XVIII.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian starrte den toten Bernhard Schimmelpfennig an. Die letzten Worte des Mannes klangen noch in seinem Ohr. »Unter der ältesten Eiche im Wald.« Es gab viele Wälder rund um Zons. Welchen Wald hatte Bernhard nur gemeint? Und vor allem: Was sollte Bastian dort finden? Bastian seufzte und blickte sich um. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte er schwarzen Flaum. Das musste der Schimmelpilz sein, den Pfarrer Johannes erwähnt hatte. Schnell zog er ein Tuch aus seinem Wams und bedeckte Nase und Mund. Johannes hatte ihn gewarnt. Schwarzer Schimmel verpestete die Luft und konnte zu einem schrecklichen Tod führen. So stand es in dem Buch des Heilkundigen geschrieben, das Johannes in der Kirche aufbewahrte. Auf einem Schemel, der links von Bastian stand, lagen mehrere blaue Stofftücher. Es war derselbe Stoff, den die tote Martha in ihrer Faust fest umklammert hatte. Auch in diesem Punkt behielt Pfarrer Johannes also recht. Es existierten mehrere blaue Tücher. Das schloss den Fremden in der schwarzen Kutte zwar nicht aus dem Kreis der Verdächtigen aus, aber der Ring, den Bastian in der Tasche des Boten gefunden hatte, bekam dadurch ein viel größeres Gewicht als Beweisstück. Es gab nur einen Ring, den Martha jeden Tag getragen hatte und den sie niemals freiwillig hergegeben hätte.

Bastian blickte sich weiter im Gewölbe um, konnte jedoch nichts Interessantes mehr entdecken. Er dachte kurz darüber nach, Bernhards Leichnam aus dem Labyrinth zu schleppen, entschied sich jedoch dagegen. Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Hier unten war es kühl, und er konnte Bernhard später noch bergen. Jetzt musste er erst einmal die Stelle im Wald finden, die Bernhard ihm genannt hatte. Kurzerhand entschied er sich für den Stürzelberger Wald. Der Entschluss lag nahe, denn dort hatten sie auch Schimmelpfennigs toten Bruder gefunden.

 

 

...

 

 

Hugo von Spanheim war verzweifelt. Er hatte bereits den dritten Anlauf genommen und war genau in die Mitte des Stürzelberger Waldes geritten. Doch dort wimmelte es nur so von Eichen. Er kannte die Gepflogenheiten der Landbevölkerung nicht und so war ihm nicht klar, was genau Bernhard Schimmelpfennig mit der ältesten Eiche gemeint hatte. Verdammt seid Ihr!, dachte Hugo. Er hätte diesen Taugenichts mit hierher schleppen sollen. Dann hätte er die richtige Stelle längst aus ihm herausgeprügelt. Hugo schnaubte verächtlich. Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt im schnellen Galopp durch den Wald. Im Stillen zählte er die Schritte seines Gauls. Zumindest versuchte er, so die Orientierung zu wahren. Diesmal ritt er tiefer in den Wald hinein. Die Baumkronen hoch über seinem Kopf waren so dicht, dass kaum noch Licht hindurchdrang. Es war düster, und die vielen kahlen Äste, deren Blätter aufgrund der Dunkelheit nicht überlebt hatten, ließen das Herzstück des Waldes bedrohlich und unheilvoll erscheinen. Hugo ritt langsamer. Der Wald rauschte und ächzte im Wind. Einzelne Blätter fielen hinab. Zweige knackten. Hugo hatte eine Gänsehaut. Er war mutterseelenallein. Niemand würde ihn hier je finden. Schnell schob er die Angst beiseite. Er musste die Stelle finden. Wenn Bernhard den Tonkrug mit dem Elixier wirklich am Fuße einer Eiche vergraben hatte, musste es frische Spuren in der Erde geben. Hugo stieg vom Pferd. Vor ihm standen fünf uralte Eichen. Ihre Stämme hatten einen Durchmesser von gut einem Meter. Sie mussten mehr als einhundert Jahre alt sein. Schwarze Astlöcher starrten wie Augen auf Hugo von Spanheim herab, und erneut klammerte sich die Angst wie eine kalte Kralle um sein Herz. Hinter ihm knackte es im Unterholz. Erschrocken drehte Hugo sich um. Es war helllichter Tag, doch die Intensität des Lichtes glich mehr der Abenddämmerung, kurz bevor die Sonne sich endgültig schlafen legte. Hugo konnte Schatten sehen. Schatten über Schatten, die sich düster im Wind bewegten und auf ihn zuschwebten, um sich kurz darauf wieder ins Dickicht zu entfernen. Ein Hase oder irgendein anderes kleines Tier schreckte hoch und sprang raschelnd ins Unterholz. Hugo konnte das Tier nicht richtig erkennen, aber dafür hörte er die hektischen Bewegungen umso deutlicher. Sein Gaul schnaubte nervös. Alles an diesem Wald war unheimlich. Wäre er Bernhard gewesen, hätte er ebenfalls einen solchen Ort als Versteck gewählt. Niemand, der bei Verstand war, würde sich freiwillig hierher begeben.

