VIII.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Noch am selben Abend hatten sie Elisabeth Kreuzers Leiche zum einzigen in Zons ansässigen Arzt gebracht. Damals war es nicht üblich, einen Arzt zur Leichenbeschau hinzuzuziehen, doch Bastian hatte so ein unbeschreibliches Bauchgefühl und er glaubte, dass er vielleicht noch hilfreiche Hinweise bekommen könnte. Am gestrigen Tag ging aber auch wirklich alles schief. Nicht nur, dass dieser Kölner Mörder Dietrich Hellenbroich am frühen Morgen aus dem Juddeturm entkommen war, sie hatten ihn auch nicht wieder einfangen können. Dabei war Zons ein so kleines Städtchen, in welchem jeder jeden kannte. Im Grunde konnte man sich hier unmöglich für längere Zeit verstecken. Tatsächlich war sich Bastian sicher, dass sie ihn bald wieder fangen würden. Doch zu allem Unglück muss dem Mörder kurz nach seiner Flucht die junge Elisabeth in die Hände gefallen sein. Eigentlich sollte das Mädchen den ganzen Tag zu Hause bleiben, da die Mutter von einer Lungenentzündung geplagt und Elisabeth gebeten wurde, auf die drei kleinen Geschwister aufzupassen. Aber sie musste das Haus wohl aus irgendeinem Grund verlassen haben. Es war völlig undenkbar, wie sie sonst in die Hände von Dietrich Hellenbroich hätte fallen können. Jedenfalls war es trotz des Vollmondes in der letzten Nacht zu dunkel, um genauere Details an Elisabeths Leiche erkennen zu können. So hatte Bastian sich bei Tagesanbruch erneut mit dem Arzt verabredet und wollte dann gemeinsam mit ihm nach möglichen Hinweisen suchen. Irgendwo musste dieser Mistkerl sich ja schließlich versteckt halten. Den Rest der Nacht konnte Bastian kaum noch schlafen und so war er fast schon froh, als die ersten Sonnenstrahlen durch sein Fenster fielen und er aufstehen konnte. Schnell aß er seinen Haferbrei und machte sich dann direkt auf den Weg zu Josef Hesemann, dem Zonser Arzt. Dieser wohnte in der Grünwaldstraße und Bastian brauchte keine fünf Minuten, um dort hinzugelangen. Josef sah müde aus. Auch er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Einen solchen Anblick hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht ertragen müssen. Er kannte die lebendige und liebenswerte kleine Elisabeth seit vielen Jahren, doch so, wie sie jetzt vor ihm lag, konnte er sie kaum wiedererkennen. Er hatte ihre Leiche in dem kleinen geschlossen Innenhof aufgebahrt. So brauchten sie keine Kerzen oder Fackeln, sondern konnten die Leiche bei hellem Tageslicht untersuchen. Vorsichtig entkleidete Josef die Leiche. Bastian sah erst betreten weg, aber Josef sagte zu ihm: »Wenn Ihr Spuren vom Mörder an ihr finden wollt, dann müsst Ihr schon herschauen. Ich glaube kaum, dass Elisabeth unter diesen Umständen etwas dagegen hätte.« Bastian nahm sich zusammen und sah zu ihr hinab. Ihre Haut war ganz weiß. Sie sah aus, als wenn ein Dämon alles Blut aus ihr herausgesaugt hätte. Ihre Fuß- und Handgelenke waren geschunden. »Sie muss noch gelebt haben, als er sie fesselte. Doch ich glaube, dass sie bereits tot war, als er sie an der Kette aufgehängt hat. Sonst wäre das Gelenk an ihrer rechten Hand viel stärker geschwollen. Zu diesem Zeitpunkt ist sicher kein Blut mehr durch ihre Adern geflossen. Er muss sie vorher erdrosselt haben.« Die Haut zwischen ihren Schenkeln war blau. Josef öffnete ihren Mund und steckte seine Nase tief hinein. Es roch stark nach gegorenem Wein. »Ich weiß zwar nicht, wieso, aber sie muss, kurz vor ihrem Tod Wein getrunken haben. Ich hoffe, dass sie so betrunken war, dass sie ihre Schändung nicht miterlebt hat«, sagte Josef mit einem Blick zwischen ihre Schenkel. Es waren deutliche Spuren einer Schändung zu sehen. Sie wuschen die Leiche mit einem feuchten Lappen ab und konnten so die vielen Kratzspuren auf ihrer Haut sehen. Ihr Kopf war kahl geschoren und voller geronnenem und verkrustetem Blut. Bastian hatte einige Mühe, das Blut abzubekommen. »Komisch, es sieht wirklich so aus, als hätte er mit einem Messer etwas in ihre Kopfhaut geritzt. Es wirkt fast so, als wären es Zeichen. Josef schaut doch mal!«, flüsterte Bastian ganz heiser vor Aufregung. Er konnte es nicht fassen. Tatsächlich war er sich sicher eine »1« und eine »6« sowie ein »K« erkennen zu können. Was sollte das zu bedeuten haben? »Könnten es die Initialen des Mörders sein?«, fragte Josef. »Nein, der Mistkerl heißt Dietrich Hellenbroich. Der Buchstabe ‚K‘ kommt in seinem Namen nicht vor!«, murmelte Bastian. Er zückte sein Notizbuch und schrieb die Zeichen hinein. Merkwürdig. Könnte »K« für Köln stehen? Und was hatten die Ziffern zu bedeuten? Solange die beiden auch hin und her überlegten, sie konnten sich keinen Reim darauf machen.

