XIII.
Gegenwart
Emily lief die Zeit davon. Genauer genommen war die Zeit abgelaufen. Sie musste ihre Reportage in einer Stunde abgeben. »Verdammt«, dachte sie verzweifelt. Eigentlich wollte sie ihren Artikel mit der Lösung des Puzzles beginnen, aber es war ihr immer noch nicht geglückt, das Rätsel anhand der Unterlagen aus dem Kreisarchiv zu entschlüsseln. Mit dicken, schwarzen Buchstaben wollte Emily den ersten Teil ihrer Reportage überschreiben und erklären, wie das Sternbild Corvus mit den Stadtmauern von Zons zusammenhing und nach welchem Muster der Mörder damals seine Opfer ausgesucht hatte. Emily beabsichtigte, ihre Reportage anders aufzuziehen als üblich und einfach das Ende zum Anfang machen. Aber bisher war es ihr nicht gelungen. Sie würde die Lösung für das Puzzle, welches dem Mörder vor über fünfhundert Jahren seinen Namen gab, wohl doch ans Ende ihrer Geschichte stellen müssen. Immerhin waren bereits die ersten zwei Teile ihrer Reportage fertig. Jeder Teil beschrieb den Mord an einer Frau. Der erste Teil, der in den nächsten Tagen veröffentlicht werden würde, stellte den Mord an Elisabeth Kreuzer dar. Diesen Teil musste sie in einer Stunde dem Lektorat der Rheinischen Post zur Verfügung stellen. Sie ließ ihre Gedanken an die Auflösung des Puzzles fallen und konzentrierte sich noch einmal auf den Ausdruck und auf die Rechtschreibung ihres Artikels. Sie war sehr zufrieden mit sich und hoffte, dass dieser Artikel einschlagen würde, wie eine Bombe. Ihr Redakteur hatte die Rohfassung bereits gelesen und sich ebenfalls sehr positiv über ihren Schreibstil geäußert. Er hatte ihr sogar zugesichert, ihren Artikel an prominenter Stelle zu veröffentlichen und ihr eine ganze Seite zur Verfügung zu stellen.
Schon jetzt stellte sich Emily vor, wie stolz sie sein würde, wenn sämtliche Kommilitonen ihren Artikel lesen würden. Es war schließlich keine so einfache Sache, mit dem ersten Artikel direkt auf einer der Hauptseiten zu erscheinen. Die meisten fingen klein an. Schlimmstenfalls starteten sie mit lokalen Sportergebnissen, doch dieses Schicksal teilte sie glücklicherweise nicht.
Eine Stunde später drückte sie in ihrem E-Mail-Account auf »Senden« und stieß dabei einen zufriedenen Seufzer aus. Sie holte sich ein Glas Rotwein aus der Küche und nahm glücklich einen kräftigen Schluck. Den Rest des Abends würde sie damit verbringen, endlich dieses Puzzle zusammenzubekommen.
...
