Vor fünfhundert Jahren
Bastian hatte Stunden damit verbracht, die Leiche seines Bruders Heinrich zu finden. Doch seine Suche blieb erfolglos. Völlig erschöpft gab er auf und ließ sich müde auf den harten Boden fallen. Seine Fackel war nahezu heruntergebrannt. Ihr Feuerschein warf nur noch ein schwaches Licht an die Wände des Labyrinths.
Mit einem verzweifelten Seufzer lehnte Bastian sich gegen die kalte Wand und griff sich an die Brust. Er zog sein Amulett hervor und betrachtete es. Eine goldene Mühle hob sich leuchtend vom silbernen Hintergrund ab. Jeder der sechs Brüder hatte zur Geburt vom Vater ein Amulett bekommen. Sie glichen einander fast vollständig. Jemandem, der nur einen flüchtigen Blick darauf warf, wäre nie aufgefallen, dass der Stand der Mühlenflügel nicht gleich war. Mit jedem neugeborenen Sohn hatte der alte Zonser Müller die Flügel ein wenig versetzt. Während die Flügel auf Bastians Amulett wie Gottes Kreuz aussahen, weil zwei Flügel im rechten Winkel zueinanderstanden, waren sie auf Heinrichs Amulett verrückt. Bastian ließ das Amulett wieder unter sein Wams fallen und holte aus der linken Hosentasche die kleine, goldene Marienfigur hervor. Er hatte die kostbare Figur auf der Suche nach Heinrich an der markierten Stelle unter dem Juddeturm gefunden. Sie hatte sich genau dort befunden, wo sie laut der Karte hatte liegen müssen. Die Marienfigur war mit zahlreichen Edelsteinen besetzt, die im Schein der Fackel glitzerten. Bastian drehte sie herum, konnte jedoch nirgendwo eine Öffnung entdecken. Ob in dieser Hülle wirklich ein Heilpulver vom Erzbischof von Saarwerden steckte? Entmutigt ließ er die Figur wieder in seiner Tasche verschwinden. Jetzt würde ihm das Pulver auch nichts mehr nützen. Selbst wenn er sich nicht an die Worte von Pfarrer Johannes halten würde, könnte er Heinrichs Lungenleiden mit dem Pulver nicht mehr heilen. Heinrich war tot! Er schüttelte den Kopf und hörte erneut den verzweifelten Schrei seines Bruders in seinem Inneren. Die Wut stieg wie giftige Galle in ihm hoch. Verdammt. Bruder Ignatius, dieser Teufel, sollte ihm auf der Stelle verraten, wo sein Bruder lag.
Er sprang auf und lief hastig zu dem Stuhl, auf dem Ignatius immer noch gefesselt saß. Unsanft schüttelte Bastian den Mörder, doch dieser blieb bewusstlos.
»Ich werde dich in den Juddeturm bringen und dann wirst du reden!«