IV.
Vor fünfhundert Jahren
»Warum bin ich zurückgekommen und weshalb seid Ihr noch am Leben?« Die Worte hallten in Bastians Kopf und blockierten sein Denkvermögen. Er starrte August an, der immer dichter an ihn heranrückte. Trotz der Dunkelheit in der Schlafkammer konnte Bastian sein Gesicht deutlich erkennen. August war der Zwillingsbruder von Christan, doch im Gegensatz zu ihm hatte er kein Herz. Seine Seele war durch und durch dunkel. Mehrere Morde gingen auf sein Konto, und wenn August nicht vor ein paar Monaten Bastians Leben gerettet hätte, wäre er mit Sicherheit auf Lebenszeit im Juddeturm geendet. Bastian kniff die Augen zusammen. Warum bin ich zurückgekommen? Er hatte keine Antwort auf diese Frage. August hatte sich aus dem Staub gemacht und Bastian war, genauso wie Pfarrer Johannes, davon ausgegangen, ihn nie wiederzusehen. Doch nun saß dieser Kerl vor ihm und presste ihm das eigene Kurzschwert an die Kehle. Die tödliche Stille wurde nur von den Atemzügen seiner Frau und seiner kleinen Tochter unterbrochen. Die schwachen Geräusche drangen wie ein Flüstern in regelmäßigen Abständen an Bastians Ohr. Er musste etwas tun, wenn das hier nicht sein Ende und das seiner Familie werden sollte.
»Lasst uns nach unten gehen.« Die Worte kamen rau und klebrig wie feuchte Mehlbrocken über Bastians Lippen.
August nickte und erhob sich von der Bettkante, ohne dabei das Kurzschwert aus den Händen zu legen. Geschmeidig wie eine Wildkatze schlich er vor Bastian die knorrige alte Holztreppe hinunter, ohne auch nur den kleinsten Laut zu machen. Bastians Gliedmaßen hingegen waren so steif und sein Geist immer noch so geschockt, dass er das leise Knarren einzelner Stufen nicht verhindern konnte.
Im Kerzenschein sah August wesentlich älter aus als in Bastians Erinnerung. Seine Haut war längst nicht mehr so blass und die grünen Augen schimmerten dunkler als noch vor ein paar Monaten. Augusts düstere Seele verbarg sich hinter einem unschuldigen und freundlichen Äußeren. Wenn Bastian es nicht besser gewusst hätte, er hätte diesen Mann gemocht. Mit ruhiger Hand schob er August einen frisch gefüllten Becher mit Wein über den Tisch. Hier unten fühlte er sich August schon eher gewachsen als in seiner Schlafkammer. Dort machte ihn die Anwesenheit seiner Familie verletzlich.
»Ihr seid wegen Martha zurückgekommen und ich lebe noch, weil Ihr mich braucht, um ihren Mörder zu finden!«
August pfiff anerkennend durch die Zähne und legte das Kurzschwert beiseite. »Ich wusste doch, dass Ihr ein kluger Mann seid.« Gierig trank er einen Schluck Wein und blickte Bastian an.
»Mir war gar nicht klar, dass Ihr so an Eurer Stiefmutter hängt.« Bastian hatte seine Selbstsicherheit wiedergefunden und erwiderte Augusts Blick ohne Zögern. Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über Augusts Gesicht. Es war ein kurzer Moment der Verunsicherung oder vielleicht sogar der Trauer. Bastian konnte es nicht deuten, da Augusts Mimik sich so schnell wieder verschloss, wie sie sich geöffnet hatte. Doch der kurze Einblick in sein Innenleben reichte Bastian aus, um den Druck auf seinen Gegner zu verstärken.
»Ihr solltet lieber wieder aus Zons verschwinden, bevor ich Euch in den Juddeturm werfen lasse.«
Blitzschnell landete ein scharfer Dolch genau zwischen Daumen und Zeigefinger von Bastians rechter Hand. Vibrierend blieb die Klinge in der Tischplatte stecken und Bastian zog erschrocken den Arm zurück.
