XV.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian konnte nicht schlafen. Er hatte versucht, den Bruderältesten zu sprechen, doch der war den ganzen Tag über nicht in seinem Haus aufgetaucht. Niemand konnte ihm sagen, wo sich Reinhard Nolden aufhielt. Unverrichteter Dinge war Bastian am Abend abgezogen. Auch der Pfarrer hatte ihn nicht aufmuntern können. Johannes war lediglich froh darüber, dass der Bucklige endlich im Juddeturm saß. Der Pfarrer hatte ständig vom Beichtgeheimnis gemurmelt und dabei merkwürdige Andeutungen über Gilig Ückerhoven gemacht. Bastian konnte sich keinen Reim darauf machen. Für ihn stand fest, dass sich der Bucklige schuldig gemacht hatte.

Den Diebstahl der gefälschten Münzen hatte er auf alle Fälle auf dem Kerbholz. Aber ob er auch ein Mörder war? Tief in seinem Herzen zweifelte Bastian daran. Andererseits hatte er auch den blutigen, mit schwarzen Haaren verklebten Hammer und die verkohlten Kleiderfetzen des Bettelweibes in Giligs Haus entdeckt. Nur weil sein Herz den Buckligen - vielleicht sogar aus falschem Mitleid heraus - für unschuldig hielt, wollte Bastian eher seinem Verstand trauen. Eigentlich war die Lage eindeutig. Die Zonser Bevölkerung war sich sicher, Pfarrer Johannes ebenfalls und auch sein Freund Wernhart zweifelte nicht an der Schuld des Buckligen.

Doch der hagere Mann, der Bruder Anselmus im Kloster Brauweiler mit einem giftigen Pfeil angegriffen hatte, der eigentlich Bastian galt und der Bruderälteste, der offensichtlich in die Münzfälscherei verwickelt war, passten nicht in das Bild. Zumindest hatte der Bucklige nicht ganz alleine gehandelt. Außerdem beteuerte er beharrlich seine Unschuld.

In seiner Verzweiflung hatte Bastian sich auch noch mit Marie gestritten. Er hatte sie in den letzten Tagen viel zu sehr vernachlässigt und es war längst überfällig, dass sie sich darüber beschwerte. Doch für Bastian waren die Vorwürfe an diesem Abend einfach zu viel gewesen. Wortlos hatte er sein Abendmahl in sich hineingeschlungen und dann abgewartet, bis sie bitter enttäuscht ins Schlafgemach verschwunden war. Erst Stunden später hatte er sich zu ihr gelegt, nachdem sie längst fest eingeschlafen war. Es tat ihm leid und raubte ihm den Schlaf. Er wusste, dass er in ihrem Zustand mehr Rücksicht auf sie nehmen sollte.

Bastian blickte Marie fürsorglich an. Ihr Atem ging tief und gleichmäßig. Er schloss für einen Moment die Augen und überlegte, wie er einschlafen könnte, doch dann sprang er aus dem Bett. Er brauchte frische Luft. Obwohl es mitten in der Nacht war, zog er sich an und ging nach draußen. Der kühle Nachtwind zerzauste seine blonden Locken, doch Bastian spürte die Kälte nicht. Ohne zu denken, lief er durch das Feldtor vor die Stadtmauern von Zons.

Seine Füße trugen ihn über das Feld mit der verkohlten Hütte, in der das Bettelweib verbrannt worden war, hinein in den Wald. Wie von unsichtbarer Hand geführt, lief er durch das Unterholz bis zu der Stelle, an der der tote Schmied gelegen hatte. Wie ohnmächtig blieb er stehen, ohne sich zu bewegen und lauschte in die Dunkelheit des Waldes hinein. Der Wind brachte die Blätterkronen zum Rauschen. Schwarze Wolken verdunkelten das Sternenlicht und nur wenige schwache Lichtstrahlen drangen durch das Laubgewand des Waldes hindurch. Der Herbst löste einzelne Blätter von den Bäumen und ließ sie zu Boden tanzen. Wie Störenfriede unterbrachen die fallenden Blätter die Melodie des Waldes. Bastian schloss die Augen und ließ sich von der Nacht in ihren Bann ziehen.