Nach einer ganzen Flasche Rotwein war Emily zu ihrem großen Bedauern immer noch auf der Suche nach der Lösung für das Rätsel. Das entscheidende Puzzleteilchen hatte sie immer noch nicht gefunden. Der Stadtplan von Zons lag ausgebreitet vor ihr. Ordentlich, wie sie war, hatte sie alle Fundstellen der Leichen eingezeichnet. Ebenso wie den ersten Buchstaben vom Nachnamen der zwei Opfer. Doch sie wusste immer noch nicht genau, warum es ausgerechnet diese beiden Frauen zuerst getroffen hatte. Die gekritzelten Notizen von Bastian Mühlenberg waren ziemlich schwer zu lesen. In Teilen konnte sie nur raten, was er da aufgeschrieben hatte. Zwar konnte sie altdeutsche Schrift ganz gut lesen, aber Bastian Mühlenberg hatte zu seiner Zeit sicher keinen Preis in Schönschrift gewonnen. Genervt schob sie die Karte beiseite und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte durch die einzelnen Programme und blieb bei N24 hängen, die gerade einen Dokumentationsfilm über die 48 Sternbilder der antiken Astronomie sendete, die bereits von Ptolemäus beschrieben wurden. Mit einem Mal fiel ihr die Lösung ein. Wahnsinn, da hätte sie viel eher drauf kommen können. Sie wühlte noch einmal in den Aufzeichnungen von Bastian Mühlenberg und mit einem Mal konnte sie auch seine krakelige Handschrift entziffern. Sie schaltete ihren Computer an und lud sich eine Karte der Sternbilder herunter. Anschließend druckte sie das Sternbild des Raben und der Jungfrau aus. Sie legte die Sternenkarte auf den Stadtplan und drehte diese im Uhrzeigersinn. Aber sie konnte nichts erkennen. Ihr kam eine neue Idee. Sie stand auf und ging in die Küche um Backpapier zu holen. Sie hielt es an den hellen Fernseher und pauste die Karte der Sternzeichen ab. Jetzt legte sie die transparente Sternenkarte auf dem Backpapier erneut auf den Stadtplan und drehte diese noch einmal im Uhrzeigersinn. Und da sah sie es. Die Ziffern »6-7-8« standen für die Reihenfolge der Opfer. Die Buchstaben passten jedoch immer noch nicht in das Puzzle. Sie musste sich wohl doch noch durch die letzten Seiten von Bastians Notizen quälen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass dies nicht nötig sein würde, aber etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Immerhin kannte sie jetzt den Grund für die Reihenfolge der Morde. Einem Teil des Puzzles war sie auf die Spur gekommen.
Nachdenklich schaute sie auf den Stadtplan von Zons und betrachtete den Punkt auf der Karte, der den Wohnort des dritten Opfers markierte. Irgendetwas kam ihr daran bekannt vor. Doch nach einer Flasche Rotwein, dem ganzen Frust und zu dieser späten Stunde wollte der Gedanke, der sich ganz tief im hinteren Teil ihres Gehirns regte, einfach nicht an die Oberfläche kommen. Erst als Emily kurze Zeit später im Bett lag und friedlich träumte, kam dieser Gedanke wie ein Blitz in ihr Bewusstsein. Sie öffnete schlagartig die Augen:
»Es ist Annas Haus!«
...
Lautes Klingeln riss Oliver Bergmann aus dem Schlaf. Blinzelnd blickte er auf seinen Wecker und versuchte die Uhrzeit abzulesen. Verdammt, es war erst halb sieben. Wer musste ihn um diese Uhrzeit aus dem Bett reißen? Er hätte noch gut eine halbe Stunde schlafen können! Es war bestimmt seine Mutter, die ihre Aufregung zum bevorstehenden Wochenende kaum noch verbergen konnte. Was wollte sie bloß jetzt schon wieder vom ihm. Seufzend stand er auf und ging zu seinem Telefon. Doch erstaunlicherweise war es nicht seine Mutter. Es war sein Partner Klaus.
»Hallo Oliver, du musst dringend ins Revier kommen. Der Chef hat mich gerade angerufen und mich gebeten, dich aufzugabeln und sofort mit ins Revier zu bringen. In Zons wurde eine Frauenleiche gefunden und wir müssen direkt eine Sonderkommission einberufen.«
Eine Viertelstunde später saßen die beiden im Büro vom Chef und blickten einem besorgten Hans Steuermark ins Gesicht.
»Soweit mir die Polizei vor Ort mitgeteilt hat, wurde die Leiche wohl übel zugerichtet!«, erklärte er den beiden.
»Sieht auf den ersten Blick nach Folter und wahrscheinlich auch Vergewaltigung aus. Die Leiche konnte noch nicht identifiziert werden. Sie wurde heute, am frühen Morgen von einem Jogger entdeckt. Der oder die Täter haben die Leiche an einem der Wehrtürme hinter dem Schlossplatz von Zons an einer Kette aufgehängt. Die Spurensicherung ist bereits unterwegs. Ich möchte, dass Sie beide den Fall übernehmen und sich sofort auf den Weg machen!«
Mit diesen Worten schickte er die beiden hinaus.
