XIV.

Gegenwart

 

 

Kommissar Oliver Bergmann hatte sich so sehr nach ihrer Nähe gesehnt, dass sein Körper zitterte, während seine Finger in Schlangenlinien über ihren Rücken fuhren. Seine Nase nahm ihren Duft auf, der sich wie ein Betäubungsmittel über seinen Verstand legte. Emily raubte ihm den Atem. Er tastete nach ihren Lippen und fuhr mit seiner Zunge sanft darüber, um Sekunden später ihren Mund zu öffnen. Er stöhnte, als sie seinen Kuss heftig erwiderte.

Emily war eine kleine Kratzbürste. Ihr italienisches Temperament machte ihm manchmal ganz schön zu schaffen, aber genau diese Leidenschaft war es auch, die ihn so sehr faszinierte. Nach seiner Rückkehr aus Frankfurt an der Oder war er geradewegs zu ihrem Studentenappartement gefahren.

Sie hatten kein einziges Wort gesprochen, sondern waren sofort übereinander hergefallen. Oliver wünschte sich, dass diese Innigkeit nie enden würde. Er hatte Angst davor, ein Gespräch zu beginnen, welches die ganze Stimmung ruinieren könnte.

Emily reckte sich genüsslich und blickte ihn aus dunkelbraunen Augen an. »Lüg mich bitte nie wieder an«, hauchte sie, während ihre Finger über seiner Brust kreisten. Oliver nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich werde nie wieder etwas vor dir verheimlichen. Versprochen.« Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und presste sie fest in die Bettlaken, während er ihre Beine auseinanderdrängte. »Auch wenn ich Gefahr laufe, dass du mich für einen schlechten Menschen hältst«, fügte er flüsternd hinzu. Kurz tauchte die Visitenkarte seines Partner vor seinem geistigen Auge auf, doch dann drang er mit ganzer Kraft in Emily ein und brachte damit die Widerworte, die zwischen ihren Lippen hervorkommen wollten, zum Versiegen. Stattdessen war nur noch ein heiseres Stöhnen zu hören und Emily überließ sich hingebungsvoll seinem Ablenkungsmanöver.

 

 

...

 

 

Anna blickte aus dem Fenster und lauschte dabei dem Brodeln des Wasserkochers. Sie hielt zwei Päckchen mit Ingwertee in der Hand und betrachtete die uralten Bäume in den Rheinauen. Die Blätter leuchteten in der Herbstsonne, welche Rottöne und strahlendes Gelb in die sonst grünen Bäume zauberte. Annas Appartment befand sich im Dachgeschoss, direkt neben dem Rheinturm. Von hier aus hatte sie einen wunderschönen Ausblick auf die Rheinauen.

Der Wasserkocher stieß heißen Dampf aus und der Hebel am Griff legte sich mit einem lauten Knacken um. Fertig. Sie hängte die Teebeutel in zwei Tassen und goss das heiße Wasser darüber. Im Nu breitete sich der süßliche scharfe Ingwerduft in der ganzen Küche aus.

»Die Reportage von Emily gefällt mir wirklich gut.« Bettina Winterfeld nahm Anna eine Tasse aus der Hand und sog genüsslich den Duft ein. »Woher habt ihr die Kopie mit den Münzen? Sie kommen mir bekannt vor.« Bettina stellte ihre Tasse auf dem Küchentisch ab und nahm die beschlagene Lesebrille von der Nase.

Anna riss ihren Blick von den herbstlichen Rheinauen los. »Wir haben das Blatt auf deinem Dachboden gefunden. Es lag mitten in den Unterlagen zu deinen Patienten.« Sie drehte sich um und lächelte ihre Mutter an. »Dort oben lag auch ein Lederbuch mit echten Münzen, woher hast du es?«

Bettina Winterfeld lachte. »Oh, das ist ein uraltes Erbstück. Ich glaube, Onkel Günther hat mir diese Münzen hinterlassen. Sie waren sein ganzer Stolz. Angeblich die einzigen Fälschungen, die jemals in Zons angefertigt wurden.«

Anna fragte sich, ob das die Münzen waren, die Bastian Mühlenberg vor über fünfhundert Jahren entdeckt hatte. Bettina Winterfeld nahm einen Schluck Tee und fuhr versonnen fort. »Ich weiß noch genau, wie er ausgerastet ist, als eine Münze aus der Sammlung verlorenging. Er hatte sie alle diesem alten Kauz im Kreisarchiv zur Prüfung überlassen, und als er sie wieder abholen wollte, fehlte ein Goldgulden.« Sie schüttelte den Kopf. »Er war verschwunden und ist bis heute nicht mehr aufgetaucht.«

»Emily hat mir erzählt, dass Professor Morgenstern die Münzen für sehr wertvoll hält«, erwiderte Anna.