Er ging auf die erste Eiche zu und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Waldboden. Nichts. Gestrüpp wucherte am Fuße des Baumes und der Boden ringsherum schien vollkommen unberührt. Es gab keinerlei Spuren. Hugo ging zum nächsten Baum. Dort konnte er ebenfalls nichts entdecken. Die nächste Eiche ließ sein Herz höher schlagen. In den dicken Stamm war ein Kreis eingeritzt. Er reichte einmal um den ganzen Baumstamm herum.

Das muss die älteste Eiche sein, fuhr es Hugo durch den Kopf. Er lief einmal um den dicken Stamm herum. Die Stelle war offenkundig. Das dichte Gestrüpp war zertrampelt und herausgerissen. Nur ein paar Blätter bedeckten die bloße Erde notdürftig. Bernhard hatte sich nicht besonders viel Mühe gegeben, den lockeren Waldboden zu verdecken. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand über das Loch stolpern könnte. Hugo pfiff seinen Gaul heran und griff nach der Schaufel, die er am Sattel befestigt hatte. Der Krug war nicht tief vergraben. Schon nach wenigen Minuten stieß er auf einen Widerstand. Hugo zitterte vor Freude. Vorsichtig schaufelte er mit den Händen die restliche Erde beiseite. Der Tonkrug war unversehrt. Behutsam nahm Hugo ihn heraus und öffnete ihn. Das Elixier roch muffig. Er atmete erleichtert auf. Wäre ihm ein fauliger Geruch in die Nase gestiegen, hätte er es nicht mehr verkaufen können. So jedoch wartete ein sattes Geschäft auf ihn. Hugo war in Hochstimmung. Er scharrte die Erde mit den Stiefeln zurück in das Loch und befestigte seine Schaufel wieder am Sattel. Dann bückte er sich und wollte den Krug mit dem Elixier hochheben. Doch ein schwarzer Stiefel hinderte ihn daran. Ehe er sich versah, bekam er einen Tritt in den Magen und krümmte sich vor Schmerzen zusammen.

»Wer seid Ihr?«, presste er mühsam hervor und richtete seinen Blick auf den Mann, der über ihn gebeugt stand.

»Euer Bote. Kennt Ihr mich nicht mehr?«

Hugo stockte der Atem. Was zum Teufel machte dieser Bursche hier? Eine düstere Vorahnung beschlich ihn und er tastete unauffällig nach dem Dolch in seinem Wams.

»Was wollt Ihr?«

Der Bote beugte sich dicht über ihn und zischte: »Habt Ihr denn keine neue Lieferung für mich?«

Ohne Vorwarnung zog Hugo den Dolch und stach zu. Seine Klinge schnitt seinem neuen Boten in den Oberarm. Dieser stieß einen überraschten Schrei aus und sprang einen Schritt zurück. Blut sickerte durch die Wunde und tränkte den Ärmel seines Wamses dunkelrot.

»Warum verfolgt Ihr mich? Seid Ihr des Wahnsinns?« Hugo versuchte, seine Angst hinter einer donnernden Stimme zu verbergen. Sein Gegenüber hatte sich wieder gefangen und grinste.

»Ihr habt wirklich keine Ahnung, wer ich bin?« Das Grinsen des Boten wurde immer breiter.