Von Neuss bis nach Zons brauchte man ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten. Je nachdem, ob man über die Autobahn oder über die Landstraße fuhr. Klaus, der am Steuer saß, entschied sich für den schnelleren Weg und bog auf die Autobahn A57 ab.
»Hoffentlich haben wir mit dieser Leiche etwas mehr Glück als mit der Waldleiche«, sagte Klaus und drückte dabei mächtig aufs Gas.
»Ja, ein kleines bisschen Erfolg würde uns ganz gut stehen!«, meinte Oliver und blickte aus dem Fenster. Sein Adrenalinspiegel war seit dem Anruf von Klaus in die Höhe geschnellt und er konnte es kaum erwarten, endlich am Tatort anzukommen. Die A57 war, wie immer, voller Baustellen und so kamen sie nur langsam vorwärts. Sie benötigten fast zwanzig Minuten, bis sie endlich am Ziel angekommen waren.
»Diese verdammten Baustellen. Warum dauert es eigentlich immer Jahre um ein paar hundert Meter zu sanieren?«, brummte Oliver ärgerlich in sich hinein. Er hatte nicht einen einzigen Bauarbeiter gesehen, aber die zukünftige Baustelle war bereits mehrere Kilometer lang abgesperrt worden. Wahrscheinlich wollten sie den Mittelstreifen austauschen. Überall in Deutschland wurden derzeit die alten Metallleitplanken durch Betonmittelstreifen ersetzt. Den Sinn dieser Aktion konnte niemand so wirklich nachvollziehen. Aber das Schlimmste an diesem Austausch waren die permanenten Baustellen, die hierdurch auf den Autobahnen errichtet wurden. Das konnte ja heiter werden, wenn sie die Strecke von Neuss nach Zons jetzt öfter fahren mussten.
Sie parkten direkt auf dem Schlossplatz vor der gut erhaltenen Stadtmauer von Zons und stiegen schnell aus dem Auto aus. »Ich war hier nicht mehr, seit ich ein kleiner Junge war!«, bemerkte Klaus und blickte nach oben, an den Rand der Stadtmauer.
»Bei mir muss es auch etliche Jahre her sein. Aber mir hat dieses mittelalterliche Flair immer sehr gut gefallen«, erwiderte Oliver.
»Über diese Mauer kommt man jedenfalls nicht so einfach drüber. Da braucht man schon mindestens eine Leiter oder wenigstens ein Seil mit Enterhaken.«
Sie gingen durch einen kleinen Durchgang auf die andere Seite der Stadtmauer und blickten direkt in die grünen Rheinauen. Mehrere riesige, wohl hunderte von Jahren alte Weiden säumten den Wegesrand. Der Anblick war trotz des kalten Dezembertages eine Wohltat für das Auge. So viel Natur auf einmal hatte Neuss nicht zu bieten.
In ungefähr 80 Meter Entfernung von Klaus und Oliver hatte sich in einer riesigen Mulde vom letzten Hochwasser ein Eisspiegel gebildet und inmitten dieser prächtigen Landschaft liefen ungefähr ein Dutzend kleiner Kinder staksend auf ihren Schlittschuhen herum. Ein kleiner Junge verlor das Gleichgewicht und fiel krachend zu Boden. Mit hochrotem Gesicht blickte er auf und fing herzzerreißend an zu weinen und nach seiner Mutter zu rufen. Diese war nicht weit entfernt und nahm ihren kleinen Schreihals sofort beruhigend in die Arme. Oliver musste bei diesem Anblick schmunzeln. Er war gerne Schlittschuh gelaufen, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Mutter war ihm ebenfalls auf Schritt und Tritt gefolgt, aus lauter Sorge, dass dem Jungen ja nichts passieren würde. Klaus klopfte ihm auf die Schultern und riss ihn so aus seinen Gedanken. Oliver drehte sich um und erblickte die hängende Leiche am Wehrturm. Er schaute noch einmal zurück in Richtung der spielenden Kinder.