»Droht mir nicht, sondern findet den Mörder meiner Mutter. Ich werde Euch bald wieder aufsuchen und bis dahin solltet Ihr Stillschweigen über unsere Begegnung bewahren.« Mit diesen Worten zog August den Dolch aus dem Holz und ließ ihn wieder im linken Ärmel verschwinden. Dann erhob er sich und ging, ohne Bastian eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die Tür zu. Bevor er die Schwelle überquerte, blieb er kurz stehen. »Ihr solltet Euch bei Nacht die Stadtmauer an der Südseite einmal näher anschauen.« Dann war er in der Dunkelheit verschwunden.
...
Obwohl der Tag klar und frühlingshaft begonnen hatte, verdeckten jetzt dunkle Wolken den Mitternachtshimmel. Das Licht der Sterne schien nicht stark genug, um bis zur Erde zu dringen, und so musste er blind nach dem winzigen Loch suchen, in dem sich der versteckte Mechanismus befand. Die Finger seiner rechten Hand waren geschwollen. Er hatte kaum Gefühl in ihnen und es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis er sich endlich zur richtigen Stelle vorgetastet hatte. Dieses verdammte, neugierige Weibsbild hatte ihm fast den Zeigefinger abgebissen. Sie war widerspenstig bis zum letzten Atemzug gewesen, doch ihm war nichts anderes übrig geblieben, als sie zu töten. Was mischte sich diese dumme Person auch in seine Geschäfte ein? Sein Herz raste wie wild, als die Bilder der Mordnacht wieder in seinem Kopf auftauchten. Er sah sie so deutlich vor sich, als wären sie echt. Es war nicht der erste Mord, den er in seinem Leben begangen hatte. Doch es war die erste Frau und er war dabei nicht betrunken gewesen. Benommen starrte er auf die blutigen Fingerknöchel, die noch vor ein paar Monaten einen frechen Burschen in Köln niedergeschlagen hatten. Nach einer durchzechten Nacht war der Milchbart übermütig geworden und hatte ihm seine Gulden aus dem Wams stehlen wollen. Dafür hatte er mit dem Leben bezahlt.
Aber der Mord an Martha war anders. Er hatte sie gekannt, ja sogar ein wenig gemocht. Hektisch griff er nach seinem Weinschlauch. Er war stets gefüllt, denn sobald er nervös wurde, brauchte er das beruhigende Gefühl von Alkohol auf seinen Lippen. Heute hatte er allerdings schon so viel getrunken, dass der unscheinbare lederne Schlauch schlaff und leer an seiner Hüfte hing. Er sog kräftig an der Öffnung, doch mehr als ein allerletzter Tropfen, der nicht einmal die Lippen benetzen konnte, war nicht herauszuquetschen. Wütend schob er den Schlauch beiseite. Die Bilder der sterbenden Martha tauchten immer wieder vor ihm auf und langsam bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Er spürte, dass seine Hände zitterten. Es war das Zittern vor dem großen Sturm, kurz bevor er ausbrach. Er musste etwas tun, sonst würde seine Mission scheitern.