Hugo von Spanheim griff fester um seinen Dolch. Was wollte dieser Mann von ihm? Schnell machte er einen Ausfallschritt nach vorne und versuchte, seine Waffe in das Herz seines Gegenübers zu rammen. Er verfehlte das Ziel. Der Bote sprang im letzten Moment zur Seite und entging dem tödlichen Treffer. Mit der Stiefelspitze versetzte er Hugo einen kräftigen Tritt in die Magengrube und stürzte sich auf ihn. Eine Weile rangen sie miteinander. Hugo schaffte es nicht, den kräftigen Mann abzuwehren.

»Verdammt, wer seid Ihr! Was wollt Ihr?«, keuchte er abermals.

Er bekam keine Antwort. Stattdessen bohrte sich die Klinge eines scharfen Messers in seinen Hals. Entsetzt presste Hugo die Hand auf die Wunde. Er spürte, wie mit jedem Herzschlag warmes Blut aus seinem Hals schoss. Der Bote beugte sich dicht über ihn.

»Ich bin August Hatzfeld«, hauchte er und stieß die Klinge abermals in den sterbenden Körper.

Hugo von Spanheim riss ein letztes Mal die Augen auf. Seine Lippen formten sich zu Worten, doch es kam kein Ton mehr aus seiner Kehle. Dann hauchte er sein Leben aus und fiel schlaff zur Seite.

 

 

...

 

 

Bastian war völlig außer Atmen. In Windeseile war er aus dem Labyrinth zurück an die Oberfläche gestiegen und hatte sein Pferd gesattelt. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und trotzdem hatte er das Gefühl, zu spät zu sein. Er gab dem Pferd die Sporen und preschte durch das Feldtor hinaus. Erst an der Weggabelung nach Stürzelberg ließ er die Zügel wieder locker. Genau an dieser Stelle begann der Wald. Bastians Blick fiel auf den Boden. Die Erde war an einigen Stellen immer noch aufgelockert und von rotbraunem Blut getränkt. Für einen winzigen Moment sah er den zertrümmerten Schädel des Boten Georg Schimmelpfennig erneut vor sich. Schnell suchten seine Augen ein neues Ziel und verdrängten die Gedanken an den geschändeten Leichnam. Er musste den Fremden in der schwarzen Kutte finden. Die blauen Tücher, die er tief unten im Labyrinth entdeckt hatte, wiesen eindeutig auf ihn hin. Schließlich hatte er ebensolche Tücher bei seiner Flucht vor Wernhart verloren. Und dieser Mann versteckte Elixier in geheimen Rohren, die sich mitten in der Stadtmauer befanden. Bastian zog den einzig möglichen Schluss daraus. Dieser Mann war derjenige, der das Elixier herstellte und auch verkaufte. Er hatte Bernhard Schimmelpfennig auf dem Gewissen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch seinen Bruder Georg, den Boten. Bastian kam die verdächtige Körperhaltung des Kuttenträgers in den Sinn. Ob es sich vielleicht doch um Hugo von Spanheim gehandelt hatte? Vielleicht hätte er ihn ansprechen oder zumindest von Wernhart beobachten lassen sollen. Er schüttelte den Gedanken ab. Wenn Hugo von Spanheim hinter den beiden Morden und dem Elixier steckte, würde Bastian es herausfinden. Er lenkte sein Pferd in den Wald hinein. Sofort verschwand das Sonnenlicht hinter den üppigen Baumkronen. Nur ab und an tänzelten vereinzelte Strahlen an den Baumstämmen herab. Allerdings verloren sie sich weit über Bastians Kopf und reichten nicht bis zum Boden. Dafür war das Blätterdach viel zu dicht. Die Temperatur war angenehm kühl. Der Schatten, der den ganzen Tag die Sonne fernhielt, wurde von leichtem Wind begleitet. Bastians Pferd nahm diesen Wechsel mit einem wohlwollenden Schnauben auf. Jeder Wald besaß einen sogenannten ältesten Baum. Pfarrer Johannes hatte ihm von dem Glauben der Landbevölkerung an die Magie erzählt, die der erste Baum, der sogenannte Vater eines jeden Waldes, besaß. Obwohl dieser Brauch langsam ausstarb, trug der jeweils älteste Baum auch heute noch einen eingeritzten Kreis in seinem Stamm. Dieser Kreis kennzeichnete gleichzeitig den Anfang und das Ende. Fiel der Baum, dann starb der Wald. Das zumindest glaubten die Bauern.