»Klaus, wir sollten den Bereich hier großräumig abriegeln. Die Kinder dort drüben sind bisher noch nicht auf uns aufmerksam geworden. Aber gleich wird es hier von Polizisten und Blaulicht nur so wimmeln und ich möchte vermeiden, dass eines der Kinder die Leiche hier hängen sieht!«
»Du hast Recht, Oliver. Ich gebe das gleich mal durch. Am besten sperren wir das ganze Gebiet rund um diese Stadtmauer ab. Dies ist einer der Hauptwege für Spaziergänger in Zons. Sonst stehen hier bald hunderte von Schaulustigen herum!«, mit diesen Worten drehte sich Klaus um und gab Anweisungen in sein Funkgerät. Oliver trat näher an die Leiche heran und erstarrte für einen Augenblick. Der Körper wog sich leicht im Wind hin und her. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man fast glauben, dass hier nur ein überdimensionierter Mehlsack aufgehängt worden war. Denn die Leiche war vollkommen in ein grobes und helles Leinentuch eingewickelt. Er konnte kein Gesicht erkennen, da die Leiche ihm den Rücken zudrehte. Schon fragte Oliver sich, wie eigentlich der Jogger sehen konnte, dass es sich hierbei um eine Frau handelte, als sich mit einem größeren Windstoß die Kette quietschend zu drehen begann. Langsam taumelte der Leichnam hin und her und drehte sich bei jedem Schwung ein kleines bisschen um die eigene Achse. Nach ein paar Pendelbewegungen hatte sich die Leiche um 180 Grad gedreht und starrte Oliver aus blutunterlaufenen, leeren Augen an. Verdammt, Oliver konnte seinen Blick kaum abwenden, so grauenvoll war dieser Anblick. Ihr Unterkiefer hing schief herab. Sah aus, als wäre er gebrochen. Ihre Zunge hing halb aus dem schiefen Mund heraus und war bläulich schwarz verfärbt. Soweit Oliver es zwischen dem ganzen Blut erkennen konnte, fehlten ihr ein paar Zähne. Über ihr ramponiertes Gesicht liefen etliche Blutspuren. Es sah so aus, als hätte jemand rote Farbe in feinen Linien von oben über ihr Gesicht laufen lassen.
»Welch ein entsetzlicher Anblick!«, raunte ihm Klaus von hinten ins Ohr.
»Ja, dagegen hätte die Waldleiche fast ein Herzinfarkt sein können!«, erwiderte Oliver. Zumindest hatte man bei der Waldleiche keinerlei Folterspuren entdecken können. Das Opfer war innerhalb von ein paar Sekunden getötet worden und hatte keinerlei Schmerz erleiden müssen. Bei dieser armen Frau jedoch sah es so aus, als hätte sie vor ihrem Tod massive Qualen erlitten.
Die Leute von der Spurensuche waren ganz in ihrem Element. Im Sekundentakt prallten Blitzlichter auf das Opfer nieder, fast so als wäre sie Model einer internationalen Modeschau. Der Boden unter ihr wurde von zahlreichen - vollkommen in weiß gekleideten - Helfern der Forensik mit Pinzetten in den behandschuhten Fingern abgesucht. Die Fundstücke wurden in kleine Tütchen fürs Labor gesteckt und ordentlich beschriftet in einer großen Box abgelegt. Es dauerte fast 30 Minuten, bis sie endlich fertig waren und die Leiche von der Kette genommen werden konnte. Gespannt warteten Oliver und Klaus ab, bis die Tote auf einer Liege abgelegt wurde. Dann traten sie näher heran. Unter dem Leinentuch trug sie ihre vollständige Kleidung. Auch ihre Jeans hatte sie noch an. »Vielleicht doch keine Vergewaltigung«, dachte Oliver.