Plötzlich hörte er ein Knacken. Er schlug die Augen auf und lauschte angestrengt. Nichts. Gerade als Bastian sich seinen Gedanken wieder hingeben wollte, knackte es erneut. Diesmal war das Geräusch ganz in seiner Nähe. Er lehnte sich an die Rinde der alten Kastanie und konnte ganz deutlich das Knacken zerbrechender Äste hören. War dort ein Wolf, der in der nächtlichen Dunkelheit nach Essbarem suchte? Bastian zweifelte. Er duckte sich und schaute an der Kastanie vorbei in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Es waren jetzt scharrende Laute, die unmöglich von einem Tier stammen konnten.

Nur ein paar Meter entfernt nahm er einen schwachen Lichtschein wahr. Er erkannte die Silhouette eines Mannes, der sich an der Erde unter einem Baum zu schaffen machte. Bastian spürte, wie sein Herz plötzlich raste. Wer trieb sich bei Nacht im Wald herum? Das konnte doch nur der Mörder des Schmiedes sein! Atemlos näherte er sich der Gestalt. Er kroch auf allen Vieren, ständig darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Bastian war nur noch ein paar Meter entfernt. Der Mann grub ein Loch in den Boden. Mit einer Schaufel stieß er in die Erde, die sich erstaunlich leicht beiseiteschieben ließ. Bastian wunderte sich, bis ihm aufging, dass dieses Loch wahrscheinlich die ganze Zeit dort gewesen war. Der Waldboden war offenbar so locker, dass die dunkle Gestalt kaum Kraft einsetzen musste, um tiefer vorzudringen.

Plötzlich traf das Werkzeug mit einem dumpfen Laut auf Widerstand. Der Mann warf hastig die Schaufel beiseite, fiel auf die Knie und grub mit den Händen weiter. Ein Sack kam zum Vorschein. Bastian traute seinen Ohren nicht. Das war das Geräusch von klirrenden Münzen! Wie zur Bestätigung öffnete der Mann den Sack und holte ein paar Geldstücke hervor. Sie glitzerten schwach im Lichtschein der Fackel, die neben ihm im Boden steckte. Die Erkenntnis traf Bastian wie ein Blitz: Der Schmied hatte also doch mehr als diese eine Münze bei sich gehabt. Wahrscheinlich hatte er diesen Sack gestohlen und sein Auftraggeber war ihm auf die Schliche gekommen.

Bastian pirschte sich näher an den Mann heran. Er war schlank, aber nicht hager. Seine Bewegungen waren jugendlich. Bastian stutzte. Wer war dieser Fremde? Er konnte weder den hageren Mann noch den Bruderältesten in der Silhouette dieser Gestalt erkennen. So in Gedanken versunken, setzte Bastian, immer noch auf allen Vieren unterwegs, sein Knie auf trockenem Laub ab, das knirschend zerbröselte. Der Fremde hörte augenblicklich auf zu graben und drehte den Kopf in seine Richtung. Bastian schaute ungläubig in ein ihm wohlbekanntes Gesicht. Vor ihm saß einer der Zwillinge! Im Fackelschein erkannte er die braunen Locken, welche das blasse Gesicht einrahmten. Bastian sprang auf und rannte los.

»Halt! Bleibt auf der Stelle stehen!«, brüllte er, noch während er durch die Luft flog und versuchte, den fliehenden Zwilling zu stellen.

Doch der junge Mann war schneller. Er hatte Bastian kommen sehen und schlug im letzten Augenblick einen Haken. Wie ein Hase änderte er in schneller Taktung die Richtung. Bastian erwischte nicht mehr als seinen Mantel. Wütend warf er diesen beiseite und raste dem jungen Burschen hinterher. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, doch er bemerkte es nicht. Mühelos sprang der Junge über die Steine auf dem Boden und rannte durch das Unterholz. Nach kurzer Zeit war er im Dunkel der Nacht verschwunden. Notgedrungen gab Bastian die Verfolgung schließlich auf. Seine Lungen brannten und die Muskeln in seinen Oberschenkeln schmerzten vor Anstrengung.

Er sog tief Luft ein und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Morgen würde er sich den Jungen vornehmen. Bastian kehrte um und lief zu dem Loch im Waldboden zurück. Die Fackel brannte immer noch und spendete schwaches Licht. Der Sack mit den Münzen war noch da. Bastian ergriff die Schaufel und grub weiter, doch er fand nichts außer Erde. Erschöpft ließ er sich fallen und lehnte sich an einen dicken Baumstamm.