Bettina Winterfeld sah Morgenstern plötzlich vor sich. Es war mitten in der Nacht und er schnitt sich mit einem Messer die Haut seines nackten Oberkörpers auf. Bettina konnte den metallischen Geruch des Blutes fast riechen.

»Was hast du?«, fragte Anna erstaunt. Ihre Mutter sah plötzlich blass und zerbrechlich aus. Angst stand deutlich in ihren Augen geschrieben. »Ist wieder einer der Patienten handgreiflich geworden?«

Bettina Winterfeld schüttelte den Kopf. »Nein!« Sie setzte sich schnaufend auf die Couch im Wohnzimmer und verstummte für einige Augenblicke. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, Anna von ihrem Erlebnis zu erzählen. Doch dann fuhr sie mit zittriger Stimme fort: »In dieser Klinik gehen merkwürdige Dinge vor. Ich glaube, mit Professor Morgenstern stimmt etwas nicht. Emily sollte sich lieber von ihm fernhalten. Und du natürlich auch.«

Anna runzelte verständnislos die Stirn. »Er ist doch ganz nett. Ohne ihn hätte Emily ihre Reportage gar nicht so gut recherchieren können. Es ist nicht selbstverständlich, dass man als Journalistin Einsicht in Patientenakten erhält. Das hätte sicherlich nicht jede psychiatrische Klinik erlaubt.«

Bettina Winterfeld unterbrach sie. »Ich habe ihn gestern Nacht in seinem Büro gesehen. Alles war voller Blut und er hielt ein Messer in der Hand. Er war halb nackt und ich bin nur knapp davongekommen!« Hektisch blickte sie auf die Uhr. »Oh nein, ich bin spät dran. Meine Schicht beginnt gleich und ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.« Sie sah Anna mit einem gehetzten Gesichtsausdruck an. »Ich will nicht, dass er etwas Ungewöhnliches an mir bemerkt. Womöglich schöpft er sonst noch Verdacht, dass ich ihn beobachtet haben könnte.« Bettina erhob sich und drückte Anna einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir reden morgen weiter, meine Kleine.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkte wie eine Maske. Ohne sich noch einmal umzudrehen, zog Bettina Winterfeld die Wohnungstür zu.

Anna blickte ihr verwirrt hinterher. So aufgelöst hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt.

 

 

...

 

 

Er hatte seine Münze verloren. Entsetzt über den Verlust, saß er wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Bett, unfähig sich zu bewegen. Nur seine Gedanken rasten wie ein summendes Bienenvolk im Kopf herum. Gestern Morgen hatte er die Münze noch gehabt. Sie hatte entschieden, wer als Nächstes an der Reihe war. Er erinnerte sich an ihre weiße schwabbelige Haut und die fettigen braunen Strähnen. Ihre Augen hatten ihn anfangs voller Liebe betrachtet, doch als ihr klar wurde, was er vorhatte, war ihr Glanz der nackten Angst gewichen. Immerhin hatte sie ihn nicht mehr angelogen. Aber da er die Wahrheit sowieso längst kannte, waren ihre flehenden Worte an ihm abgeprallt, wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.

Er hatte sich stundenlang Zeit gelassen. Verborgen hinter den dicken Stadtmauern von Zons, konnte niemand die Schreie hören, die er mit seinem Skalpell ihrem Mund entriss. Er musste bei dieser Erinnerung lächeln. Sie ließ sich fast wie ein Musikinstrument spielen. Je tiefer er in ihre Haut stach, umso höher wurden die Töne, die ihre aufgesprungenen Lippen verließen. In seiner Fantasie hatte er sie schon so oft sterben sehen, doch die Realität übertraf all seine Erwartungen.

