner Seele. Er verdrängte sie für den Moment und warf Nolden einen prüfenden Blick zu.
»So hört mir zu, Bastian Mühlenberg. Ich weiß, dass wir in der Vergangenheit einige Schwierigkeiten hatten. Ich war in den letzten Monaten sehr oft bei Pfarrer Johannes und er hat viel für mein Seelenheil getan. Ich habe mich verändert. Ich stehe Euch gerne zur Seite. Ich verstehe, dass es Euch schwerfällt, aber Ihr könnt mir vertrauen.« Nolden erwiderte Bastians Blick offenherzig.
»Also gut, dann lasst uns zu Josef gehen. Ich will selber mit Schimmelpfennigs Bruder sprechen.«
...
Wernhart war völlig außer Atem. Zwar hatte er, als der Bruderälteste Franziskus Nolden Bastians Namen lauthals rief, sofort reagiert und war mit voller Kraft losgelaufen. Aber der Unbekannte in der schwarzen Kutte hatte einfach zu viel Vorsprung und schon in der nächsten Gasse hatte er ihn verloren. Instinktiv war er bis zur Schloßstraße weitergelaufen, doch der Mann in der schwarzen Kutte war verschwunden. Wernhart fluchte und lief abermals die Strecke ab, die der Fremde genommen haben könnte. Mit etwas Glück versteckte er sich hinter einem Mauervorsprung und Wernhart bekam die Gelegenheit, ihn dingfest zu machen. Doch die Gassen waren voller Menschen und niemand hatte den Fremden bemerkt. Gerade als er aufgeben und zurück zu Bastian laufen wollte, stolperte er beinahe über die schwarze Kutte, die wie ein Haufen Abfall am Straßenrand lag. Er hob sie auf. Es gab keinen Zweifel. Der Mann hatte seinen Umhang abgestreift.
Wernhart lief die Strecke abermals ab und entdeckte nicht weit von der Stelle entfernt, an der er die Kutte gefunden hatte, eine Glasflasche. Weitere vier solcher Behältnisse lagen in einem Umkreis von wenigen Metern darum verstreut. Wernhart sammelte sie ein und setzte seinen Weg fort. Der Fund, der ihn an der nächsten Häuserecke erwartete, ließ seinen Atem stocken. Er blieb ein paar Meter vor dem Tuch stehen, das sich leicht im Wind auf und ab bewegte. Wie hatte er das bei seinem ersten Rundgang übersehen können? Wernhart umkreiste das Objekt wie ein Tier, das er erlegen wollte. Sein Herz hämmerte laut gegen die Rippen, während sich die Bruchstücke der bisherigen Ermittlungsergebnisse in seinem Kopf wie ein Bild zusammensetzten.
Dort vor ihm lag ein blaues Stofftuch. Es war fein gewebt und glitzerte fast wie Seide in der Frühlingssonne, die sich langsam zum Abendhimmel herabsenkte. Wernhart war sich sicher, dass es derselbe Stoff war, der sich in der vom Tod erstarrten Faust der armen Martha gefunden hatte. Er kniete nieder und ergriff den blauen Stoff. Das Tuch flatterte in seiner Hand und wisperte, so, als wollte es Wernhart seine Geschichte erzählen. Hatte er tatsächlich gerade den Mörder von Martha verfolgt und ihn laufenlassen?