Er konnte nicht einmal sagen, welchen der beiden Brüder er vor sich gehabt hatte. War es Christan oder August gewesen? Egal, morgen würde er mit ihrer Stiefmutter sprechen und dann würde es gewaltigen Ärger geben.

Ob einer der beiden tatsächlich ein Mörder war? Bastian schüttelte den Kopf. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Die Mutter der beiden war bereits bei der Geburt gestorben und die Brüder wirkten schüchtern und zuvorkommend. Keiner der beiden hatte je Aggression oder Gewaltbereitschaft gezeigt. Vielleicht hatte der Zwilling den Mord beobachtet und gesehen, wie der Mörder die Goldgulden vergraben hatte.

Wenn Gilig doch der Mörder war, dann wusste der Zwilling, dass er das Gold - jetzt, wo der Bucklige im Juddeturm festsaß - in Ruhe ausgraben konnte. Niemand kannte das Versteck und der Bucklige konnte ihm nicht mehr in die Quere kommen. Bastian stockte. Aber warum war er dann nicht sofort zur Stadtwache gekommen und hatte von dem Mord erzählt? Das ergab keinen Sinn. Die Wahrscheinlichkeit war höher, dass der wirkliche Mörder dem Jungen Lügengeschichte aufgetischt und ihn dafür bezahlt hatte, dass dieser den Schatz mitten in der Nacht ausgrub. Der Junge ahnte sicher nichts Böses. Bastian nickte. So musste es sein! Gleich am nächsten Morgen würde er mit den Brüdern sprechen. Wenn sie ihren Auftraggeber verrieten, dann war er dem Mörder ganz dicht auf der Spur!

 

 

...

 

 

Die Gedanken in Bastians Kopf kreisten so heftig um diesen Fall, dass er einfach keine Ruhe fand. Statt nach Hause zu laufen, hämmerte er mitten in der Nacht an Wernharts Tür.

»Wernhart, mach auf! Ich muss dich sprechen.«

Wernhart öffnete schlaftrunken die Tür. »Was machst du hier mitten in der Nacht? Hat dein Weib dich vor die Tür gesetzt?« Ein schelmisches Grinsen hüpfte über Wernharts Gesicht.

Bastian stürmte in die Stube hinein und warf den Sack mit Münzen auf einen Tisch. Klirrend rollten ein paar Goldgulden heraus.

»Wo hast du das Gold her? Hast du die Säcke aus Giligs Haus geplündert?«

»Nein. Die habe ich im Wald gefunden. Keine zehn Meter von der Stelle entfernt, an der die Leiche des Schmiedes entdeckt wurde.«

Wernhart starrte Bastian ungläubig an. »Was suchst du mitten in der Nacht im Wald?«

Bastian holte tief Luft und erzählte Wernhart von seinem nächtlichen Erlebnis. Wernhart brauchte ein paar Augenblicke, bis er begriff, was Bastian ihm da erklärte.

»Wir sollten den Bruderältesten sofort befragen, bevor der Zwilling ihn warnen kann!«

»Der Auftraggeber könnte auch der hagere Mann sein«, warf Bastian ein.

»Ja, und deshalb müssen wir Reinhold Nolden befragen und herausfinden, ob er dahintersteckt. Wenn nicht, dann war es der Fremde.«

Bastian stimmte zu. »Du hast recht, Wernhart. Wir sollten keine Zeit verlieren. Außerdem muss der Bruderälteste den hageren Fremden kennen, wenn du die beiden vor ein paar Nächten richtig beobachtet hast.«

Eilig verließen sie Wernharts Hütte und machten sich in Richtung Zehntgasse auf. Mitternacht war lange vorbei und der klare Nachthimmel brachte die eisige Luft zum Klirren. Um diese Uhrzeit war nicht einmal mehr der Nachtwächter unterwegs und so liefen sie, ohne besonders auf ihre Deckung zu achten, auf das Haus des Bruderältesten zu. Keine Menschenseele hatte sie bis dahin beobachtet. Ohne zu zögern, pochte Bastian an Noldens Tür. Erst leise und zögerlich, dann immer lauter und fordernder. Schließlich hörten sie, wie Reinhold Nolden schimpfend die knarrende Treppe hinunterstieg. Die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Was wollt Ihr mitten in der Nacht? Seid Ihr nicht ganz bei Sinnen?«, zischte der Bruderälteste wütend durch den Schlitz.