Ihre Fingernägel waren abgebrochen und unter ihren Nägeln befand sich eine dicke Schmutzschicht. Doch am schlimmsten war die Tote am Kopf zugerichtet. Ihr Haar war komplett abrasiert worden. Nur an den Augenbrauen konnte man erkennen, dass es sich wahrscheinlich um eine brünette Frau gehandelt haben musste. Ihr Schädel war blutverschmiert und an einigen Stellen klafften schwarze Wundränder auf. Es sah so aus, als hätte der Täter ihr an mehreren Stellen die Kopfhaut tief aufgeritzt. »Was für eine schlimme Foltermethode!«, ging es Oliver durch den Kopf. »Wie schlimm es sich wohl anfühlen muss, wenn man wehrlos gefesselt dasitzt, während ein Wahnsinniger einem die Kopfhaut aufritzt und einem das eigene Blut dann in Strömen übers Gesicht läuft.« Oliver wendete sich entsetzt ab und konnte seine Gedanken nicht zu Ende führen. Die Vorstellung war einfach zu grauenvoll. »Wir bringen die Tote jetzt in die Rechtsmedizin und lassen die Leiche noch heute obduzieren«, sagte einer der Forensiker zu ihnen und zog mit einem kräftigen Ruck den Reißverschluss des Leichensacks, in dem die Tote mittlerweile lag, zu.
...
Eine Stunde später saßen Oliver und Klaus wieder im Büro und erstatteten ihrem Chef Hans Steuermark Bericht.
»Gab es irgendwelche Hinweise auf die Identität der Leiche?«, fragte Steuermark. Mit einem leichten Kopfschütteln verneinten die beiden seine Frage.
»Die Leiche wurde zwar voll bekleidet, jedoch ohne Ausweis oder Portemonnaie gefunden.«
»War sie wirklich vollständig bekleidet, sodass wir eine Vergewaltigung für die erste Analyse ausschließen können?«
»Ja, sie war vollständig bekleidet. Ihr fehlten lediglich die Schuhe. Aber die könnte sie beim Transport verloren haben. Vielleicht hat sie auch nie welche angehabt. Wir haben die Spurensuche jedenfalls gebeten, nach den Schuhen Ausschau zu halten. Wenn der Mörder sie unterwegs verloren hat, führt uns das vielleicht direkt zu dem Ort, an dem er sie gefoltert und ermordet hat.«
Oliver ergänzte die Ausführungen seines Partners:
»Den ersten Spuren zufolge ist sie erst nach ihrem Tod an dem Wehrturm aufgehängt worden. Zumindest konnte der Forensiker das aus dem Zustand der Haut um ihre Handgelenke schließen. Sie waren kaum geschwollen, so dass zu diesem Zeitpunkt ihr Herz bereits aufgehört hatte, zu schlagen.«
»Dann wollte der Täter wohl, dass wir die Leiche schnell finden! Wozu sonst hätte er sie gut sichtbar an einem so stark besuchten Ort aufhängen sollen!«, fügte Steuermark nachdenklich hinzu. Er erinnerte sich an einen Serientäter, dem er vor vielen Jahren einmal auf der Spur gewesen war. Dieser Kerl wollte auch, dass seine Opfer schnell gefunden wurden. Mit der Präsentation seiner Opfer schockte der Täter damals regelmäßig die Öffentlichkeit und lähmte fast die gesamte Bevölkerung des Rhein-Kreises mit Angst, die sich ob seiner Gräueltaten schnell verbreitete. Es war ein typisches Merkmal von Serientätern, die Opfer so exhibitionistisch wie möglich zu präsentieren. Meist standen sie sogar in der Menge der Schaulustigen am Tatort, um sich an ihrem »Kunstwerk« und ihrer Macht zu ergötzen. Steuermark hoffte, sich diesmal zu täuschen. Einen neuen Serienmörder konnte er im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen, zumal erst letzte Woche die neuen Kriminalitätsstatistiken veröffentlicht worden waren und er sich in einer in Windeseile anberaumten Pressekonferenz für den starken Anstieg an Gewaltverbrechen rechtfertigen musste. Dabei war es eigentlich kein Wunder, dass solche Verbrechen sich in den letzten zwei Jahren gehäuft hatten. Schließlich hatte das Land sie auf Sparflamme gesetzt. Sowohl Budget, als auch Mitarbeiter sind in den letzten Jahren massiv abgebaut worden. Dass Steuermark Oliver Bergmann als neuen Mann im Team der Kriminalkommission einstellen durfte, verdankte er schlicht seinen guten Beziehungen zum Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen.