Er lehnte die Stirn an die Stadtmauer und ließ die Kälte der Steine durch die nackte Kopfhaut bis in den Schädel eindringen. Für einen winzigen Moment verschaffte die Temperatur ihm ein wenig Gelassenheit. Trotzdem kreisten seine Gedanken um den Inhalt der Tasche. Sie war wertvoll, aus Leder gefertigt und randvoll mit Fläschchen voller Elixier gefüllt. Eine Flüssigkeit, die schwarz wie Pech aussah und die er auf keinen Fall anrühren durfte. Er war nur der Bote, der die wertvolle Fracht aus der Stadt schmuggelte. Sein Auftraggeber hatte sich hierfür eine ganz besondere Methode ausgedacht, denn niemand sollte den Ort der Herstellung oder den Transportweg je entdecken. Qualvoll dürstete sein ganzer Körper nach einem Tropfen Alkohol. Seine Finger glitten in die Tasche und holten wie von selbst ein Fläschchen des wertvollen Elixiers heraus. Eine Flasche mehr oder weniger würde wohl kaum auffallen. Er hielt das zierliche Glas in seinen groben Händen und prüfte die Versiegelung. Sie war fest aus Wachs um einen Holzpfropfen gegossen, der die Flüssigkeit im Flascheninneren hielt und ihr Auslaufen verhinderte. Er könnte nur einen Tropfen probieren und die Versiegelung später mit einer Kerze erneuern. Sicher würde es niemandem auffallen.
Wenn sie dich erwischen, töten sie dich!, warnte eine Stimme in seinem Inneren, doch die Sucht nach Betäubung war größer. Mit dem Daumennagel schabte er das Wachs vom Holzpfropfen. Dann drehte er den Verschluss vorsichtig herum, bis er sich mit einem leisen Plopp aus der Öffnung löste. Ein modriger Geruch drang in seine Nase und verdutzt drehte er den Kopf weg. Was war das für ein Teufelszeug, für das die hohen Herrschaften so viele Gulden bezahlten? Neugierig nahm er noch einen Atemzug. Beim zweiten Mal roch es gar nicht mehr so schlimm. Er streckte die Zunge aus und hielt sie unter den Flaschenrand. Ganz langsam kippte er das Fläschchen gerade so weit, dass ein Tropfen der Flüssigkeit auf seine Zungenspitze fiel. Das Elixier breitete sich mit einem feurigen Brennen auf seiner Zunge aus. Sonst spürte er nichts. Mutiger geworden, wiederholte er den Versuch und diesmal drang das Brennen bis in seine Kehle vor. Wie lange würde es wohl dauern, bis er eine Wirkung verspürte? Vielleicht sollte er die restlichen Flaschen in die Rohre stopfen, bevor er von Sinnen war und unter Umständen noch entdeckt wurde. Hastig setzte er die geheime Mechanik in Gang, die hinter einem lockeren Stein in der Stadtmauer verborgen lag. Es war ein einfacher Drehmechanismus, doch man musste die Reihenfolge der Rechts- und Linksdrehungen kennen, um das Rohr zu öffnen. Es gab ungefähr sechzig tönerne Rohre, die sich im letzten oberen Drittel der Stadtmauer befanden. Sie waren in zwei Reihen angeordnet und beim Bau der Mauer waagerecht eingelassen worden. Die Tonrohre stammten aus Siegburger Keramikbrennereien und waren einem alten Brauch folgend bei der Errichtung der Stadtmauer als Bauopfer eingebracht worden. Ursprünglich waren sie mit wertvollem Wein gefüllt und mit Pech verschlossen gewesen. Von der Außenseite der Stadtmauer her konnte man die Öffnungen der Rohre erahnen, doch an der Innenseite, an der er sich jetzt befand, waren eigentlich keine Zugänge vorgesehen. Sein Auftraggeber hatte daher zehn der Tonrohre öffnen lassen, um die Fläschchen mit dem schwarzen Elixier an den Stadttoren vorbei aus Zons schmuggeln zu können. Jedes Mal, wenn er das Elixier in die engen Rohre stopfte, wusste er, warum sie auch als Zwergentöpfe bezeichnet wurden. Sie waren so eng, dass die Fläschchen kaum hineinpassten.