Bastian führte sein Pferd tiefer in den Wald hinein. Er musste bis ungefähr in die Mitte vordringen, um an die Stelle zu gelangen, die Bernhard Schimmelpfennig in den letzten Sekunden seines Lebens erwähnt hatte. Bastians Gaul trabte zielstrebig auf ein paar uralte Eichen zu, deren üppiges Blattwerk im Wind säuselte. Bastian musste nicht lange nach dem ältesten Baum suchen. Sofort erkannte er den Fremden in der schwarzen Kutte, der regungslos auf dem Waldboden lag. Es war ohne Zweifel der Mann, den Bastian zusammen mit Wernhart an der südlichen Stadtmauer beobachtet hatte. Bastian stieg ab und eilte - ohne sich umzusehen - zu dem am Boden Liegenden. Als er direkt vor ihm stand, kroch es kalt seinen Rücken hinauf. Die weit aufgerissenen, toten Augen Hugo von Spanheims starrten ihn anklagend an. Ihr seid zu spät gekommen! Geschockt ging Bastian einen Schritt rückwärts. Die Stimme dröhnte fortwährend in seinem Kopf. Entsetzt presste er die Hände an die Schläfen. Verdammt, er hatte von Anfang an geahnt, dass von Spanheim irgendwie in die Sache verwickelt war. Jetzt war auch er tot und Bastian würde vielleicht niemals die Wahrheit über Marthas Mörder und den der Gebrüder Schimmelpfennig herausfinden.

Er kniete nieder und bekreuzigte sich. Dann brummte er ein kurzes Gebet vor sich hin und schloss die Augen des Toten. Bastian hätte diesen Blick keine Minute länger ertragen können. Das Gesicht des Toten war weder zu einem Schrei verzerrt, noch wirkte es ängstlich. Bastian hatte den Eindruck, dass Hugo von Spanheim überrascht worden war. Ob er seinen Mörder gekannt hatte und nicht auf einen Angriff gefasst gewesen war? Hugos Lippen waren zu einem »Oh« geformt, die Hände an den Hals gepresst. Die Wunde war blutüberströmt. Bastian legte den Finger in die rote Flüssigkeit. Sie war noch warm und nicht geronnen. Er schätzte, dass das Leben vor nicht mehr als einer Stunde aus Hugos Körper gewichen war, vielleicht waren es auch nur Minuten. Bastian hatte den Mörder offenbar nur knapp verpasst. In einer Tasche fand Bastian ein ledernes Buch, das mit dem roten Familienwappen derer von Spanheim versiegelt war. Schnell blätterte er es durch. Sein Herz raste. Endlich hatte er es schwarz auf weiß. Hugo von Spanheim war tatsächlich für das Elixier verantwortlich. Das Lederbuch enthielt verschiedene Tagebucheintragungen und das Rezept für die Herstellung des Elixiers. Außerdem hatte Hugo von Spanheim genau Buch geführt über die Menge des Elixiers und die Goldgulden, die er mit dem Verkauf desselbigen einnahm. Bastian blätterte ungläubig weiter. Wie hatte von Spanheim das nur die ganze Zeit verheimlichen können? Bastian stoppte an jenem Datum, an dem Pfarrer Johannes sein Geburtstagsfest gegeben hatte und an dem die arme Martha im Burggraben ertränkt worden war. Doch er fand kein Geständnis, vielmehr äußerte sich Hugo wütend darüber, dass der Bote Georg Schimmelpfennig Teile des Elixiers entwendet hatte. Mit keinem einzigen Wort erwähnte er eine Begegnung mit Martha Hatzfeld.

Zunächst atmete Bastian erleichtert auf, doch bereits wenige Zeilen später gefror das Blut in seinen Adern. Hugo von Spanheim gestand wahrhaftig den Mord an seinem Boten. Es waren nur ein paar Zeilen, doch sie jagten Bastian kalte Schauer über den Rücken. Dieser Taugenichts hat den Tod verdient! Von Spanheim war ein habgieriger und kaltblütiger Mann gewesen, soviel stand für Bastian fest. Er hatte sie alle getäuscht. Vor allem Pfarrer Johannes. Die Erkenntnis brannte sich in Bastians Seele. Wütend klappte er das Buch zu. Er würde es der Bibliothek von Pfarrer Johannes anvertrauen.