Bastian stieß kräftig gegen die Tür, doch sie war von innen mit einer Kette gesichert und schwang sofort zurück.

»Macht die Tür auf. Wir müssen mit Euch reden!«

»Ja doch. Lasst mich die Kette entriegeln, dann öffne ich Euch!« Der Bruderälteste fluchte und schloss die Tür. Bastian hörte, wie er sich an der Kette zu schaffen machte. Dann trat plötzlich Stille ein. Bastian wartete einen Moment und schlug dann erneut erbost gegen das Holz.

»Verdammt, Reinhard Nolden! So öffnet die Tür!«

Schlurfende Schritte näherten sich und die Tür ging auf. Wütend stieß Bastian sie sperrangelweit auf und trat gemeinsam mit Wernhart ein.

»Was fällt Euch ein? Wollt Ihr uns an der Nase herumführen?«

Der Bruderälteste winkte ab und deutete mürrisch auf den Tisch, auf dem drei Becher und zwei Weinkrüge standen.

»Ich habe uns Wein besorgt oder wollt Ihr mich auch noch dursten lassen, wenn Ihr mich schon um meine Nachtruhe bringt?«

Bastian setzte sich und knallte mit der rechten Hand mehrere Goldgulden auf den Tisch. Dann nahm er einen kräftigen Schluck Wein und fragte: »Habt Ihr dafür eine Erklärung?«

Der Bruderälteste wirkte nicht verwundert. Ruhig setzte er sich und trank ebenfalls vom Wein, bevor er antwortete: »Ich kenne diese Münzen nicht. Sind es die, die Ihr in Giligs Haus gefunden habt?«

Bastian erwiderte in gelassenem Tonfall: »Nein, die hier habe ich in einem Loch direkt neben dem Fundort der Leiche des Schmiedes gefunden!«

Die Augen des Bruderältesten weiteten sich erstaunt. Er stotterte: »Dann hat der Schmied also doch etwas von den Goldgulden beiseitegeschafft und ich hatte schon den Buckligen in Verdacht!« Sofort biss er sich auf die Lippen und schwieg.

Bastian rückte seinen Stuhl näher an Reinhard Nolden heran. »Ihr kennt diese Münzen also doch!«, stellte er mit rauer Stimme fest. Bastian spürte, dass er kurz vor dem Durchbruch stand. Das Gesicht des Bruderältesten war dunkelrot angelaufen und Bastian konnte kleine Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen.

Wernhart tat es Bastian nach und rückte ebenfalls dicht an den Bruderältesten heran. »Ich habe Euch vor ein paar Nächten belauscht!«

Reinhard Nolden riss entsetzt die Augen auf. Seine Lippen bebten. Wernhart fasste nach: »Für wen lasst Ihr die Münzen fälschen?« Seine Stimme klang fast freundlich, als er hinzufügte: »Ihr wisst ja, dass Ihr vielleicht mit dem Leben davon kommt, wenn Ihr uns verratet, wer hinter den Münzfälschungen steckt.«

Der Bruderälteste lachte hysterisch auf. »Ihr habt doch keine Ahnung, mit wem Ihr Euch da anlegt. Mein Leben habe ich so oder so verwirkt.« Er legte beide Hände auf den Tisch und senkte den Kopf. In dieser Stellung und mit geschlossenen Augen verharrte er eine Weile, wie zu einem stillen Gebet. Dann nahm er den zweiten Weinkrug zur Hand und schenkte sich nach. In gierigen Zügen trank er den Wein aus und lehnte sich dann zurück. »Ich kann Euch nur raten, Euch nicht mit meinem Auftraggeber anzulegen. Er versteht nicht viel Spaß, wenn es um Gulden geht.«

Bastian hakte nach: »Wer ist Euer Auftraggeber? Hat er den Schmied auf dem Gewissen?«

Reinhold Nolden blickte Bastian tief in die Augen. Sein Blick verklärte sich. »Ich weiß nicht, wer das verbrannte Bettelweib oder den Schmied auf dem Gewissen hat. Die fehlenden Münzen sind erst nach seinem Tod aufgefallen. Bis dahin hatte niemand von uns einen Grund ihn zu töten. Ganz im Gegenteil, es fehlen noch etliche Gulden, die hergestellt werden müssen.« Er stellte den Becher ab. Seine Augenlider begannen zu zucken und plötzlich trat weißer Schaum aus seinen Mundwinkeln hervor.

