Gegenwart
Emily hielt den porösen Tonkrug in der Hand.
»Unglaublich, dass er immer noch unentdeckt hier unten liegt«, murmelte sie in sich hinein. »Hier wurde Heinrich Mühlenberg, Bastians ältester Bruder, ermordet. Bastian hat seine Leiche nie gefunden. Der Mörder trennte seinen Opfern die Zungen ab, folterte sie dann tagelang weiter auf diesem Stuhl und schnitt ihnen schlussendlich die Kehle durch. Ihre Zungen sammelte er in diesem Tonkrug als Zeichen ihrer Sünden.
Ist das nicht schrecklich, Anna?« Emily hielt ihr den leeren Krug hin. Nur gut, dass er wirklich leer ist, fuhr es ihr durch den Kopf.
»Danke Emily, aber ich muss dieses Ding nicht anfassen. Willst du nicht ein paar Fotos von dem Stuhl machen? Das wäre doch gut für deine Reportage!«
Emily holte ihre Kamera hervor und grelles Blitzlicht durchzuckte ein paarmal die Finsternis. Es war unheimlich. Durch die Blitze erwachten die schwarzen Schatten an den Felswänden zum Leben und tauchten dieses unterirdische Verlies in eine Atmosphäre, die der Hölle glich.
Ein paar Mal war sich Anna sicher, den großen, schwarzen Schatten erneut zu sehen. Schon spürte sie förmlich, wie der Schatten eine scharfe Klinge an ihre Kehle hielt und diese mit einem kräftigen Ruck durchtrennte. Doch es blieb ruhig.
Emily hatte genug Fotos von dem unheimlichen Folterstuhl. Mit dem Ende der Blitzlichtserie verwandelte sich dieser Vorhof der Hölle wieder in einen schmalen in den Fels gehauenen Gang, der bloß nach abgestandener, muffiger Luft roch. Emily schlug die Karte auf und richtete den hellen Strahl ihrer Taschenlampe darauf. Mit dem Finger fuhr sie über die verschiedenen Straßen und versuchte, sich zu orientieren.
»Der Schatz vom Erzbischof von Saarwerden war in der Nähe des Juddeturms versteckt. Wenn wir uns in nördlicher Richtung orientieren, müssten wir eigentlich direkt darauf zulaufen.« Mit diesen Worten packte Emily den Stadtplan wieder ein und marschierte in nördlicher Richtung durch die finstereren Gänge, dicht gefolgt von Anna, der vor Angst Schweißperlen auf der Stirn standen.
Nach ungefähr fünfzig Metern stürzte sie über einen spitzen Stein und schlug sich das Knie blutig. Vor Schmerzen stöhnte Anna einmal laut auf. Emily holte ein Spray mit flüssigem Pflaster aus der Tasche und versorgte Annas Wunde. Sie war so konzentriert, dass sie vergaß, die Taschenlampe gut festzuhalten. Laut scheppernd fiel diese zu Boden und erlosch im selben Augenblick.
»Verdammt!« Emily tastete im Dunkeln. »Anna, leuchte mit deinem Licht hierher. Ich glaube, sie muss hier irgendwo liegen.« Anna leuchtete in diese Richtung, doch im ersten Moment konnte Emily nichts entdecken. Stattdessen fiel ihr eine besondere Formation von Feldsteinen auf. Lose Steine lagen ordentlich nebeneinander geschichtet. Es sah aus, als wären die Feldsteine sortiert und hier abgelegt worden. Anna humpelte näher heran und entdeckte Emilys Taschenlampe, die am unteren Rand des Steinhaufens lag. Emily sprang einen Schritt vor, ging in die Hocke und griff nach ihrer Lampe. Sie klemmte ein wenig, doch mit einem kräftigen Ruck zog Emily sie zwischen den Steinen hervor.
Für einen Moment herrschte Stille, doch dann rutschten ein paar Steine in den entstandenen Spalt. Ein leises Grollen erfüllte den Gang mit einem summenden Widerhall. Es war kein lautes Geräusch und trotzdem erregte es Emilys Aufmerksamkeit. Sie runzelte die Stirn. Klang das nicht eigenartig? Ihr Blick heftete sich auf die Feldsteine.
»Es sieht so aus, als wäre unter diesen Steinen etwas versteckt«, sie hielt inne und holte tief Luft. »Irgendwie erinnert es mich an ein Steingrab.« Mit beiden Händen begann sie, die Steine beiseite zu wuchten.
»Meinst du, hier war der Schatz des Erzbischofs versteckt?«, fragte Anna aufgeregt.
»Nein, diese Stelle hier ist in Bastian Mühlenbergs Notizen überhaupt nicht beschrieben. Der Schatz lag viel weiter nördlich. Wir sind ja höchstens fünfzig Meter weit gelaufen.«
Emily wühlte weiter und spürte plötzlich einen Gegenstand unter der Steinschicht. »Anna leuchte hierher. Ich habe etwas gefunden!«
Der Schein der Taschenlampe richtete sich auf Emilys Fundstück. Emilys Gehirn erkannte das Objekt im Bruchteil einer Sekunde und mit einem Schrei ließen ihre Hände es augenblicklich wieder fallen.
Es war eine Hand! Oder vielmehr das, was davon übrig war. Ein bräunliches Handskelett lag stumm vor ihnen auf dem Boden.