In Hugos Taschen fand sich außerdem ein blutiges Tuch. Bastian betrachtete es nachdenklich. Vermutlich hing Bernhards Blut daran. Wenn sich diese Vermutung bewahrheitete, hätte Hugo von Spanheim die beiden Brüder auf dem Gewissen und damit eine ganze Familie ausgelöscht. Etwas weiter ab lag ein blutiger Dolch. Die Erde war an einer Stelle besonders aufgewühlt. Bastian trat mit dem Stiefel hinein und entdeckte das Loch. Es war leer. Ob Bernhard Schimmelpfennig an dieser Stelle das Elixier vergraben hatte? Doch wer war jetzt in seinem Besitz? Nachdenklich kratzte Bastian sich am Kopf. Irgendetwas hatte er übersehen. Abermals schlug er das Lederbuch auf und blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite. Die Notiz war kurz und knapp. Es war nicht die Handschrift von Hugo, sondern die eines alten Bekannten:

»Bastian Mühlenberg, trefft mich um Mitternacht am Mühlenturm. August.«

Bastian fluchte laut. Verdammt. August war ihm erneut einen Schritt voraus. Wütend schlug er das Buch zu und sprang auf sein Pferd. Diesmal würde August ihm die ganze Wahrheit erzählen müssen. Wenn nicht, so würde Bastian ihn vor das Schöffengericht zerren, das schwor er sich ein für alle Mal.

 

 

...

 

 

Der Mond war nicht viel mehr als eine schmale Silbersichel am Horizont, die nur spärlich Licht spendete. In der Dunkelheit wirkte der Mühlenturm wie ein furchterregender Riese, der stumm den Südwesten der Stadt bewachte. Diesmal war Bastian vorbereitet. Wernhart bewachte seine Familie. Er hatte das Haus verbarrikadiert, um ganz sicherzugehen, dass August nicht wieder dort eindringen und seine Frau und seine Tochter bedrohen konnte. Nervös lief er vor dem Mühlenturm auf und ab.

August ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Pünktlich um Mitternacht erschien er, in einen kostbaren dunkelroten Umhang gehüllt.

»Bastian Mühlenberg, wie ich sehe, habt Ihr meine Nachricht erhalten.«

»Das habe ich. Ich sollte Euch wegen des Mordes an Hugo von Spanheim in den Juddeturm sperren!«

Bastian ließ August keinen Moment aus den Augen. Dieser setzte eine erstaunte Miene auf.

»Wie kommt Ihr darauf, dass ich es war?«

Bastian lachte auf und zog das Notizbuch von Hugo aus seinem Wams.

»Nun, Ihr habt mir doch die Nachricht hinterlassen, nicht wahr?«

»Da habt Ihr durchaus recht. Aber es war Notwehr. Er griff mich an, als ich diesen Tonkrug von ihm haben wollte.« August öffnete seine Tasche und ließ Bastian einen Blick hineinwerfen.

»Zeigt ihn mir«, sagte Bastian und streckte die Hände aus.

»Ihr könnt ihn gerne öffnen. Einen Großteil des Elixiers habe ich bereits aufgebraucht.«

Bastian blickte August fragend an. »Was hat das zu bedeuten? Ihr habt das Elixier fast aufgebraucht?«

»Nun, Hugo von Spanheim brauchte einen neuen Boten, nachdem er seinen alten zertrampelt hatte. Ich bin der Glückliche, der in seine Dienste aufgenommen wurde.«

Bastian hob die Augenbrauen und ging einen Schritt auf August zu.

»Erzählt mir die ganze Geschichte! Und fangt doch einfach im Haus von Josef Hesemann an. An dem Tag, an dem Ihr Wernhart davon abgehalten habt, den Mann in der schwarzen Kutte zu stellen.«

August grinste. »Ihr seid ein kluger Mann, Bastian Mühlenberg. Ich bin beeindruckt.« Dann fuhr er fort. »Ich halte sehr viel von den Künsten Josef Hesemanns. Er ist wirklich ein ausgezeichneter Arzt. An jenem Tag drang plötzlich ein Fremder in Josefs Haus ein. Ich habe ihn beobachtet und beschlossen, dass es klüger wäre, ihn zu verfolgen.« Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte zu steigern.