...
Emily war enttäuscht. Sie blätterte in der neuesten Ausgabe der Rheinischen Post herum und hätte dabei am liebsten laut schreien können. Sie hatte fest damit gerechnet auf einer der Hauptseiten unter den Rubriken Panorama oder Kultur zu erscheinen, aber stattdessen hatte dieser Mistkerl von Redakteur ihren tollen Artikel einfach auf eine der hintersten Seiten dieser Ausgabe verbannt. Und das war noch nicht alles. Offensichtlich hatte man ihr in dieser Ausgabe so wenig Platz zugebilligt, dass lediglich die Headline ihres Artikels mit Verweis auf eine »in Kürze folgende Artikelserie« zu finden war. Wozu hatte sie eigentlich die Nächte durchgeschrieben? Hatte sie sich trotz ihrer Riesenerkältung aufgerafft, um den ersten Teil ihres Artikels noch rechtzeitig fertigzubekommen. Warum hatte ihr die Rheinische Post eigentlich einen solchen Druck gemacht, wenn sie am Ende doch nur diese paar lächerlichen Zeilen von ihr druckten! Das war wirklich nicht zu fassen! Und das alles nur wegen eines aktuellen Mordfalls in Zons. Irgendeine Frau ist tot aufgefunden worden. Bis heute konnte man die Tote noch nicht mal identifizieren. Emily warf die Zeitschrift in hohem Bogen enttäuscht in den Papierkorb. Jeden Tag wurden in den Nachrichten etliche Meldungen von ermordeten Personen gebracht. Von den meisten Morden wurde schon gar nicht mehr berichtet, weil die Nachrichten sonst gar keinen Platz mehr für andere Themen gehabt hätten. Und jetzt musste ausgerechnet ihr ein solcher Mordfall in einem so winzigen Städtchen wie Zons einen Strich durch die Rechnung machen!
...
Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren. Weit über 500 Zeugenaussagen waren seit Entdeckung der Frauenleiche vor einer Woche in Zons eingegangen. Oliver und sein Partner Klaus hatten in der letzten Woche richtig Stress bekommen. Ihr Chef Hans Steuermark musste fast täglich in diversen Pressekonferenzen über den Status der Ermittlungen berichten. Selbst der Bürgermeister von Dormagen saß ihnen mittlerweile im Nacken, weil er sich langfristig Sorgen um den Ruf des friedlichen Städtchens Zons machte und keinesfalls wollte, dass die Besucherströme für dieses idyllische, mittelalterliche Ausflugsziel plötzlich ausblieben. Wäre es nach ihm gegangen, hätte der Mord spätestens einen Tag nach dem Fund der Leiche aufgeklärt sein müssen. Er hatte nur geringes Verständnis für die wenigen Fortschritte, die sie bisher in diesem Fall gemacht hatten. Der Fall »Waldleiche« war weit in den Hintergrund gerückt und Oliver konnte nicht gerade von sich behaupten, besonders traurig über diese Tatsache zu sein. Allerdings war die Stimmung im Revier sehr gereizt. Fast konnte man sehen, wie die Mitarbeiter der Mordkommission die Köpfe einzogen, wenn Hans Steuermark in regelmäßigen Abständen durch das Büro tigerte, um den neuesten Stand der Ermittlungen zu erfahren. Hans Steuermark war zwar ein herzensguter Leiter der Mordkommission, der immer ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Mitarbeiter hatte, für seine Geduld war er jedoch nicht gerade bekannt. Man musste schon ein dickes Fell haben, wenn man in Zeiten wie diesen auf ihn traf und nicht die Ergebnisse vorweisen konnte, die er gerade brauchte. Olivers Partner Klaus hatte dies erst gestern zu spüren bekommen, als die Gebissanalyse endlich die Identifikation der Frauenleiche