XX.
Vor fünfhundert Jahren
Bastian konnte es noch immer nicht wirklich glauben. Seine Marie war verschwunden. Wie konnte das nur sein? Er hatte doch sämtliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, die nötig waren, um Dietrich Hellenbroich aufzuhalten! Seit Tagen konnte er nicht mehr schlafen. Er musste irgendetwas übersehen haben. Aber er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wenn Dietrich Hellenbroich Marie in seiner Gewalt hatte, dann war sie bereits tot. Eine schreckliche Übelkeit breitete sich bei diesen Gedanken in seinem Körper aus und lähmte ihn. Bastian atmete tief durch und dachte nach. Sein Verstand zündete in seinem Inneren ein winziges Licht der Hoffnung an. Noch war ihre Leiche nicht gefunden worden. Wenn er sie wirklich getötet hätte, hätten sie Marie doch längst finden müssen. Bisher hatte der Mörder doch jedes Mal dafür gesorgt, dass seine Opfer wie auf einem Präsentierteller, gut sichtbar vorgeführt wurden.
Zum hundertsten Male ging Bastian seine Aufzeichnungen durch. Maries Nachname passte einfach nicht in das Puzzle hinein. Sie hieß mit Nachnamen Dünnbier. Aber nach Bastians Analysen musste der Mörder auf ein Mädchen mit »Z« aus sein. Schließlich hatte er doch diesen Buchstaben in die Gefängnistür des Juddeturms geritzt. Bastian fuhr sich mit den Händen durch sein zerzaustes Haar. Er griff noch einmal nach dem Stadtplan von Zons und nach der Sternenkarte. Die Stadtmauer von Zons glich in ihren Grundzügen eins zu eins den Linien des Sternbildes des Raben. Sie lagen nur seitenverkehrt zueinander. Bastian drehte das Sternbild um 180 Grad und es passte perfekt auf die Linien der Stadtmauern von Zons. Die vier Sterne, welche das Sternbild des Raben prägen, lagen exakt auf den Türmen an den Ecken der Stadtmauer. Bastian ging im Geiste die Namen der Türme durch und plötzlich hatte er eine Idee!
...
Marie konnte nichts erkennen. Es war stockdunkel und eiskalt. Ein modriger Geruch lag in der Luft. Ihr Kopf dröhnte. Sie versuchte ihre Hände zu bewegen, doch sie waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Kaltes Eisen umschlang ihre Handgelenke und zwang sie dazu, die Hände wieder locker zu lassen. Er hatte sie in einem dunklen Loch angekettet! Wie lange würde es noch dauern, bis er wiederkam und sie töten würde? Es war so dunkel, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es Tag oder Nacht war. Alles, was sie wusste, war, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er sie holen kam!
...
Dietrich war mit Hilfe des Schmugglers ohne große Probleme nach Zons hinein- und auch wieder hinausgekommen. Zwar hatte er sein Familienamulett dafür hergeben müssen, aber das war es ihm Wert gewesen. Am Ende konnte er dem Schmuggler immer noch auflauern und es wiederholen, aber dafür war im Augenblick keine Zeit. Erst musste er sich um die süße Marie kümmern!
Er hatte ihr morgens in der Dunkelheit aufgelauert, als sie aus dem Brunnen Wasser holen wollte. Er hatte sie lange beobachtet und erst zugeschlagen, als sie mit den schweren Wassereimern auf ihren Schultern zurück auf dem Weg nach Hause war. Schwer beladen und erschöpft, wie sie war, hatte er sie leicht überrumpeln können. Schnell hatte er sie in einen Hinterhof geschleift und ihr fast zwei Liter Wein eingeflößt. Wie auch bei den beiden anderen Mädchen hatte das wunderbar geholfen und Marie war am Ende ruhig und gefügig gewesen. Ohne Probleme konnte er sie unter ein paar alten Säcken versteckt aus Zons hinausschmuggeln. Der ahnungslose Bauer wurde von seinem Bekannten, dem Schmuggler, abgelenkt und hatte nicht die geringste Ahnung, dass er ein menschliches Wesen auf seinem Karren aus der Stadt hinaus transportierte.