»Dann bin ich Wernhart bis zu Stadtmauer gefolgt und habe mich in einiger Entfernung auf die Lauer gelegt. Glücklicherweise führte die Flucht des Fremden direkt an meinem Versteck vorbei. Ich konnte unter der Kapuze das Gesicht unseres Freundes Hugo von Spanheim erkennen. Während ihr mit dem Bruderältesten verhandelt habt, habe ich mich an Hugos Fersen geheftet. Ich wurde sein neuer Bote und ich habe ihn beobachtet, als er Bernhard Schimmelpfennig überwältigt und ins Labyrinth verschleppt hat. Ich gehe davon aus, dass Ihr wisst, dass Hugo von Spanheim beide Brüder ermordet hat?«

Bastian nickte. »Nun, zumindest hat er den Mord an Georg Schimmelpfennig in seinem Tagebuch gestanden. Ich ahnte es allerdings schon länger. Schimmelpfennig war berauscht, als wir ihn fanden. Josef hat Reste des Elixiers in seinem Magen gefunden. Da Hugo von Spanheim das Elixier hergestellt hat, hatte er einen guten Grund, seinen untreuen Boten zum Schweigen zu bringen. Es liegt nicht fern, dass er auch Georgs Bruder, Bernhard Schimmelpfennig auf dem Gewissen hat. Zwar hat er dieses Geständnis nicht niedergeschrieben, aber Bernhard hat mich zu der Stelle im Wald geführt, als ich ihn fragte, wer ihn verwundet hat. Außerdem hatte Bernhard das Elixier gestohlen. Hugo hatte also ein klares Motiv.

Ich verstehe allerdings nicht, warum Ihr Euch in all diese Dinge einmischt. Ich dachte, Ihr wollt den Mörder Eurer Stiefmutter finden. Hättet Ihr mich erneut aufgesucht, hätte ich Euch dies hier geben können.«

Bastian zog einen schmalen Silberring aus der Tasche und hielt ihn August vor die Nase.

»Woher habt Ihr diesen Ring?« Für einen Moment wich Augusts Selbstherrlichkeit blankem Erstaunen. Anerkennend pfiff er durch die Zähne und streckte die Hand nach dem Ring aus. Bastian umschloss das Schmuckstück mit seiner Faust und rückte es nicht heraus.

»Nun, ihr Mörder hat diesen Ring bei sich getragen. Ich verfüge leider nicht über mehr Beweise. Aber an dem Abend, als Martha von Pfarrer Johannes Geburtstagsfest nach Hause lief, ging sie weiter in Richtung Südmauer, wo sie Georg Schimmelpfennig dabei beobachtete, wie er das Elixier in der Stadtmauer versteckte. Dafür hat sie mit ihrem Leben bezahlt.«

Augusts Miene wirkte versteinert. »Ich habe mit seinem Bruder Bernhard gesprochen. Er war dabei und hat ihr nicht geholfen. Er ist wie ein Feigling davongelaufen.« August spuckte verächtlich aus. »Wisst Ihr, Bastian Mühlenberg, um ein Haar hätte ich ihn lebend aus dem Labyrinth und den Fängen Hugo von Spanheims befreit, aber ich konnte es nicht. Schließlich ist er mitschuldig an Marthas Tod. Er hätte ihr doch helfen können.«

»Warum habt Ihr Hugo von Spanheim ermordet?«, fragte Bastian abermals.

August zückte einen Ledersack und drückte ihn Bastian in die Hand.

»Deswegen«, erwiderte er. »Das Elixier ist eine kostbare Ware und als Hugos Bote kenne ich nun die Abnehmer und werde dieses überaus einträgliche Geschäft von nun an selbst in die Hand nehmen. Außerdem musste jemand für Marthas Tod bezahlen. Gebt dies hier meinem Zwillingsbruder. Das ist der Erlös, den ich mit dem Verkauf des Elixiers bisher erzielt habe. Doch erzählt ihm nicht von mir. Sein Herz ist zu weich für die Wahrheit.«

Bastian nahm den Lederbeutel entgegen.

»Ich kann Euch dennoch nicht einfach gehen lassen, August. Ihr habt Euch des Mordes schuldig gemacht. Ihr gehört vor ein Schöffengericht.«

»Was wollt Ihr? Hugo von Spanheim wäre wegen der Morde an den Gebrüdern Schimmelpfennig so oder so vor dem Scharfrichter gelandet. Was macht es für einen Unterschied, ob ich sein Richter bin oder jemand anderes?«

»Ihr seid nicht in dieses Amt berufen«, erwiderte Bastian.