Hektisch schob er ein Gefäß nach dem anderen in die leeren Rohre hinein. Sein Geist begann bereits frei zu schweben und er fühlte, wie die Droge langsam seine Blutbahnen durchströmte und in ihm einen Zustand der Glückseligkeit auslöste. Kaum dass er das letzte wertvolle Gut im Inneren der Stadtmauer verstaut hatte, betätigte er den Mechanismus und verschloss die Rohre vor den neugierigen Augen der Öffentlichkeit. Benebelt ließ er sich hinab in den Wehrgang fallen und stolperte eine schmale Holztreppe hinunter zurück auf den Boden. Dort angekommen, schlief er auf der Stelle ein. Seine linke Hand umfasste immer noch das geöffnete Fläschchen, in dem der Rest des schwarzen Elixiers ölig an den Rändern klebte.
...
Bastian konnte nicht mehr schlafen. Augusts letzter Satz kreiste unaufhörlich in seinem Kopf. Was sollte er nachts an der Südseite der Stadtmauer finden? Das Schloss Friedestrom lag in diesem Teil von Zons sowie ein kleiner Hafen, der nur wenige Handelsschiffe aufnehmen konnte. Trotz der bleiernen Müdigkeit machte Bastian sich auf den Weg. Er wohnte direkt am Mühlenturm und es waren nur wenige Schritte bis zum Ziel. Solche Ausflüge unternahm er am liebsten gemeinsam mit seinem besten Freund Wernhart. Doch die Neugier war so stark, dass er nicht bis zum nächsten Tag abwarten konnte. Ob August damit rechnete und ihn in eine Falle lockte? Bastian schob den Gedanken fort. Nein, wenn er ihn hätte töten wollen, dann wäre es längst geschehen. In seiner Schlafkammer war er vollkommen wehrlos gewesen. Doch warum sollte August ihm helfen? Er hatte keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage.
Die schmale Gasse, durch die Bastian schlich, war stockdunkel und so stolperte er fast über einen Betrunkenen, der zusammengesunken an der Stadtmauer schlief. Eigentlich hätte der Nachtwächter den Burschen längst aufgreifen müssen. Bastian ärgerte sich. Bechtholt war immer sehr zuverlässig gewesen, aber langsam wurde er alt. Zu alt, um den nächtlichen Schurken die Stirn zu bieten. Er seufzte. Sie würden wohl bald einen Jüngeren für diese Aufgabe finden müssen.
Vorsichtig stieß er den schlaffen Körper an. Der Mann lallte etwas Unverständliches. Ein Gegenstand rollte über die Pflastersteine und klirrte dabei. Bastian kniff die Augen zusammen und folgte dem Geräusch. Ein Knirschen unter seinen Füßen ließ ihn innehalten. Verdammt, er war auf Glas getreten und fühlte, wie es unter seinen Ledersohlen zerbarst. Ärgerlich trat er zurück und fegte die Scherben achtlos beiseite. Er rüttelte den Trunkenbold erneut, doch dieser rührte sich nicht. Bastian hatte genug, sollte der Mann doch bis zum Morgengrauen in der Kälte schnarchen. Er hatte Wichtigeres zu tun und musste Augusts Hinweisen folgen. Ohne die Gestalt eines weiteren Blickes zu würdigen, schlich er weiter an der Südseite der Stadtmauer entlang. Die Gasse war menschenleer. Ein Blick in den wolkenverhangenen Himmel verriet Bastian, dass es weit nach Mitternacht war. Er lief die komplette Strecke bis zum Schloss Friedestrom ab, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Im kleinen Hafen verharrte er für einige Minuten. Doch bis auf das Plätschern des Rheines vernahm er kein Geräusch. Ein paar Ratten machten sich am Rande des Hafenbeckens über Fischreste her. Bastian vertrieb die Meute mit kräftigen Fußtritten. Dann setzte er sich auf einen Mauervorsprung und dachte nach. Martha war im Burggraben an der Südseite von Zons gefunden worden. Dorthin gelangte man entweder über den Zwinger