Josef zog die Leiche wieder an. Dabei fielen polternd Kieselsteine auf den Boden. »Schaut mal hier Bastian, die sind mir vorhin gar nicht aufgefallen. Die müssen sich im Innensaum ihrer Kleider versteckt haben!«, sagte Josef und sah dabei stirnrunzelnd zu Bastian hinüber. Bastian sammelte die Kieselsteine vom Boden auf und Josef untersuchte währenddessen die Kleidung weiter. »Ihre Sachen fühlen sich immer noch klamm an. Das kann nicht alleine vom Blut kommen. Könnt Ihr Euch daran erinnern, ob ihre Kleidung gestern Abend, als ihr sie gefunden habt, nass war?«, fragte Josef. Bastian versuchte, sich an die letzte Nacht zu erinnern. Er war von Elisabeths Anblick ziemlich geschockt. In Gedanken ging er noch einmal jedes Detail durch. Er erinnerte sich, dass er versucht hatte, die Leiche mit Hilfe einer Fackel zu untersuchen. Selbst bei dem hellen Vollmond, der letzte Nacht geschienen hatte, war es zu dunkel gewesen, um wirklich etwas erkennen zu können. Er sah im Geiste ihre schmutzigen Finger vor sich. »Ich glaube, zumindest ein Teil ihres Umhanges war nass«, sagte Bastian schließlich. Er war sich ziemlich sicher, dass er sich richtig erinnerte. Josef nickte langsam und nachdenklich. »Ich glaube, sie hat im Rheinwasser gelegen. Diese Kieselsteine hier stammen mit Sicherheit aus dem Rhein. Meine kleine Agnes hat erst letzte Woche wieder Steine am Rheinufer gesammelt und diese hier sehen genau so aus. Sowohl Farbe als auch Größe stimmen überein«, mit diesen Worten ging er zurück ins Haus und kam anschließend mit einem kleinen Körbchen wieder zurück. »Vater, was wollt Ihr mit meinen Steinchen?«, rief ein kleines Mädchen aufgeregt und sprang ungestüm in den kleinen Innenhof hinein. »Nicht doch Agnes! Geh sofort zurück in Haus! Ich habe dir doch verboten, mir in den Hof zu folgen!« Mit hochrotem Kopf stapfte die Kleine auf, machte kehrt und rannte beleidigt zurück ins Haus. Bastian hatte im letzten Augenblick geistesgegenwärtig ein großes Leinentuch über die Tote geworfen, so dass der kleinen Agnes ihr Anblick erspart blieb. »Schaut selbst Bastian, die Steine sind identisch!«, sagte Josef noch einmal und hielt dabei ein paar Kiesel aus dem Körbchen in der rechten und die Steine von der Leiche in der linken Hand. Auch Bastian war oft stundenlang am Rhein unterwegs und er wusste sofort, was Josef meinte. Kieselstein war nicht gleich Kieselstein. Während Kieselsteine normalerweise nur der Abnutzung durch das Rheinwasser unterlagen, wiesen diese hier Spuren von Holz auf. Sie konnten nur von der Anlegestelle in Zons stammen. »Ich glaube, wir sollten uns diese Stelle dringend einmal anschauen. Vielleicht hält er sich dort in der Nähe versteckt!«, mit diesen Worten sprang Bastian auf. »Ich hole gleich noch Wernhart hinzu. Er kann uns bei der Suche behilflich sein. Sechs Augen sehen mehr als vier und außerdem ist Wernhart ein kräftiger Kerl. Nur falls der Mistkerl sich tatsächlich dort aufhalten sollte!«