»Ihr gabt mir einst ein Versprechen«, zischte August.

Bastian erinnerte sich nur allzu gut. August hatte ihm vor ein paar Monaten das Leben gerettet. Bastian war auf der Jagd nach dem Entführer seiner Frau um ein Haar in das tiefe Loch eines Kellergewölbes gestürzt. Mit letzter Kraft hatte er sich am Rand festgehalten, bis August ihm herausgeholfen hatte. Vorher aber hatte August ihm das Versprechen abgenommen, sein Leben zu schonen. Bastian war an dieses Versprechen gebunden. Es gab aber noch einen weiteren Grund, der dafür sprach, August laufen zu lassen. Er dachte an Christan, Augusts Zwillingsbruder. Wenn er August dem Henker übergab, wäre Christan ganz allein auf der Welt. Sein Zwillingsbruder war der letzte lebende Verwandte, der Christan geblieben war. Bastians Herz krampfte sich bei dieser Vorstellung zusammen. Das konnte er Christan unmöglich antun. Aber August hatte erneut gemordet. Dass Hugo selbst des Mordes schuldig war, ließ Augusts Schuld nicht minder schwer wiegen. Bastians Aufgabe war es, kriminelles Gesindel zu fassen. Er durfte August nicht gehen lassen. Allerdings durfte Bastian auch nicht vergessen, dass August ihm bei den Ermittlungen in diesen Mordfällen sehr geholfen hatte. Bastian blickte auf den dicken Verband, der sich an Augusts Oberarm befand.

»Woher habt Ihr diese Wunde?«

August legte die Hand auf das Leinentuch. »Ich sagte doch, Hugo von Spanheim hat mich angegriffen.«

Bastian grübelte. Wenn August Hugo tatsächlich aus Notwehr heraus getötet hatte, könnte Bastian ihn guten Gewissens laufen lassen. Doch so richtig glaubte er nicht daran.

»Nehmt den Tonkrug, er trägt die Initialen Hugo von Spanheims. Damit habt Ihr genügend Beweise, um Hugo von Spanheim als Mörder an den Pranger zu stellen.« Bastian nahm den Krug und betrachtete die Initialen, die auf dem Familienwappen derer von Spanheim prangten. Der Krug roch ganz eindeutig nach dem Elixier und überführte Hugo letztendlich des Mordes. Wäre August Bastian nicht in die Quere gekommen, hätte Bastian den Krug an der Stelle gefunden, die Bernhard Schimmelpfennig ihm kurz vor seinem Tod genannt hatte. Bastian hatte nach dem Mann gefragt, der Bernhard gefoltert hatte und der Krug war in der Tat Antwort genug. Nahm Bastian Wernharts Aussage über die Beobachtungen an der Stadtmauer hinzu, war klar, dass Bernhard das Elixier gestohlen hatte. Sicher würde Bastian auch noch die Kutsche finden, die Hugo von Spanheim für den Mord an seinem Boten benutzt hatte.

»Also gut«, brachte Bastian tonlos hervor. »Ich lasse Euch laufen, aber nur unter einer Bedingung. Ihr gebt mir das restliche Elixier und schwört, dass Ihr in Zukunft keine Geschäfte mehr damit macht. Ich werde das Laudanum unserem Arzt Josef Hesemann übergeben. Er kann viel Gutes damit tun, vor allem für Menschen mit großen Wunden und Schmerzen. Schlagt Ihr ein?«

August zögerte. »Ihr wisst doch, dass ich nicht dafür geschaffen bin, Gutes zu tun. Ich könnte Euch auf der Stelle töten. Warum sollte ich in diesen Handel einschlagen?«

»Weil Ihr keine andere Wahl habt. Außerdem habe ich Vorkehrungen getroffen. Ihr würdet die Stadtmauern nicht lebend verlassen, wenn Ihr Euch an mir oder meiner Familie vergeht.« Bastian hob dann den Lederbeutel mit den Gulden für Augusts Zwillingsbruder empor: »Außerdem schlagen offenbar zwei Herzen in Eurer Brust oder könnt Ihr mir erklären, warum Christans Wohl Euch kümmert?«

Augusts Miene versteinerte sich zunächst. Dann huschte eine Emotion über sein Gesicht, die Bastian nicht deuten konnte. »Ich überlasse Euch das Elixier. Es gibt genug andere Möglichkeiten für mich an Gulden zu kommen.« August wandte sich zum Gehen. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und nahm eine Flasche mit schwarzem Elixier aus seiner Tasche.