und das Südtor oder man benutzte das Feldtor im Westen und lief das letzte Stück Richtung Süden an der Außenseite der Stadtmauer entlang. Das Feldtor war eine große Doppeltoranlage mit Zugbrücke und wurde rund um die Uhr von der Stadtwache bewacht. Das gleiche galt natürlich auch für das Südtor. In der Nacht, in der Martha ermordet wurde, waren jedoch beide Tore nicht so stark wie üblich besetzt gewesen, da niemand das Geburtstagsfest von Pfarrer Johannes verpassen wollte. Der Pfarrer genoss ein hohes Ansehen und war über die Stadtgrenzen von Zons hinaus beliebt. An diesem Tag waren so viele Fremde in der Stadt gewesen, dass es unmöglich war, den Überblick zu behalten. Morgen würde er mit den Befragungen von Zeugen beginnen, angefangen mit dem Bruderältesten Franziskus Nolden und Lodewich Jansen, dem Gehilfen des Hafenmeisters. Beide wurden zuletzt mit Martha gesehen. Und dann war da noch dieser blaue Stofffetzen, der fest in Marthas Faust gesteckt hatte. Vielleicht hatte der Arzt den Stoff inzwischen herausgezogen und konnte ihm ein paar Neuigkeiten erzählen. Doch das alles würde bis zum nächsten Tag warten müssen. Frustriert erhob Bastian sich und ging unverrichteter Dinge nach Hause.
...
Der modrige Geruch durchdrang seine Kleidung und machte auch vor seinem Mundschutz nicht halt. Er hatte dieses Tuch extra aus feinem blauen Stoff anfertigen lassen und in Duftöl getränkt. Der Stoff war leicht und luftdurchlässig. So konnte er auch dann noch problemlos atmen, wenn er das Tuch hoch ins Gesicht zog, sodass nur die Augen unbedeckt blieben. Der Bote hatte gestern alle Fläschchen mit Elixier mitgenommen und nun musste er dringend für Nachschub sorgen. Es war eine schwierige Aufgabe, denn man musste sich in vollkommener Dunkelheit zurechtfinden. Die Pilze mochten kein Licht. Schon der kleinste Schimmer konnte alles verderben. Die Luft war zum Schneiden dick, aber das war gut so. Den Eingang hatte er extra mit fülligem Stoff verhängt. Zum einen wollte er nicht entdeckt werden und zum anderen durften die Pilze nicht mit der zugigen Kälte des Labyrinths in Kontakt kommen.
Hugo von Spanheim hatte viele Monate in Schwaz verbracht. Schwaz, auch die silberne Stadt genannt, lag inmitten des habsburgischen Reiches im Inntal. Der Bergwerksort war bekannt für seine Kupfer- und Silbervorkommen, zog jedoch gleichsam zahlreiche Alchemisten an. Sigmund Füger von Schwaz war einer von ihnen, der durch seine Heilkunst Berühmtheit erlangt hatte. Hugo war lange Zeit bei ihm in die Lehre gegangen und hatte dort die Herstellung der Tinktur erlernt. Gemeinsam mit seinem Freund Theodor von Braunfels hatte er die Arznei, die ursprünglich zur Heilung von Bergwerkskrankheiten gedacht war, weiterentwickelt. Während Theodor glaubte, das Allheilmittel schlechthin entdeckt zu haben, hatte er sich den Freuden des Lebens hingegeben und die Rauschwirkung des als Laudanum bekannten Mittels untersucht.
Mithilfe des schwarzen Schimmelpilzes Aspergillus niger war Hugo in der Lage, ein Rauschmittel herzustellen, welches die vermögenden adligen Familien ihm geradezu aus den Händen rissen. Er hatte sich mit Theodor darüber zerstritten und ihre Wege hatten sich getrennt. Noch immer vermisste Hugo seinen Freund, der im Laufe der Jahre wie ein Bruder für ihn geworden war. Aber sie hatten nicht mehr zueinander gefunden. Theodor war besessen davon, Menschen zu helfen. Hugo hingegen wollte irdischen Wohlstand erreichen und war nur mit einem prallgefüllten Sack voller Goldgulden zufrieden.