»Was habt Ihr getan?« Bastian sprang entsetzt auf. Der Bruderälteste sank vom Stuhl und Bastian fing seinen schlaffen Körper kurz vor dem Aufprall ab. Er schüttelte Reinhard Nolden verzweifelt, doch dieser hatte die Augen bereits geschlossen und lag zuckend am Boden.

»Sagt mir, wer Euer Auftraggeber ist!«

Der Bruderälteste öffnete die Augen einen winzigen Spalt und Bastian hielt sein Ohr ganz dicht an seinen Mund, um ihn besser verstehen zu können.

»Wenn Ihr nicht aufgeben könnt, Bastian Mühlenberg, dann sucht ihn in Köln unter den Gefolgsmännern des Erzbischofs. Aber wenn Ihr klug seid und das Leben Eurer Familie Euch lieb ist, dann lasst es besser sein.« Die letzten Worte waren so leise gehaucht, dass Bastian sie kaum hören konnte.

»So sagt mir doch seinen Namen!« Bastian schüttelte Reinhard Nolden, dessen Körper bereits aufgehört hatte zu zucken. Der Bruderälteste atmete nicht mehr. Bastian schüttelte ihn wieder und wieder, bis er Wernharts Hand auf seiner linken Schulter spürte. »Er ist tot, Bastian!«

Bastian ließ von ihm ab und verbarg das Gesicht in den Händen. Das konnte doch nicht wahr sein! Wütend fegte er die Becher vom Tisch, der Krug mit dem vergifteten Wein landete scheppernd auf dem Boden. Wernhart legte beruhigend einen Arm um Bastian. »Lass uns nach Hause gehen. Morgen reden wir mit dem Zwilling.«

 

 

...

 

 

Mit hängenden Schultern und todmüde wollte Bastian die Tür zu seinem Haus öffnen, als er feststellte, dass sie bereits offen war. Verdutzt blieb er stehen. Hatte er vergessen, die Tür zu verriegeln? Nein, er war sich ganz sicher, dass er sie verschlossen hatte. Mit klopfendem Herzen trat Bastian ein und lauschte. Nichts. Alles war still. Er blickte sich in der Dunkelheit der Stube um, konnte jedoch nichts Bedrohliches wahrnehmen. Trotzdem rumorte sein Bauch und so schlich er lautlos die Treppe hinauf, die Muskeln bis zum Zerreißen angespannt. Oben angekommen lauschte er einen Moment. Als er sich sicher war, kein Geräusch zu hören, stieß er vorsichtig die Tür zum Schlafgemach auf. Das Bett war leer. Marie war verschwunden.

Bastian schrie ihren Namen, doch er bekam keine Antwort. Er durchsuchte das Obergeschoss. Keine Spur von Marie. Er sprang die Treppe in einem Satz hinunter und leuchtete jeden Winkel mit seiner Fackel aus. Nichts. Dann öffnete er die Kellertür und stieg die Stufen hinab. Ein Luftzug ließ die Flamme fast verlöschen und in diesem Moment wusste Bastian, dass er Marie hier unten finden würde. Sein Blut rauschte in den Ohren und er hatte Schwierigkeiten, auch nur einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er sah sein ungeborenes Kind vor sich. Sah das Bild verblassen, neben seiner leblosen Frau. Seine Kehle verkrampfte sich und der Schmerz in seinem Herzen brannte so heiß, wie nur die Hölle sein konnte. Jetzt reiß dich zusammen, schalt er sich selbst. Verliere nicht die Nerven, dann verlierst du auch nicht deine Frau! Er versuchte ruhig zu atmen. Seine Hände zitterten. Ein prüfender Griff an seinen Oberschenkel gab ihm etwas Sicherheit. Sein Kurzschwert war bereit.