»Die hier könnt Ihr jetzt schon haben.« Er warf sie Bastian zu.

»Was soll ich damit?«

»Nun, wenn Ihr sie wiedersehen wollt, könnte das Mittel möglicherweise sehr hilfreich sein.«

Bastian runzelte die Stirn.

»Was meint Ihr?«

August lachte. »Wisst Ihr denn nicht, dass Ihr im Schlaf sprecht? Ihr habt mir einiges erzählt in jener Nacht in Eurem Schlafgemach.«

Bastian war starr vor Schreck. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.

»Ich meine Eure Anna, diese Frau aus Euren Träumen, die Euch plötzlich nicht mehr erscheinen will. Nehmt das Elixier und vielleicht seht Ihr sie wieder.«

 

 

...

 

 

Bastian starrte die Decke seines Schlafgemachs an. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Die Begegnung mit August hatte ihn aufgewühlt. Auf der einen Seite war August ein eiskalter Mörder und auf der anderen Seite sorgte er sich um seinen Zwillingsbruder. Bastian wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann. Eines war sicher: Er hoffte, dass August in dieser Nacht endgültig aus Zons verschwunden war und nie wiederkehren würde. Bastian drehte sich zur Seite und griff unter sein Kopfkissen. Seine Finger ertasteten einen harten Gegenstand. Vorsichtig zog er ihn heraus und hielt die Flasche mit dem Elixier in den Händen. Er dachte an Anna. Sein Herz pochte. Seit Tagen hatte er nicht mehr von ihr geträumt. Ob ein einziger Tropfen tatsächlich Abhilfe schaffen konnte? Die Stimme der Vernunft warnte ihn vor den Folgen möglicher Wahnvorstellungen. Doch sein Herz konnte nicht anderes. Jeder Herzschlag rief ihren Namen. Anna ... Anna ... Anna. Bastian musste es einfach versuchen. Er öffnete das Fläschchen und benetzte seine Zunge mit wenigen Tropfen. Der muffige Geruch war ihm unbehaglich. Das Elixier brannte in seiner Mundhöhle und nach einigen Augenblicken spürte Bastian, wie sein Körper immer leichter wurde und schließlich durch das Schlafgemach zu schweben schien. Bastian grinste und schloss die Augen. Sein Herz machte einen Satz, als er die Frau vor sich sah, die er in seinen Träumen liebte. Sie saß in einem merkwürdigen Gefährt und stieß einen Fluch aus. Das Gefährt bewegte sich nicht. Anna schien darüber verärgert. Bastian hingegen wunderte sich. Wie sollte dieses Ding ohne Pferdegespann fahren? Dann sprang sie hinaus und lief einen schmalen Weg hinunter. Bastian folgte ihr. Plötzlich befanden sie sich in einem düsteren Tunnel. Treppen führten hinauf ins Licht. Anna nahm die Stufen in Windeseile. Bastian rief ihren Namen, doch seine Stimme wurde von einem gigantischen Dröhnen übertönt. Ein Gefährt aus Eisen kam am Treppenabsatz auf Bastian zu. Er rannte Anna hinterher und sah, wie sie in das Gefährt sprang. Erneut schrie er ihren Namen. Sie drehte sich um und erkannte ihn. Doch Bastian kam keinen Schritt mehr weiter. Das Ungetüm aus Eisen kreischte auf und hielt ihn von ihr fern. Er war wie gebannt. Aus dem Augenwinkel nahm er sein Spiegelbild wahr. Es war eine verzerrte Version seiner selbst. Sie ähnelte ihm auf gespenstische Weise und doch war es nicht sein echtes Spiegelbild. Es war nur ein Teil von ihm. Das Weinen seiner Tochter drang in Bastians Bewusstsein. Er sah sie und ihre Kinder und Kindeskinder und mit einem Mal erkannte er den Mann. Das war nicht sein Spiegelbild. Der Mann war ein Nachfahre von ihm.

Anna! Bastian fuhr hoch. In diesem Augenblick spürte er, dass er sie wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Trotzdem huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Ein Teil von ihm würde immer bei ihr sein. Mit diesem Gefühl von Gewissheit schlief Bastian friedlich ein.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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