Er holte einen Holzspachtel aus seinem Wams und kratzte den schwarzen Flaum von den feuchten Wänden. Er konnte den Schimmelpilz nicht sehen, aber er fühlte ihn. Hugo ging in die Knie und begann, in der Höhe seiner Knöchel die Wand abzutasten. Sobald seine Finger auf flauschigen Grund stießen, nahm er den Holzspachtel und schabte den Pilz vom Stein. In kurzen geraden Linien wiederholte er die Prozedur, bis der Spachtel voll war von übelriechendem schwarzen Flaum. Vorsichtig presste Hugo die Ernte in ein Tongefäß. Er hatte herausgefunden, dass der Schimmel dort am längsten überlebte. Früher benutzte er Holzgefäße, doch der Schimmelpilz wuchs mit der Zeit dort an und mutierte zu einem rötlichen Gemisch, das er nicht gebrauchen konnte. Hugo benötigte den reinen schwarzen Schimmel, so wie er nur im Dunkel eines Grabes wuchs. Das Labyrinth unter Zons war der ideale Ort für seine Zucht. Die Bürger ahnten von der Existenz des unterirdischen Irrgartens nichts, er war bei der Errichtung der Stadt angelegt und kurz darauf vergessen worden. Nur in den geheimen Schriften des Erzbischofs Friedrich von Saarwerden konnte man als aufmerksamer Leser Hinweise auf die Existenz des Labyrinths finden.
Hugo von Spanheim war in verschiedenen Klöstern aufgewachsen und während seiner Studien schon lange vor seiner Zeit in Schwaz auf diesen wundersamen Ort gestoßen. Als er sich mit Theodor zerstritt und Schwaz verließ, wusste er, wohin er gehen würde. Der Zonser Pfarrer hatte ihn dankbar aufgenommen. Er war ein alter Mann und froh über jede helfende Hand. Pfarrer Johannes ließ ihm viel Freiraum für seine Studien. Natürlich wusste er nicht alles. Ab und zu stellte Hugo Heilsalben her, die der Pfarrer großzügig unter den Bedürftigen verteilte. Von seinem Rauschmittel ahnte Johannes jedoch nicht das Geringste. Als jüngster Sohn aus dem Geschlecht der von Spanheims galt Hugo als wohlhabend, sodass sich auch niemand über die vielen Gulden wunderte, die sich in seiner Kammer türmten.
Hugo legte den Holzspachtel beiseite. Das Tongefäß war randvoll mit schwarzem Schimmel. Das sollte fürs Erste genügen. Er brachte seine Ernte in ein kleines Nebengewölbe, das mit verschiedenen Gerätschaften ausgestattet war. Mit der winzigen Feuerstelle und den vielen Glaskolben ähnelte es dem Labor eines Alchemisten. Im Geist ging er die weiteren Schritte zur Herstellung des Elixiers durch. Er musste die Samenkapseln des Schlafmohns anritzen und darauf warten, dass ihr Milchsaft austrat. Diesen konnte er dann abschaben und langsam erhitzen, bis eine schwarze breiige Masse entstand. Danach fügte er den Schimmelpilz hinzu. Nach einigen Tagen vereinigten sich die beiden Substanzen zu einer schwarzen Tinktur, die er mit Wein vermischte. Das dunkle Elixier füllte er in winzige Fläschchen und versiegelte sie mit heißem Wachs. Nur wenige Tropfen des Rauschmittels genügten, um ein Gefühl der Ekstase zu erleben. Der Genuss von mehr als einem Fläschchen allerdings löste schwere Halluzinationen aus. Hugo von Spanheim kannte diese Wirkung genauestens und dokumentierte seine Rezepturen akribisch in einem kleinen ledernen Buch.