Mehrfach hatte er die Klemmen von ihren freigelegten Adern gelöst und gewartet, bis das Leben aus ihren Augen verschwand. Kurz bevor der Tod eintrat, holte er sie zurück. Er ließ sie immer und immer wieder sterben. All seine Wut, die er so lange in sich getragen hatte, floss wie zäher Eiter aus seinem Körper hinaus.

Er fühlte sich beschwingt und befreit, bis zu jenem Moment, als er den Verlust seiner Goldmünze bemerkte. Der Stimmungswechsel war unbeschreiblich. Jetzt fühlte er sich wie ein Verlierer. Diese Münze war sein Talisman. Er hatte sie als kleiner Junge von einem alten Kauz bekommen, der ihn aus dicken Brillengläsern angesehen hatte, als sei ihm gerade ein Geist erschienen. Es war das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er etwas geschenkt bekam, um das er nicht hatte betteln müssen. Dieser Mann sah in ihn hinein und erkannte ihn. Nie wieder hatte er eine solche Verbundenheit gefühlt wie in jenem Augenblick, als der Mann ihm eine golden glänzende Münze in seine kleine Hand gelegt hatte. Er sollte sie behüten wie sein Leben hatte der Alte ihm gesagt. Und das hatte er getan - bis heute. Verdammt!

Hektisch kreisten seine Gedanken um die Geschehnisse der letzten Stunden. Er hatte sie in seinem Zimmer liegen lassen, da war er ganz sicher. Seine Kleidung und jede Ritze dieses Raumes hatte er intensiv durchsucht. Die Münze war nicht mehr hier. Er musste sie finden.

 

 

...

 

 

Zehn junge Menschen blickten die drei Kriminalkommissare aus blassen und müden Gesichtern an. Es war sieben Uhr morgens. Offenbar nicht die richtige Zeit für Studenten. Oliver musste grinsen. Emily war ebenfalls keine Frühaufsteherin. Um diese Uhrzeit würde sie ihn mit einem ebenso blutleeren Gesicht empfangen. Ihm selbst machte diese frühe Stunde nichts aus.

Sie hatten die Studenten, die auf Petra Ludwigs Liste standen, in den Vorlesungsraum beordert, in dem am Tag der Ermordung von Professor Neuhaus eine Leichensektion stattgefunden hatte. Alle anderen Gebäudeteile waren wegen Renovierungsarbeiten geschlossen gewesen. Die zehn Studenten waren also die einzigen Personen, die sich zum Zeitpunkt des Mordes in diesem Gebäudetrakt der Universität zu Köln aufgehalten hatten. Der Raum war bewusst für die Vernehmung ausgewählt worden. Er lag keine zwanzig Meter vom Tatort entfernt, und Oliver Bergmann und seine Kollegen erhofften sich eine emotionale Reaktion des potenziellen Täters auf diesen Ort.

Oliver blätterte in seinen Unterlagen. Zehn Studenten im Alter von zwanzig bis vierundzwanzig Jahren, allesamt Medizinstudenten, saßen vor ihm.

»Diese beiden hier würde ich ausschließen.« Mit einem Kopfnicken deutete Oliver auf zwei extrem übergewichtige junge Männer, deren Körperausmaße deutlich über die schmalen Holzstühle hinausragten.

Petra grinste ihn an. »Schwer vorstellbar, dass sich einer von ihnen freiwillig durch einen Lüftungsschacht quetscht.«

Sie teilten die restlichen acht Studenten in drei Gruppen auf und begannen mit den Befragungen. Am Ende blieben zwei Verdächtige übrig, die kein glaubwürdiges Alibi vorbringen konnten. Eine zierliche junge Frau mit großen rehbraunen Augen namens Alex Schimpski und ein blasser junger Mann mit dem Namen Kevin Helmhold.

Beide waren schlank und kräftig genug, um durch einen engen Lüftungsschacht zu kriechen. Ihre Noten waren hervorragend und vordergründig hatten beide kein Mordmotiv. Dennoch bat Oliver Bergmann die beiden, sich in den kommenden Tagen nicht mehr als einhundert Kilometer von ihren jeweiligen Wohnorten zu entfernen.