Er versuchte, sich die Karte der Häuser ins Gedächtnis zu rufen. Die Keller waren alle miteinander verbunden. Spätestens, seit er im letzten Sommer auf der Jagd nach dem Sichelmörder das geheime Labyrinth unter Zons entdeckt hatte - welches noch viele Meter tiefer verborgen unter der Stadt lag - kannte er jeden Winkel in- und auswendig. Dies war ein taktischer Vorteil und sollte dieser hagere Kirchenmann der Übeltäter sein, so würde er sich hier unten nur halb so gut auskennen.

Für einen Moment bereute Bastian, dass Wernhart nicht bei ihm war. Aber ihm blieb keine Zeit, Verstärkung zu holen. Er musste Marie finden. Bastian warf einen letzten Blick auf seine Fackel. Die Flammen schlugen in Richtung Norden. Dann blies er das Licht aus und lief im Dunkeln eine große Schlaufe. Er vermutete, dass die Entführer dort saßen, wo der Luftzug herkam. Wahrscheinlich lauerten sie ihm auf. Wenn er aus der entgegengesetzten Richtung auftauchte, konnte er den Überraschungseffekt vielleicht für sich nutzen.

Er verließ seinen eigenen Keller und betrat durch einen niedrigen Durchgang den Nachbarraum. Es war feucht und er konnte das Wasser von den Wänden tropfen hören. Seine Schuhe wurden nass. Er zählte seine Schritte und merkte sich jeden Richtungswechsel genauso wie jede neue Kelleröffnung, die er durchschritt. Dann hörte er ein Geräusch. Etwas quietschte laut - wahrscheinlich eine Ratte. Gleich darauf fluchte eine Männerstimme. »So seid doch leise oder wollt Ihr, dass wir entdeckt werden?« Bastian hielt den Atem an. Das mussten sie sein! Er näherte sich weiter und nahm einen schwachen Lichtschein war. Den Umweg und das Täuschungsmanöver hätte er sich sparen können, denn die Entführer hatten sich tatsächlich im Keller des Nachbarn verschanzt. Drei Kerle standen in dem feuchten Kellerraum, mit dem Rücken zu ihm gewandt. Vor ihnen, an einen Stuhl gefesselt, saß Marie. Bastian konnte sie an ihren langen blonden Haaren erkennen. Sie bewegte sich nicht. Bastian spürte, wie die Angst seine Eingeweide hinaufkroch. Er visierte zwei von den Kerlen mit der Spitze seines Schwertes und stach zu.

Der Erste ging sofort zu Boden. Bastian hatte ihm sein Schwert tief in den Brustkorb gestoßen. Der zweite Kerl hatte sich rechtzeitig weggedreht. Bastian sprang einen Schritt zurück. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass ein Mann Marie vom Stuhl losband und mit ihr fliehen wollte. Schnell führte er seinen nächsten Angriff aus. Sein Gegenüber war ein geübter Schwertkämpfer. Er hielt Bastian in Schach. Bastian traf ihn am Schwertarm. Blut schoss in einer hohen Fontäne und spritzte an die grauen Kellerwände. Er keuchte und stieß schnell nach, bevor sein Angreifer wieder zur Besinnung kam. Dieser traf ihn mit einem heftigen Tritt am Knie. Bastian sank zusammen. Ein weiterer Schlag traf seinen Kopf. Blut lief von seiner Stirn hinab. Er konnte den metallischen Geschmack auf seinen Lippen spüren. Der Angreifer versuchte einen tödlichen Hieb zu setzen, doch Bastian wich aus und brachte ihn mit Hilfe einer Finte zum Stolpern. Mit einem lauten Schrei stieß Bastian sein Schwert in die Seite des Mannes. Blut tränkte den Boden.

Bastian kümmerte sich nicht weiter darum und wandte sich dem dritten Entführer zu. Er wusste, dass er es mit einem schnellen und geschickten Angreifer zu tun hatte. Überrascht erkannte er den hageren Mann, dem er im Kloster Brauweiler erstmals begegnet war. Er hatte ein Messer an Maries Kehle gelegt und grinste.

»Tötet mich und ich schneide ihr die Kehle durch, während ich meinen letzten Atemzug mache«, zischte er böse. Er lockerte seine Haltung und fing an zu lachen.