 

 

...

 

 

Sie hatten den halben Tag lang das Rheinufer und die umliegenden Rheinauen abgesucht. Es war eiskalt gewesen. Der Wind blies die ganze Zeit unbarmherzig und sie waren bis auf die Knochen durchgefroren. Von der Stelle am Rhein, von der die Kieselsteine stammten, waren sie flussabwärts und dann flussaufwärts insgesamt fast fünf Kilometer marschiert. Jeden möglichen Unterschlupf hatten sie gründlich durchsucht, doch am Ende keine einzige Spur des Mörders gefunden. Wernhart glaubte zwar, ein paar Fußspuren entdeckt zu haben, doch die hätten von jedem stammen können. Ein paar Schleifspuren dazu wären vielleicht ein Anhaltspunkt gewesen, aber so konnten die Spuren keinesfalls als echter Hinweis gewertet werden. Völlig erschöpft saßen sie jetzt in einem der Zonser Wirtshäuser und blickten alle ziemlich finster und enttäuscht drein. Weder hatten sie eine Spur von Dietrich Hellenbroich gefunden, noch konnten sie sich einen Reim darauf machen, warum ihm ausgerechnet die junge Elisabeth in die Hände gefallen war. Genauso unklar war, aus welchem Grund er ihr diese Zeichen in die Kopfhaut geritzt hatte. Bastian wusste nur, dass der Mörder die Haare seines Kölner Opfers unversehrt gelassen hatte. Auch waren auf dem Körper dieses Opfers keine eingeritzten Zeichen gefunden worden. Er hatte die Kölner Stadtwache genauestens befragt. An solche Auffälligkeiten hätten die Wachsoldaten sich sicher erinnern können. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was er übersehen haben könnte. Seine Gefährten wollten schon die nächste Runde Met bestellen, doch Bastian winkte ab. »Lasst gut sein. Ich laufe jetzt rüber zum Juddeturm und schaue mir die Gefängniskammer noch einmal an.«

Mit diesen Worten griff er nach seinem Umhang und verließ die Schenke. Im Juddeturm angekommen, stieg er die Treppe zum Obergeschoss hinauf und öffnete die schwere Holztür. Er sah sich im Raum um. In der Kammer roch es stark nach Urin und Schweiß, aber zu sehen gab es nicht viel. In der einen Ecke lag eine dünne Strohschicht auf dem Boden und in der anderen Ecke lag ein Stück verschimmeltes Brot neben einem Wasserkrug. Ansonsten war die Kammer vollkommen leer. Am gestrigen Tag hatten sie auf der Türschwelle die abgebrochene Messerklinge gefunden, aber sonst gab es keinerlei Spuren. Mit einem langen Seufzer drehte Bastian sich um und wollte schon zur Tür hinausgehen, als er im Augenwinkel Unebenheiten auf der Innenseite der Holztür wahrnahm. »Sieh einmal an!«, murmelte er in sich hinein. Endlich war er fündig geworden. In die Holztür waren Zeichen eingeritzt. Die ersten zwei Ziffern und den einen Buchstaben erkannte er wieder. Diese Zeichen befanden sich auch auf Elisabeths Kopf. War es nun ein Zufall oder waren die Zeichen auf Elisabeths Kopfhaut nur der erste Teil eines Puzzles? Langsam fuhr er mit seinen Fingern über die Symbole und brummte leise vor sich hin: »Was hast du kranker Bastard dir nur dabei gedacht, als du die Zeichen in Elisabeths Kopfhaut geritzt hast?«

 

 

...