Der junge Mann zeigte während der Vernehmung deutliche Stresssymptome. Auf die Frage nach seinen üblichen Gewohnheiten und den Laufwegen, die er beim Betreten des Universitätsgeländes nahm, antworte er nur zögerlich. Teilweise verhaspelte er sich. Oliver hatte noch einmal die Kundenliste der ermordeten Prostituierten Sophia Koslow überprüft. Zumindest der Vorname Kevin war dort verzeichnet. Kevin Helmhold könnte also durchaus eine Verbindung zu beiden Mordopfern gehabt haben.

»Die Kleine war eiskalt.« Klaus riss Oliver aus seinen Gedanken. Erstaunt hob er den Kopf. »Sieh mich nicht so an. Sie war kalt. Keinerlei Emotionen.« Klaus knabberte an seinen Fingernägeln, ein untrügliches Zeichen für Angespanntheit. Er tat dies oft, wenn er über einen Fall grübelte.

»Meinst du, sie könnte unsere Täterin sein?« Oliver schüttelte den Kopf. Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Eine Frau, die drei Menschen auf dem Gewissen haben sollte?

»Wie soll die Verbindung zu Sophia Koslow aussehen? Sie wird ja kaum bei einer Prostituierten gewesen sein?«

Klaus nickte. »Du hast recht. Aber auf der Liste von Sophias Stammkunden steht der Name Alex!«

Petra klinkte sich ein. »Es könnte Eifersucht gewesen sein. Sie hat doch erzählt, dass sie vor ein paar Wochen aus der Wohnung ihres Freundes ausgezogen ist. Wie war sein Name noch mal?«

»Peter.«

»Ein Peter steht auch auf der Stammkundenliste.« Oliver rieb sich angestrengt die Stirn. Diese verdammte Prostituierte hatte so viele Stammkunden mit Allerweltsnamen, da würden sie nie eine heiße Spur finden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine junge Frau mit so großen braunen Rehaugen und der weißen Haut eines Engels ein Serienkiller war.

Petra Ludwig sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und lachte. »Dein Beschützerinstinkt ist wirklich umwerfend!«

Oliver lief rot an. »Ich kann mir das nicht vorstellen. Kevin steht ebenfalls auf der Liste der Freier.« Ein plötzlicher Gedanke fuhr durch seinen Kopf. »Ich weiß, was wir als Nächstes tun. Wir prüfen, ob die beiden durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden.«

 

 

...

 

 

Sie hatte die Beine gespreizt. Das kalte Kunstleder ließ ihren Körper erschauern. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren nackten Oberschenkeln und dem entblößten Bauch aus. Das kalte Metall blitzte unter der Untersuchungslampe auf. Fünfzigtausend Lux verwandelten ihre Haut in eine weiße, leblos erscheinende Hülle. Das Metall drang hart in sie ein und schob ihre Beine gnadenlos auseinander. Hände mit transparenten Gummihandschuhen tasteten ihren Unterbauch ab. Eine Schwester im weißen Kittel betrat den Raum mit einer Petrischale in der Hand.

Bettina Winterfeld drehte sich schweißgebadet im Bett hin und her. Wie jedes Mal, wenn sie diesen Albtraum durchlebte, begann sie zu zählen. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Ihre Mutter könnte sich schon verzählt haben, oder deren Mutter davor. Wer konnte denn schon ahnen, in welcher Generation sie sich wirklich befand? Immer wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter: »Du musst auf Nummer sicher gehen, Bettina! Tu uns das nicht an!«

Sie zählte, immer wieder von vorne. Ihre Zunge schwoll an und weigerte sich die Worte zu formen, die aus ihrem Mund heraus wollten. Wörter, Zahlen, Generationen der Familie flogen an ihr vorbei. Sie schrie. Schweiß rann den Hals hinab. Sie strampelte mit den Beinen und schlug um sich. Annas Gesicht tauchte vor ihr auf. Sie war noch ein Baby. Dann wachte Bettina Winterfeld auf.

 

 

...

 

 

Kevin Helmhold stand mit ausdrucksloser Miene vor seiner Mutter. Ihre schwabbelige blasse Haut hing schlaff von den Knochen hinunter, die weiß aus dem blutigen Fleisch herausragten. An einer Nylonschnur, die quer von einem Pfosten des Bettes zum nächsten gespannt war, hingen acht leblose Finger aneinandergereiht. Fliegen schwirrten in dem stickigen Raum umher und surrten aufgeregt. Offenbar war das Nahrungsangebot so groß, dass sie sich nicht entscheiden konnten, wo sie sich am besten niederlassen sollten. So schwirrten sie von einer stinkenden Wunde zur nächsten. Für sie musste es das Paradies sein.