Bastian war irritiert, ließ ihn jedoch nicht aus den Augen und richtete sich drohend auf. Ein kalter Gegenstand in seinem Nacken ließ ihn innehalten. Jemand hielt ihm eine Waffe ins Genick. In Maries Gesicht konnte er das blanke Entsetzen lesen. Dann verdrehte sie die Augen nach oben und sackte ohnmächtig zusammen. Der hagere Mann lockerte die Klinge an ihrer Kehle nicht.

Das ist das Ende, dachte Bastian. Sie werden uns beide töten und hier unten liegenlassen. Krampfhaft überlegte er, wie er seinen Angreifer überwältigen könnte, ohne dass der im selben Augenblick Marie die Kehle durchschnitt. Seine Augen maßen fieberhaft die Entfernung zwischen ihm und Marie ab. Mit drei oder vier Schritten könnte er dort sein, sofern es ihm gelang, seinen Angreifer auf Anhieb unschädlich zu machen. Doch das würde zu lange dauern. Der Hagere könnte ihr ohne Eile die Kehle durchschneiden.

»Ihr hättet Euch nicht in meine Angelegenheiten einmischen sollen! Und ...«, er machte eine abfällige Handbewegung, »das Zählen hat man Euch wohl auch nicht beigebracht. Sonst hättet Ihr meinen dritten Mann nicht übersehen!« Ein gehässiges Lachen kam aus seiner Kehle.

»Wer seid Ihr und was treibt Ihr in unserer Stadt?« Bastian versuchte, seine Stimme zu beherrschen und nicht vor Wut zu zittern.

Der Fremde lachte. »Ihr hättet einfach Eure Augen schließen können. Was gehen Euch meine Goldgulden an?«

»Auf Münzfälscherei steht die Todesstrafe!«, erwiderte Bastian.

»Nun ...« Der hagere Mann hielt mitten im Satz inne und erstarrte plötzlich. Bastian blinzelte und traute seinen Augen nicht. Eine Schlinge, wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte sich um die Kehle des Hageren gelegt und sich zu einer tödlichen Falle zusammengezogen. Er brauchte keinen Wimpernschlag, um eine Entscheidung zu treffen. Eine weitere Chance würde es nicht geben.

Er fuhr mit einer solchen Wucht herum, dass sein Angreifer überrascht nach hinten taumelte. Das Schwert des Mannes streifte Bastians Nacken, doch er spürte keinen Schmerz und griff mit der bloßen Hand nach der Waffe. Mit einer schnellen Drehung wollte er die Situation unter Kontrolle bringen, doch sein Angreifer sprang auf und erkannte zu spät das Schwert, welches ihm augenblicklich die Kehle durchtrennte.

Erstaunt drehte sich Bastian um. Auch der hagere Mann war tot. Er lag mit blau angelaufenem Gesicht auf dem Boden. In seiner Brust steckte das Messer, welches er Marie an die Kehle gehalten hatte. Marie war immer noch bewusstlos. Bastians Augen suchten in der Dunkelheit nach seinem Lebensretter und blieben an einem jugendlichen Gesicht hängen. Vor ihm stand einer der Zwillinge. Bastian machte einen großen Schritt auf den Burschen zu, stolperte jedoch in ein tiefes Loch im Boden. Offenbar hatte jemand hier eine Art Verlies ausgehoben. Verzweifelt krallte Bastian sich am Rand des Loches fest, doch der sandige Boden gab unter seinen Fingern nach. Sein Schwert krachte polternd in die Tiefe. Mühsam klammerte sich Bastian an einen Stein, seinen letzten verbliebenen Halt, fest. Er keuchte. »Helft mir!«

Zwei Fußspitzen schoben sich über den Rand. Bastian wartete, doch nichts geschah. »Verdammt! So gebt mir Eure Hand und zieht mich aus diesem Loch!«

