VII.
Gegenwart
Die beiden jungen Dinger hatten sein Archiv verlassen. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie ruhig noch bleiben können. Er hatte ihre Unruhe gespürt. Gemerkt, dass sie ganz schnell wieder von diesem Ort, der mittlerweile seit 30 Jahren seine zweite Heimat geworden war, entfliehen wollten. Dabei hätte er ihnen gerne jede Einzelheit zu den Zonser Puzzlemorden erklärt. Die hübsche Dunkelhaarige hatte besonderes Interesse an dem Fall gezeigt. Wie gerne wäre er doch einmal mit seiner Zunge an ihrem schlanken weißen Hals entlanggefahren, während er ihren Kopf an ihren langen Haaren nach hinten gezogen hätte. Er spürte eine Welle der Erregung bei diesen Gedanken. All diese hübschen jungen Dinger da draußen in der Welt, die in ihm gar nicht den Mann sahen, der er eigentlich war. Sie sahen nur einen älteren, humpelnden und hässlichen Mann vor sich, aber er war doch ganz anders. Etwas ganz Besonderes. Er kannte jedes Detail zur mittelalterlichen Geschichte von Zons. Wenigstens hatte ihm dieser junge Mann, der sich erst vor ein paar Wochen für die historischen Morde interessierte, mehr Respekt und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dieser Mann hatte sich stundenlang mit ihm unterhalten und er war so klug, dass er jede Frage beantworten konnte. Gut, vielleicht würden die jungen Dinger ja auch mit vielen Fragen wiederkommen. Jedenfalls hoffte er tief in seinem Innersten darauf, dass die Dunkelhaarige mit ihren großen braunen Augen sich noch einmal bittend in die seinen versenken würde. Er konnte warten.
...
»Meine Güte, Emily, wie dieser Typ dich angestarrt hat. Das war echt unheimlich! Tue mir bloß einen Gefallen und gehe nicht alleine ins Kreisarchiv. Jedenfalls nicht, wenn dieser Typ gerade Dienst hat«, sagte Anna, als sie auf der Rückfahrt in ihrem Auto saßen.
»Ja, er war schon sehr gruselig und es hat so fürchterlich gemuffelt in diesen Räumen. Wer weiß, was der alte Kauz in den hinteren Kammern alles so versteckt hat!«, antwortete Emily. Sie waren auf dem Weg zurück in Annas kleines Appartement. Sie wohnte in der Rheinstraße im Haus mit der Nummer vier. Das Häuschen wurde im Jahre 1222 erbaut und lag direkt am Zollturm. Früher wurde dieser Turm auch Rheinturm oder Petersturm genannt. Da das Häuschen bereits innerhalb der dicken Stadtmauern von Zons lag, gab es keine Parkplätze direkt vor dem Haus. Deshalb fuhr Anna auf den großen Parkplatz am Zollturm, der eigentlich für die vielen Besucher gedacht war, die am Wochenende das kleine Zons bevölkerten und die gerne durch dieses wunderbar erhaltene, mittelalterliche Städtchen spazierten. Von diesem Parkplatz aus konnten sie direkt durch eine kleine Unterführung hindurch den Eingang zum Haus und zu Annas kleinem Appartement erreichen.
Es war ein wirklich kalter Wintertag. Obwohl es erst Anfang Dezember war, lagen die Temperaturen schon im Minusbereich und sie konnten ihren Atem in der vor Kälte klirrenden Luft sehen. Es würde vielleicht ausnahmsweise einmal weiße Weihnachten geben. Anna und Emily liefen frierend, mit hochgezogenen Schultern durch die kleine Rheinstraße und waren froh, als sie in Annas warmen Appartement ankamen. Anna kochte Tee und beide machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Sie breiteten die Unterlagen aus dem Kreisarchiv vor sich aus. Der Mörder soll ein gewisser Dietrich Hellenbroich aus Köln gewesen sein. Aufgewachsen war er auf einem riesigen Bauernhof am nördlichen Rand von Köln. Die Mutter war bei seiner Geburt verstorben und er wuchs alleine bei seinem Vater auf. Der Vater kam während einer großen Pestepidemie ums Leben und so erbte Dietrich bereits im Alter von nur fünfzehn Jahren den Bauernhof. Rund um den Bauernhof verschwanden in dieser Zeit viele junge Mädchen. Etliche Nachbarn verdächtigten Dietrich und machten ihn für das Verschwinden der Mädchen verantwortlich. Man konnte ihm jedoch nie wirklich etwas nachweisen und so lebte er fast zehn Jahre lang unbehelligt auf seinem Bauernhof, bis er im November 1495 von der Kölner Stadtwache bei einem bestialischen Mord an der jüngsten Tochter des wachhabenden Burgsoldaten gefasst wurde. Das Mädchen hatte sich wohl heftig gewehrt und laut geschrien, aber die Wachen kamen zu spät und konnten es nicht mehr retten. Dafür mussten sie nicht lange nach dem Mörder suchen, denn dieser hatte das Mädchen langsam erdrosselt, und während dieser schrecklichen Tat vergewaltigt. Da die Familie des Mädchens ursprünglich aus Neuss stammte, bestand der Vater darauf, den Mörder nach Neuss zu überführen und dort hinrichten zu lassen. Er wollte eine öffentliche Hinrichtung vor allen Bekannten und Freunden seiner Tochter haben. Dies war sozusagen die letzte Genugtuung, die er seiner ermordeten Tochter zuteil kommen lassen wollte. Die Asche des Mörders sollte am Rhein über dem Ort verstreut werden, an dem seine Tochter als kleines Mädchen am liebsten mit seinen Geschwistern herumgetollt hatte. Doch dazu war es jedoch nie gekommen, da es Dietrich Hellenbroich gelungen war, während seiner Überführung von Köln nach Neuss zu fliehen. Die Flucht gelang ihm durch eine Unvorsichtigkeit der Zonser Stadtwache. Im Juddeturm wurden zu dieser Zeit gerade neue moderne Schlösser für die Gefangenenzellen ausprobiert. Irgendwie musste der Mörder es geschafft haben, eine Messerklinge mit in seine Zelle zu schmuggeln. So gelang es ihm am frühen Morgen des 15. Dezembers 1495 aus dem stark bewachten Juddeturm auszubrechen. Er konnte durch einen Geheimgang, der direkt vom Juddeturm zur Burg Friedestrom führte, unbemerkt entkommen. Woher er von dem Geheimgang wusste und wie er den Eingang fand, ist bis heute unklar. Gewiss ist nur, dass ihm noch am selben Tag ein weiteres Mädchen, namens Elisabeth Kreuzer, zum Opfer fiel. Bastian Mühlenberg übernahm damals die Ermittlungen.