Vor fünfhundert Jahren
Bastian hockte vor den leblosen, blutigen Zungen, der bestialische Geruch von Verwesung vernebelte seinen Verstand. Tränen der Trauer und der Wut standen in seinen Augen, und so bemerkte er den schwarzen Schatten nicht, der sich von hinten heranschlich.
Ein kräftiger Hieb traf ihn am Hinterkopf und Bastian wurde schwarz vor Augen. Im letzten Moment schaffte er es, sich zur Seite zu rollen. Der zweite Hieb traf mit voller Wucht den Boden neben ihm. Bastian stöhnte auf und kam taumelnd auf die Beine. Sein Gegner stand direkt vor ihm und holte zu einem erneuten Schlag aus. Geschickt wich Bastian aus und landete mit einem kräftigen Sprung hinter seinem Angreifer. Dieser wankte irritiert einen Schritt nach vorne und zögerte. Bastian nutzte diesen kurzen Moment, um ihm von hinten seine kräftige Arme um die Kehle zu legen. Mit aller Kraft drückte er so fest zu, wie er konnte. In seinem Inneren sah er den sterbenden Heinrich vor sich und spannte seine Muskeln noch fester an. Der Widerstand des Mannes wurde schwächer. Er vernahm ein ersticktes Röcheln, verzweifelt schnappte sein Gegner nach Luft. Mit kräftigen Hieben boxte er Bastian seine Ellenbogen in die Seite, doch dieser spürte die Hiebe nicht. Unnachgiebig schnürte er seinem Gegner weiter die Luft ab. Du Teufel! In der Hölle sollst du schmoren!, dachte Bastian wütend und ließ den ohnmächtig gewordenen Körper zu Boden fallen. Mit einem dumpfen Aufprall blieb der Mann regungslos liegen.
Blind vor Wut stürzte Bastian sich auf ihn und trommelte wild mit den Fäusten auf seine Brust. Die Kapuze des Mannes rutschte vom Schädel. Das ist gar nicht Conrad!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er das Gesicht erkannte. Vor ihm lag Bruder Ignatius. Erschrocken fuhr Bastian hoch. Wie war das möglich? Wie konnte es sein, dass Bastian von seinem Treiben nichts mitbekommen hatte.
Eurem Bruder Heinrich geht es schon viel besser, ich war heute Morgen bei ihm. Dieser Satz schoss wie ein scharfes Schwert durch Bastians Hirn und hinterließ ein lautes Rauschen in seinen Ohren. Er blickte auf die klobigen Pranken von Bruder Ignatius. Wie oft hatte er sich gefragt, woher ein Mönch solche starken Hände haben konnte. Traurig schüttelte Bastian den Kopf. O Heinrich, dachte er, bitte verzeih mir, dass ich nicht eher bei dir war. Ich hätte dich retten können!
Hättest du das wirklich, Bastian? Eine sanfte Stimme sprach in seinem Kopf. Du weißt doch selbst, wie krank er war!
Aber auf diese Weise hätte Heinrich nicht sterben dürfen. Wieder liefen Tränen über Bastians Gesicht. Er musste Heinrichs Leiche finden. Wenigstens sein letztes Versprechen wollte er ihm erfüllen und ihn auf dem Friedhof im Kloster Knechtsteden begraben.
Bastian blickte sich um. Er fand das Ende seines Seils und schnitt ein langes Stück davon ab. Dann hievte er den schweren Körper von Bruder Ignatius auf den Holzstuhl. Dessen Eisennägel drangen augenblicklich tief in das Fleisch des Mönches ein. Er stöhnte leise auf, öffnete kurz die Augen, verdrehte sie jedoch sofort und fiel erneut in Ohnmacht. Bastian fesselte ihn an Händen und Füßen. Sollte dieser Bastard ruhig dieselben Schmerzen erleiden, wie die, die er Heinrich zugefügt hatte, dachte er mit Genugtuung. Dann schlich Bastian davon, um sich auf die Suche nach Heinrichs totem Körper zu begeben.
Es konnte nicht weit sein, dachte Bastian. Bruder Ignatius hatte nicht viel Zeit gehabt, seinen Bruder verschwinden zu lassen. Bastian durchsuchte die Gänge in östlicher Richtung. Dort herrschte nichts als leere Finsternis. Dann kehrte er zum Ausgangspunkt zurück und machte sich in die nördliche Richtung auf. Gründlich leuchtete er jeden Winkel des verdammten Labyrinths aus, doch alles, was er entdeckte, waren Ratten, die im Schein seiner Fackel davonhuschten, oder Fledermäuse, die reglos an der Decke hingen. Als er gerade wieder umkehren wollte, bemerkte er in einiger Entfernung einen Steinhaufen. Sein Herz begann laut zu pochen. Je mehr er sich den Steinen näherte, desto schlimmer roch es nach Verwesung. Angewidert hielt er sich einen Zipfel seines Wamses vor die Nase und blieb vor dem Haufen stehen. Es roch fürchterlich. Fliegen erhoben sich in einem schwarzen summenden Schwarm über seinen Kopf. Würmer verkrochen sich eilig im Schatten und Bastian trat wütend eine fette, tote Ratte beiseite. Dann begann er zielstrebig, die Steine vom Haufen abzutragen. Ehe er richtig ins Schwitzen geraten war, wurde er fündig. Eine schwarz gewordene Hand kam ihm entgegen.
Bastian entfernte die Steine, bis er alle Leichen freigelegt hatte. Vor ihm lagen Katharina, Huppertz Eheweib, das Weib vom alten Jacob und Bruder Conrad, dem er grobes Unrecht in seinen Gedanken angetan hatte. Nur die Leiche von Heinrich fehlte. Bastian versuchte, eine weitere Steinschicht beiseite zu räumen, doch er war bereits auf dem nackten Felsen angelangt.
Verdammt, wo hatte dieser Teufel seinen Bruder nur versteckt?