ermöglichte. Klaus verbrachte mit seiner Freundin die Mittagspause und erfuhr erst über eine Stunde später von der Identifikation der Leiche. Leider auch eine halbe Stunde später als Hans Steuermark und so war ihm die gute Laune, die er mitbrachte, als er gemütlich und gutgelaunt aus seiner Mittagspause zurückkehrte, schnell vergangen. Hans Steuermark hatte bereits auf seinem Bürostuhl Platz genommen und die Zeit gestoppt, die er für seine Mittagspause gebraucht hatte. Den anschließenden Paukenschlag bekamen alle Kollegen im Büro mit. Von diesem Moment an sah es wirklich so aus, als sei Klaus einen ganzen Kopf kürzer als vorher. Zumindest wirkte es so, da er seit diesem Vorfall seine sonst so kerzengerade Körperhaltung verloren hatte. Die Tote war eine 25-jährige ledige Frau mit dem Namen Michelle Peters. Sie war erst vor ungefähr einem Jahr nach Zons gezogen, nachdem sie dort das kleine Häuschen ihrer Großmutter geerbt hatte. Es war ein altes, aber sehr uriges, kleines Häuschen am Rande der Stadtmauer und befand sich in der Mauerstraße direkt am Krötschenturm. Offensichtlich hatte die Großmutter der Toten etliches an Barvermögen hinterlassen, denn das Häuschen war frisch renoviert. Da Michelle Peters noch nicht so lange hier wohnte und aus Süddeutschland zugezogen war, vermisste sie auch niemand so schnell. Die Mordkommission hatte Glück, dass sie Patientin bei einem Zonser Zahnarzt war und erst vor ein paar Monaten etliche neue Kronen bekommen hatte. Sonst hätten sie die Identität der Leiche sicherlich nicht so schnell herausfinden können. Mittlerweile stand auch die Todesursache fest. Tod durch Strangulieren. Der Mörder hatte sie mit bloßen Händen erwürgt. Sie hatten mittlerweile sogar die Marke der Gummihandschuhe, die er während der Tat trug, herausgefunden. Leider handelte es sich um eine Marke von Aldi Süd, die in halb Deutschland erhältlich war. Der Täter war mit äußerster Sorgfalt vorgegangen und so konnten sie bisher keinerlei DNA-Spuren zur Identifikation des Mörders sicherstellen. Noch war die forensische Untersuchung nicht komplett abgeschlossen. Auf dem Leinentuch, in das die Leiche eingehüllt war, wurden mehrere Faserspuren gefunden, deren Herkunft bisher jedoch unbekannt war. Oliver hoffte, dass sie über diese Faserspuren vielleicht das Transportmittel, mit dem die Leiche zum Wehrturm in Zons geschafft wurde, identifizieren konnten. Der Täter hatte die Leiche sicherlich nicht auf seinem Rücken bis zum Wehrturm transportiert. Dies wäre zu auffällig und auch viel zu kraftaufwendig gewesen. Jedenfalls, wenn es sich um einen einzelnen Täter handelte, wovon sie derzeit ausgingen. Ein weiterer wichtiger Punkt der Ermittlungen war, dass es sich bei dem Mord nicht um ein Sexualverbrechen handelte. Zwar war das Opfer kahl rasiert und geschlagen worden, aber eine Vergewaltigung hatte definitiv nicht stattgefunden. Bemerkenswert war weiterhin, dass der Täter dem Opfer nicht wahllos und mit dem Ziel Schmerzen zuzufügen die Kopfhaut zerschnitten hatte. Ganz bewusst hatte er ihr Buchstaben und Ziffern in die Kopfhaut geritzt. Genauer genommen handelte es sich um drei Zeichen »1-6-K«. Die Bedeutung dieser Zeichen lag bisher vollkommen im Dunkeln. Natürlich unterlag diese Information der absoluten Geheimhaltung. Der Presse hatte man bisher nur unbedeutende Details mitgeteilt.