Dietrich hatte das schlafende Mädchen in aller Ruhe im Verlies anketten können. Das Verlies wurde seit einigen Jahren nicht mehr benutzt. Es lag in einem Gewölbe tief unter dem Zollturm und war nur von außerhalb der Stadtmauern zugänglich. Der direkte Zugang von der Stadtseite aus ins Verlies wurde vor Jahren zugemauert, als man beschlossen hatte, den neuen Juddeturm als Gefängnis für Verbrecher und kriminelles Gesindel zu benutzen. Seitdem war das Verlies unter dem Zollturm immer mehr in Vergessenheit geraten, und weil es so schlecht zugängig war, wurde es auch längst nicht mehr genutzt. Hier hatte Dietrich nun genug Ruhe, um Marie für sein nächtliches Ritual vorzubereiten. Heute Nacht war Vollmondnacht!
Vor Erregung leicht zitternd, fuhr er der schlafenden Marie über das Gesicht und den Hals. Er umfasste die weichen Rundungen ihrer Brüste und konnte dabei spüren, wie er zwischen den Beinen hart wurde. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sich nicht zwischen ihre Beine zu werfen und ihr die Jungfräulichkeit zu nehmen. Er lächelte. Er würde der erste und letzte Mann sein, der in den Genuss dieser feinen, weichen Schenkel kam. So ein Pech für Bastian Mühlenberg! Der würde sich wohl eine Andere suchen müssen. Dieses kleine Ding hier gehörte ihm. So war es von Gott vorherbestimmt. Doch noch war es nicht so weit. Erst würde er ihr die Haare abrasieren müssen. Er wollte ihr seine Zeichen in die Kopfhaut ritzen und erst anschließend in sie eindringen und hören, wie sie dabei schrie. Am Ende würde er sie ganz langsam mit seinen Händen erwürgen und dabei zuschauen, wie das Leben aus ihr hinaus wich, während er sich lüstern seinem Höhepunkt näherte.
Dietrich spürte, wie seine Hände anfingen zu zittern. Er musste schnell raus hier und die notwendigen Vorbereitungen treffen. Rasieren würde er sie erst kurz vor Mitternacht. Bis dahin musste er unentdeckt bleiben und einen Weg auf den Zollturm hinauf finden. Es würde nicht leicht sein, den Turm von außen zu besteigen. Aber einmal hatte er es bereits geschafft, in jener Nacht, als Bastian Mühlenberg ihn überrascht hatte. Ob dieser Mühlenberg damit rechnete, dass er wieder von außen den Turm besteigen wollte? Er hoffte nicht.
Dietrich machte sich auf und lief zurück zu dem verfallenen Bauernhof, der ihm seit Wochen als Unterkunft diente. Dort legte er sich noch einmal die Seile und Kletterhaken für seinen nächtlichen Aufstieg zurecht. Jeder Schritt musste exakt geplant werden, da er bei völliger Dunkelheit auf den Turm steigen würde. Nur der Vollmond würde ihm Licht spenden. Zehn Haken hatte er in den letzten Wochen bereits unauffällig am Turm angebracht. An diesen würde er mühelos das Seil befestigen können. Sobald er oben war, musste er die Wachen überrumpeln. Er hoffte, dass es nicht mehr als zwei Soldaten waren, sonst würde er Probleme bekommen. Wenn die Wachen erledigt waren, würde er das bewusstlose Mädchen mit einer Seilwinde hinauf auf den Turm ziehen. Zu diesem Zweck hatte er sich ein extralanges Seil besorgt. Da sie sein drittes Opfer war und für den hellsten Stern im Sternbild des Raben stand, welcher außerdem am nächsten zum Sternbild der Jungfrau lag, war ihre körperliche Anwesenheit für sein Ritual von größter Bedeutung. Bei seinen ersten beiden Opfern hatte eine Schale mit ihrem Blut ausgereicht. Das war natürlich wesentlich einfacher zu bewältigen gewesen. Dies hier würde Dietrichs Feuerprobe werden.