Die Rollläden waren halb verschlossen. Blaulicht blinkte in rhythmischen Abständen in das Zimmer hinein und verlieh der Kulisse einen Hauch von Unwirklichkeit. Trampelnde Füße auf der Treppe verrieten Kevin, dass die Polizisten auf dem Weg nach unten waren. Neben ihm stand eine Frau mit kurzen, rotblonden Haaren und machte Fotos. Das Blitzlicht traf sich einige Male mit den blauen Lichtstrahlen der Polizeiautos, die den ganzen Hof blockierten. Kevins Netzhaut reagierte mit weißen Blitzen auf die Helligkeit. Er blinzelte. Dies war die einzige sichtbare Reaktion in seinem immer noch ausdruckslosen Gesicht.

»Ist das dein Zimmer da oben?« Oliver Bergmann betrachtete den jungen Mann skeptisch.

Kevin Helmhold nickte mechanisch. Die Handschellen an seinen Armgelenken klapperten im Takt.

»Wir haben Mäusekadaver gefunden. Ist das dein Werk?«

Wieder folgte ein mechanisches Nicken.

»Wir nehmen dich vorläufig fest. Du kommst mit aufs Revier und wirst uns einige Fragen beantworten müssen.« Oliver gab seinem Kollegen einen Wink. Kurz darauf wurde Kevin Helmhold in einen Polizeiwagen verfrachtet.

»Wie lange ist sie schon tot?« Oliver blieb vor der verstümmelten Frauenleiche stehen.

Ingrid Scholten ließ den Fotoapparat sinken. »Ich schätze nicht länger als zehn Stunden.« Sie blickte Oliver direkt in die Augen. »Es ist wieder derselbe Täter. Ich hoffe, wir haben gerade den Richtigen festgenommen. Die Abstände zwischen den Taten werden immer kürzer. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn der Mörder noch frei herumläuft.«

Oliver nickte besorgt. Die Leiterin der Spurensicherung hatte recht. Die Abstände zwischen den Morden hatten sich von Wochen auf Tage verkürzt. Hans Steuermark war nach der erneuten Meldung so in Alarm versetzt, dass er persönlich zum Tatort gekommen war. Wenn die Polizei jetzt einen Fehler machte, würde die Pressemeute sie vor sich hertreiben.

Ihre Verdächtigen hatten sich auf drei Namen reduziert. An erster Stelle stand jetzt Kevin Helmhold, gefolgt von Ronny Hammerschmidt und Alex Schimpski. Leider waren bisher an keinem der Tatorte DNA-Spuren sichergestellt worden. Der Täter ging mit äußerster Sorgfalt und Kaltblütigkeit vor. Das psychologische Täterprofil wies klar auf eine psychopathische Persönlichkeitsstruktur hin.

Oliver schaute auf die Uhr. In einer knappen Stunde war er mit Professor Morgenstern verabredet. Er war ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der psychopathischen Persönlichkeitsstörungen und hatte schon des Öfteren Gutachten für brutale Mordfälle erstellt. Seine Tatortanalyse eignete sich zur Bestimmung der Täterpersönlichkeit und konnte der Polizei so helfen, sich auf die richtige Tätergruppe zu fokussieren. Oliver hatte Professor Morgenstern bereits mit den wichtigsten Daten versorgt und hoffte, den Kreis der Verdächtigen nach dem Gespräch weiter einengen zu können.

Er stieg die Treppenstufen wieder hinauf. Petra Ludwig sammelte Beweisstücke in einer kleinen Plastiktüte und sein Partner Klaus machte Fotos. Das Zimmer von Kevin Helmhold strahlte eine düstere Atmosphäre aus. Auch ohne die toten weißen Mäuse, die sich in einem Papierkorb unter dem Schreibtisch befanden, wirkte der Raum unpersönlich und kühl.

»Glaubt ihr, dass Helmhold unser Mann ist?«, fragte Oliver und deutete mit dem Finger auf ein Tablett mit Skalpellen in allen erdenklichen Größen.