 

 

Vor einer Woche hatten sie nach ihm gesucht. Er beobachtete, wie sie stundenlang am Rheinufer hin- und herliefen. Doch sie kamen nicht auf die Idee, in die Hütte des kleinen Bauern einzutreten. Zwar hatten sie draußen gestanden, geklopft und den Bauern befragt, doch bemerkten sie nicht, dass er dem Bauern von hinten ein Messer in den Rücken hielt. Brav antwortete dieser auf alle ihre Fragen und ließ sich dabei nicht das Geringste anmerken. Er war schon erstaunt darüber, dass sie offensichtlich genau die Stelle am Rheinufer gefunden hatten, an der er über sein erstes Zonser Mädchen hergefallen war. Süß war sie und so herrlich trunken von dem vielen Rotwein, den er ihr einflößte, nachdem er sie mit einem Stein auf den Kopf bewusstlos geschlagen hatte. Normalerweise liebte er es, wenn sie sich wehrten, aber dieses Mal war es etwas ganz besonderes. Sie war der erste Teil seines Kunstwerkes, welches er Gott opfern wollte. Der erste Teil eines Puzzles, für welches nur er die übrigen Teile in der Hand hielt. Bald schon würde er sein nächstes Puzzleteilchen holen. Er humpelte zum Fenster des kleinen Bauernhäuschens hinüber und blickte lange in Richtung Zons hinaus. Ein Windhauch wehte durch das zugige Fenster. Fast glaubte er, ihren Duft bereits in seiner Nase zu spüren. Die Härchen an seinen Armen richteten sich auf. Er konnte es kaum erwarten.

 

 

...

 

 

Seit fast drei Wochen ging Bastian jeden Abend seine Aufzeichnungen wieder und wieder durch. Seite für Seite blätterte er in seinem kleinen Notizbüchlein um und ließ jede einzelne Begebenheit noch einmal in seinem Geiste Revue passieren. Er konnte fast körperlich spüren, dass Dietrich Hellenbroich noch in der Stadt war. Der Mord an Elisabeth war nicht aus einem Affekt heraus geschehen, sondern wohl geplant gewesen und eiskalt ausgeführt worden. Der Mörder wusste genau, was er wollte und Bastian ahnte, dass die Zeichen auf der Kopfhaut des Mädchens mit denen im Juddeturm zusammenhingen. Der Mörder wollte ihn auf seine Fährte locken. Es machte ihm Spaß, gejagt zu werden und dabei immer einen Schritt voraus zu sein. Bastian ahnte, dass Elisabeth nicht sein letztes Opfer sein würde. Er war sich sicher, dass Dietrich Hellenbroich wieder zuschlagen wird. Er musste herausfinden, was die Zeichen bedeuteten.

Zwar hatten sie die Stadtwache mittlerweile verstärkt und kontrollierten an den Haupttoren jeden, der nach Zons ein- und ausging, doch war der Mord an Elisabeth jetzt fast schon vier Wochen her. Alle gingen davon aus, dass Dietrich Hellenbroich längst über alle Berge und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, doch Bastian hatte ein merkwürdiges Gefühl und die ganze Sache ließ ihm einfach keine Ruhe. Auch die Wachen, die er nach Köln geschickt hatte, um dort mehr über den Mörder und seinen Bauernhof zu erfahren, kamen unverrichteter Dinge zurück. Dietrich war jedenfalls auf seinem Bauernhof nicht wieder aufgetaucht und Bastian spürte, dass er mit seiner schlechten Vorahnung mittlerweile ganz alleine da stand. Selbst der Arzt Josef Hesemann wollte ihm nicht mehr zuhören und gestern riet er ihm sogar, abends vor dem Schlafengehen noch einen Becher Wein zu trinken. Das würde seine Nerven beruhigen! Verdammt, er wusste, dass der Mörder noch in der Nähe war! Morgen früh würde er nach Köln aufbrechen und den Bauernhof des Mörders durchsuchen. Vielleicht konnte er so herausfinden, was Dietrich vorhatte und mit etwas Glück könnte er ihn aufhalten, bevor ein weiteres Mädchen mit dem Leben bezahlen musste.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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