XXII.
Vor fünfhundert Jahren
Schwer beladen und heftig atmend verließ Dietrich in der Dunkelheit den Schutz des alten Bauernhofes. Sein linkes Bein zog er, wie immer, hinter sich her. Es war gar nicht so einfach, die vielen Seile und Haken humpelnd zu transportieren, ohne Zeit zu verlieren oder laute Geräusche zu verursachen. Dietrichs Hand schmerzte. Er hatte sich vorhin verletzt, als er sich die restlichen Kletterhaken zurechtbog. Der tiefe Schnitt in seiner linken Hand blutete immer noch stark. Ohne es zu merken, zog Dietrich eine leichte Blutspur hinter sich her. Er hatte die Hand zwar verbunden, aber feine Blutströpfchen lösten sich aus dem Tuch, welches er um seine Hand gebunden hatte, und fielen unmerklich zu Boden.
Der Mond schien hell. Trotz der eiskalten Februarnacht schwitzte Dietrich von der Schwere seiner Last. Er blickte hinauf in den Himmel. Es war schon sehr spät. Er würde sich beeilen müssen, wenn er bis Mitternacht fertig sein wollte. Ein Seil löste sich von seiner Schulter und scheppernd fielen die eisernen Haken zu Boden. Blitzschnell duckte Dietrich sich ab. Verdammt. Er musste vorsichtiger sein. Wenn ihn jemand hörte, war das sein Ende. Dietrich wartete ein paar Sekunden ab. Stille. Langsam sammelte er die Haken wieder auf und befestigte sie diesmal gründlich an seinem Wams. Ihm blieben noch ungefähr zwei Stunden, um die restlichen Haken am Turm zu befestigen und der süßen Marie seine Zeichen in die Haut zu ritzen. Ob die Kleine wohl schon aufgeregt auf ihn wartete? Dietrich konnte es kaum erwarten, ihr die schönen langen Haare abzurasieren und dann mit seiner Messerklinge die Zeichen »1-8-Z« in ihre Kopfhaut zu schneiden. Es war ein göttliches Zeichen, dass all diese wunderschönen, jungen Dinger da waren, um sein Puzzle zu vollenden.
Das Wolfsrudel näherte sich diesmal in aller Stille und von hinten. Sie hatten die Verfolgung seiner Blutspur aufgenommen und erinnerten sich an den Geruch dieses Menschen, der vor ungefähr einem Monat einen Wolf aus ihrem Rudel getötet hatte. Außerdem waren sie hungrig. Sie teilten sich lautlos auf und kreisten ihn im Halbkreis von hinten ein. Einer rechts, der andere links und zwei Wölfe schlichen direkt hinter Dietrich. Der Anführer hob zu einem riesigen Sprung an und stürzte sich auf Dietrich. Im selben Moment sprang sein Kompagnon um Dietrich herum und griff ihn von vorne an.
Dietrich stürzte nach vorne auf die Knie und griff blitzschnell zu seinem Messer. Doch ehe er es nach oben reißen und zum Schlag ausholen konnte, verhedderte er sich in den Seilen. Diesen Moment nutzte der Wolf, der vor ihm stand aus und sprang ihm an die Kehle. Ein unglaublich grässlicher Schmerz durchfuhr Dietrichs Körper, als der Wolf ein riesiges Stück aus seinem Hals herausbiss und ihm die Halsschlagader durchtrennte. Dietrichs Sinne schwanden, noch bevor er begreifen konnte, was gerade passiert war. Er starb, ohne auch nur eine einzige Sekunde an den Tod zu denken. Wortlos und ohne Abschied verließ Dietrichs Seele diese Welt. Die Wölfe schleppten die zerrissenen Einzelteile seines Körpers in den tiefen Wald und machten sich darüber her. Nur einen Tag später war von Dietrich Hellenbroich nicht mehr, als einzelne Knochen übrig geblieben. Alles andere hatten die Wölfe und andere hungrige Tiere gefressen.