Petra Ludwig wiegte den Kopf hin und her. »Ich wäre mir sicher, wenn er weggelaufen wäre. Aber dass er am Tatort stehen bleibt und darauf wartet, dass wir eintreffen und ihn verhaften, finde ich merkwürdig.«

»Wusste er denn, dass die Nachbarin uns verständigt hat? Oder haben wir ihn überrascht?«, fragte Klaus, während er unablässig Fotos schoss.

Oliver zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe ihn sofort verhaftet und ihm Handschellen angelegt.«

Petra Ludwig zog einen roten Draht mit einer Pinzette vom Schreibtisch hoch. Das Ende des Drahtes war nicht isoliert. »Schaut euch das mal an. Er hat den Mäusen Elektroschocks verpasst.«

Oliver fuhren zwei Gedanken durch den Kopf. Macht und Kontrolle! Das waren die Hauptantriebsfedern eines Psychopathen. Ganz deutlich sah er Emilys Reportage vor sich, in der sie psychopathische Serienkiller dargestellt hatte. Es gab da einen ehemaligen Direktor einer Versicherung, der vor ein paar Jahren monatelang durch die Presse ging. Er hatte immer wieder Frauen gefangengenommen, gefoltert und erst zu einem denkbar späten Zeitpunkt ermordet. Erst als keine Gegenwehr mehr zu spüren war, verließ ihn die Lust am Quälen. Er tötete sein Opfer und suchte sich ein Neues.

»Ich denke, dass Kevin Helmhold unser Mann sein könnte. Seht euch nur diese Schweinerei hier an!«

Olivers Handy klingelte.

»Ich habe die Liste mit den durchgeführten künstlichen Befruchtungen vor zwanzig bis dreißig Jahren.« Oliver atmete tief ein und lauschte angespannt. »Kevin Helmhold steht darauf. Wollen Sie die komplette Liste sehen?«

»Unbedingt.« Oliver legte auf und genoss die neugierigen Blicke von Klaus und Petra, ehe er fortfuhr: »Kevin Helmhold wurde mit Hilfe künstlicher Befruchtung an der Universität zu Köln gezeugt.«

Petra Ludwig zupfte mit äußerster Vorsicht ein braunes Kopfhaar vom Kopfkissen und steckte es in eine Plastiktüte. »Vielleicht gab es eine Verwechslung.« Ihr Gesicht lief bei diesen Gedanken rot an.

»Dann hätten wir ein Tatmotiv.«

»Rache!«, ergänzte Klaus, der das Fotografieren unterbrochen hatte.

 

 

...

 

 

Bettina Winterfeld rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Vor ihr saß Professor Morgenstern und nippte an einer Tasse Tee. Obwohl es helllichter Tag war, sah Bettina die nächtliche Szene noch vor ihrem geistigen Auge. Ihr Blick suchte den Schreibtisch nach einem Messer oder Blutspuren ab, doch vergebens. Nichts deutete auf die gruselige Szene hin, deren Zeuge sie geworden war. Der Professor selbst wirkte ebenfalls unverändert. Sein weißes Hemd saß tadellos und war frisch gebügelt. Seine Augen blickten freundlich und offen. Bettina kam sich fast töricht vor. Stand sie kurz davor, verrückt zu werden, und hatte sich alles nur eingebildet?

Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte ihn gesehen. Nachts, mit freiem Oberkörper, fluchend in diesem Büro. Blut lief über seine nackte Haut, während er mit einem Messer an sich herumhantierte.

»Sind Sie nicht einverstanden?«

Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Wie bitte?«

»Nun«, Professor Morgenstern sprach mit tiefer Stimme, »Sie haben gerade mit dem Kopf geschüttelt. Ist alles in Ordnung?« Seine blauen Augen sahen sie prüfend an. Bettina spürte, wie eine Hitzewelle durch ihren Körper ging. »Oh, nein. Alles in Ordnung. Kein Problem, ich kann die Aufgabe gerne übernehmen.«

Professor Morgenstern hatte sie gebeten, die Patientenakten zu überprüfen. Psychiatrische Gutachten mussten in regelmäßigen Zyklen erneuert werden. Damit kein Patient vergessen wurde, mussten die Akten einmal im Jahr auf ihre Vollständigkeit hin überprüft werden.

