XXIII.
Gegenwart
Gerade als Oliver auf dem Rückweg ins Revier war, rief sein Partner Klaus an. Dietrich Hellenbruch, der Archivar saß in Untersuchungshaft! Klaus hatte heute Morgen zwei Polizeibeamte ins Kreisarchiv geschickt, die noch einmal sämtliche Unterlagen auf Vollständigkeit untersuchen sollten. Als die Beamten anfingen, alte Kartons zu inspizieren, rastete der Alte völlig aus und ging auf einen der Beamten los.
...
Es war sein Lieblingsporträt, welches sie mit ihren schmutzigen Händen besudelt hatten. Dietrich hätte es schon vor Jahrzehnten an das Museum abgeben müssen. Er wusste, dass es ein uraltes Unikat war. Ein Original-Ölgemälde aus dem 15. Jahrhundert. Es zeigte ein junges Liebespaar aus Zons. Genauer gesagt zeigte es Bastian Mühlenberg gemeinsam mit seiner Verlobten Marie Dünnbier.
Dietrich war vernarrt in dieses Porträt. Die tragische Geschichte um dieses Liebespaar hatte schon immer sein Herz gerührt. Es war einer der Gründe, warum er die Geschichte des Zonser Puzzlemörders in- und auswendig kannte. Auf keinen Fall wollte er dieses kleine Porträt verlieren. Er hatte es extra vakuumverpackt in der Dunkelheit aufbewahrt, damit es für ewig erhalten blieb und jetzt riss dieser Trottel von Polizeibeamtem die Verpackung auf, als handle es sich um ein ordinäres Buch oder Ähnliches. In diesem Moment konnte Dietrich sich nicht länger beherrschen und versuchte wütend, dem Beamten das Porträt aus der Hand zu reißen.
Jetzt saß er hier in einem Verhörraum der Polizei und sah sich den zwei Kriminalbeamten gegenüber, denen er vor kurzem erst die Geschichte zum Zonser Puzzlemörder offengelegt hatte. Sie sahen ihn an, als ob er etwas verbrochen hätte. Dietrich atmete tief durch. Das konnte doch wirklich niemand verstehen. Er hatte ihnen geholfen, ihnen die Liste mit den Namen gegeben und jetzt wollten sie ihm zum Dank sein wertvollstes Eigentum stehlen.
»Herr Hellenbruch, erklären Sie uns doch bitte, warum Sie auf unseren Kollegen losgegangen sind?«, fragte der jüngere der beiden Beamten. Dietrich ließ müde den Kopf sinken. Er würde gar nichts mehr sagen. Sie hatten ihm sein Gemälde gestohlen!
...
Oliver merkte schnell, dass es zwecklos war, aus dem Alten etwas herauszubekommen. Schlaff, mit hängendem Kopf saß er vor ihnen und hatte völlig abgeschaltet. Es sah fast so aus, als wäre er in eine tiefe Trance versunken. Oliver schüttelte den Kopf. Was hatte dieser kauzige Alte zu verbergen? Steckte er am Ende doch hinter den Morden?
Klaus versuchte wieder und wieder, den Alten zum Reden zu bringen. Kommunikation war eine seiner Stärken. Das lag Oliver gar nicht. Er kam lieber gleich zum Punkt und hielt sich nur ungern mit langen Vorreden auf. Aber trotz aller Versuche scheiterte Klaus. Nach einer Stunde ließen sie Dietrich Hellenbruch zurück in seine Zelle bringen. Sie mussten wohl auf einem anderen Weg die Wahrheit herausfinden!
...
Endlich waren die Vergrößerungen da! Triumphierend hielt Emily den großen braunen Briefumschlag in ihren Händen. Schnell lief sie die Stufen zu ihrem kleinen Appartement nach oben und verschloss schnell atmend die Tür hinter sich. Sie schloss die Augen. Plötzlich kam ihr Oliver Bergmann in den Sinn. Es war schon über eine Woche her, dass sie sich mit ihm in dem kleinen Café um die Ecke getroffen hatte. Es war eine sehr nette Verabredung. Ohne weiter darüber nachzudenken, wählten ihre Finger fast automatisch seine Telefonnummer.
»Hallo, hier ist Emily Richter. Ich habe soeben die Vergrößerungen des Tagesbuchs von Bastian Mühlenberg erhalten. Hätten Sie Lust, diese mit mir anzuschauen?«
...
Drei Stunden später saßen sie wieder in dem kleinen Schloss-Café. Oliver hätte eigentlich nicht so früh Feierabend machen dürfen. Die Untersuchungen liefen immer noch auf Hochtouren. Nach ihrem letzten Treffen hatten sie die Suche nach Martin Heuer auch auf dessen neuen Freund Christopher Wörmann ausgeweitet. Doch beide waren wie vom Erdboden verschluckt. Die Berliner Polizeikollegen hatten mittlerweile die höchste Fahndungsstufe eingeleitet. Christopher Wörmann wurde in den letzten drei Wochen mehrfach von glaubhaften Zeugen in Berlin gesehen. Dies schloss Christopher Wörmann eigentlich von dem Kreis der Verdächtigen weitestgehend aus. Es gab aus Olivers Sicht jedoch zwei wesentliche Punkte, die ihn dazu veranlassten, Christopher Wörmann nicht als Verdächtigen fallen zu lassen. Zum einen lagen Berlin und Neuss nur ca. 600 Kilometer voneinander entfernt. Diese Strecke konnte innerhalb eines halben Tages mit dem Auto, dem Zug oder dem Flugzeug sogar in einer knappen Stunde überwunden werden. Zum anderen konnte sich Emilys beste Freundin, Anna Winterfeld, daran erinnern, Christopher Wörmann vor einigen Wochen in Zons gesehen zu haben. Sie war zusammen mit Emily in Zons in einem Café gewesen und glaubte, dass er dort vorbeigegangen sei. Emily hielt das für ein Hirngespinst, aber Oliver wollte die Aussage von Anna Winterfeld nicht so einfach abtun.
Emily blickte Oliver erwartungsvoll an. Oliver war so in seinen Gedanken vertieft, dass er Emilys letzten Satz nur zur Hälfte mitbekam. Doch instinktiv nickte er und folgte der Geste ihrer Hände, welche auf den Tisch vor ihnen wies. Sie hatte den Stadtplan von Zons und die Sternenkarte des Raben auf Backpapier übertragen und diese übereinandergelegt und dann um 180 Grad gedreht.
Mit vor Aufregung rosigen Wangen las sie ihm nun aus den Vergrößerungen des Notizbuches von Bastian Mühlenberg vor. Es war eine schwer zu entziffernde altdeutsche Schrift, aber Emily war Expertin darin. Oliver hörte aufmerksam zu und nahm einen Stift in die Hand. Er drehte die beiden Karten zu ihrem Ausgangpunkt zurück und beschriftete die Ecken der Stadtmauer von Zons mit den Buchstaben »K-M-Z« und »B«. An die Mauern schrieb er, in der Reihenfolge ihrer jeweiligen Länge die Ziffern »6-7-8-9«. Anschließend drehte er die Karten wieder um 180 Grad und staunte nicht schlecht!