Plötzlich zog er die Schublade auf und holte eine Münze hervor. Er erklärte ihr, auf welche Besonderheiten sie bei der Aktendurchsicht achten musste, und rollte dabei die Münze versonnen auf dem Schreibtisch hin und her. Das metallische Geräusch verursachte ein Stechen in Bettinas Kopf. Wie hypnotisiert starrte sie die leuchtende Goldmünze an, in der sich mit jeder Bewegung das Herbstlicht reflektierte. Plötzlich erkannte sie die Münze und sprang auf.

»Woher haben Sie diese Münze?«

Professor Morgenstern schlug erschrocken mit der flachen Hand auf den Goldgulden, der mit einem lauten Klatschen mitten auf dem Tisch liegenblieb.

»Entschuldigen Sie bitte.« Bettina Winterfeld rang um Beherrschung, während sie den stehenden Petrus auf der Münze anstarrte. »Mein Onkel hat diese Münzen gesammelt und ich frage mich, ob diese hier aus seiner Sammlung stammen könnte. Es gibt nicht so viele Exemplare davon.«

»Ach so«, Morgenstern begann erneut die Münze auf seinem Schreibtisch zu rollen, »ich habe sie gefunden. Aber Sie haben recht. Sie sieht genauso aus wie die auf den Kopien von Emily Richter.« Er zog ein Blatt Papier aus einem Stapel hervor.

»Zons, fünfzehntes Jahrhundert. Das Werk von Münzfälschern«, fuhr er fort, während er mit den Fingern über die auf dem Papier abgebildeten Münzen fuhr.

»Wo haben Sie die Münze gefunden?« Bettinas Herz schlug schneller. Sie wusste genau, dass ihr Onkel alle über die Jahrhunderte erhalten gebliebenen gefälschten Zonser Goldgulden in seinem Besitz hatte. Sie waren sein ganzer Stolz und Unikate von unschätzbarem Wert. Familienerbstücke, die seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Eines Tages würde diese Münzsammlung Anna gehören.

Professor Morgenstern wich ihrer Frage aus. »Sie haben diese Münzen also von ihrem Onkel geerbt?« Er schnalzte mit der Zunge. »Warum arbeiten Sie hier eigentlich noch? Diese Sammlung müsste doch ein Vermögen wert sein.« Er grinste sie an. Bettina wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als es an der Tür klopfte.

»Entschuldigen Sie, Professor Morgenstern. Sie haben Besuch.«

In Morgensterns Augen blitzte für eine Sekunde Wut auf. Das war genau der Gesichtsausdruck, der Bettina Angst machte. Irgendetwas stimmte mit dem Professor nicht. Doch er fasste sich schnell und entgegnete mit freundlicher Stimme: »Ich habe jetzt keine Zeit. Bitte vertrösten Sie den Besuch auf einen späteren Zeitpunkt. Außerdem sehe ich hier überhaupt keinen Termin in meinem Kalender.« Morgenstern zog die Augenbrauen hoch. Die Schwester trat einen Schritt in das Büro herein und flüsterte mit aufgeregter Stimme. »Es ist ein Herr Bergmann von der Kriminalpolizei. Er sagt, es sei dringend.«

Morgenstern schüttelte unwirsch den Kopf. »Also gut, bringen Sie ihn herein.« Ohne Bettina Winterfeld eines weiteren Blickes zu würdigen, stand er auf und drehte sich zum Fenster um. Flüchtig konnte Bettina einen Verband unter seinem Oberhemd erkennen. Dort war eindeutig eine Verdickung, unter der weißer Stoff zu sehen war.

Sie verhaften ihn, weil er etwas Schlimmes getan hat!, schoss es ihr durch den Kopf. Die Worte der Schwester hallten durch ihr aufgeregtes Gehirn: Herr Bergmann von der Kriminalpolizei! Schnell erhob sie sich und lief nach draußen. Auf der Treppe kam ihr ein gutaussehender junger Mann mit Jeans und Lederjacke entgegen. Sein kantiges Gesicht verlieh ihm ein sehr männliches Aussehen, welches durch die stahlblauen Augen und den schwarzen Haarschopf noch verstärkt wurde. Der Name kam Bettina irgendwie bekannt vor. Doch sie konnte sich nicht erinnern. Während sie die Treppenstufen zum Archiv mit den Patientenakten hinabstieg, kreisten ihre Gedanken um die Münzsammlung ihres Onkels. Woher zum Teufel hatte Morgenstern nur diesen Goldgulden?

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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