Ein blasses Gesicht schob sich über den Abgrund und starrte mit kalten grünen Augen auf ihn hinab. Ein eisiger Schauer durchfuhr Bastian, als er erkannte, dass der Zwilling ihm gar nicht helfen wollte. Ein Fuß trat schmerzhaft auf die Hand, mit der er sich festklammerte. »Helft mir!« Bastian bemühte sich, seine Stimme nicht wie ein Flehen klingen zu lassen. Der Zwilling gab keine Antwort, sondern starrte ihn einfach nur an. Bastian spürte, wie seine Kraft nachließ. Seine Hände rutschten immer mehr ab. Staub rieselte in seine Augen. Krampfhaft hielt er sich mit den Fingerkuppen fest. Seine Zeit lief ab, er würde sich nicht mehr lange halten können. Innerlich begann er zu beten, dann verlor seine linke Hand den Halt. Kurz bevor er abstürzte, schlang sich ein Seil um seinen Arm. Eine Hand legte sich fest um seinen Unterarm und gab ihm Halt, ohne ihn aus dem Loch zu ziehen.

»Ich ziehe Euch hoch, wenn Ihr mir versprecht, mein Leben zu schonen!«

Bastian blickte erstaunt nach oben. »Verflucht, ja doch! Ich verspreche es. Jetzt zieht mich schon rauf!«

Kräftige Arme hievten ihn nach oben. Bastian sah das eiskalte Lächeln auf Augusts Gesicht und er verstand. In seinem Gehirn setzten sich die einzelnen Bilder zu einem Ganzen zusammen und plötzlich wusste er, warum der Zwilling ihm dieses Versprechen abnahm. Er trug eine schwarze Kutte. Der Hundewelpe kam ihm in den Sinn. Auf einer Lichtung im Wald hatte Bastian die Zwillinge mit einem Welpen herumtollen sehen. Jonata hatte immer von einer Gestalt in einer schwarzen Kutte am Krötschenturm gefaselt. Ob der Junge sie auf dem Gewissen hatte? Genauso, wie den Schmied? Sein Gedächtnis spulte die Geschehnisse im Kellergewölbe noch einmal ab. Der hagere Mann war mit einer Schlinge erwürgt worden. Die Schlingen fanden sich an der Leiche des toten Schmiedes, das Bettelweib hatte eine um den Hals gehabt und Tillmanns Finger waren mit einer Schlinge abgetrennt worden. Nur bei der ermordeten Jonata hatten sie keine Schlinge gefunden. Bastian rang nach Luft.

»Seid Ihr August oder Christan?«

Der Zwilling kniff die Augen zusammen. »August«

Bastian schauerte vor der Wahrheit, die da in Gestalt eines so jungen Burschen vor ihm stand.

»Wisst Ihr eigentlich, was Ihr da von mir verlangt?«

August antwortete gelassen: »Ich habe Euer Wort und Ihr verdankt mir Euer Leben.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und das Eurer Frau!«

 

 

...

 

 

Bastian Mühlenberg hatte ihn reingelegt. Er war ein sehr schlauer Mann und dafür zollte August ihm Bewunderung. Das Verlies war zugig, auch wenn es sich in einer der oberen Etagen des Juddeturms befand. Nebenan hörte er Gilig schnaufen. Im Vergleich zu den dicken Wänden waren die Türen nicht besonders stabil. Ihr Holz war so dünn, dass man jedes Wort verstehen konnte. Und so hatte August auch das Gespräch mithören können, welches Pfarrer Johannes und Bastian vor seiner Tür geführt hatten.

Sein Darm ließ eine erneute Druckwelle durch seinen Körper schießen. Trotz des Schmerzes musste August grinsen. Vorsichtig tastete er seinen After ab. Dann hockte er sich in die hinterste Ecke des Raumes und presste aus Leibeskräften. Derselbe Kerl, der ihm als Kind die Lust am Töten beibrachte, hatte ihm auch diesen Trick gezeigt. August wusste jahrelang nichts damit anzufangen, doch als das Paket mit den Goldgulden aus ihm herausflutschte, hatte er den Wert dieses Rates begriffen. Das war der letzte Teil gewesen. Zwar hatte Bastian Mühlenberg ihm den Sack mit den Goldgulden abgeluchst, aber er hatte sich vorher die Kleider mit Münzen vollgestopft und es geschafft, sie bis jetzt vor ihm zu verbergen.

Er drehte einen Goldgulden im Mondlicht vor seinem Gesicht hin und her. Dieser kleine Freund würde ihm zur Flucht verhelfen. Zwar hatte Bastian sein Versprechen gehalten und niemandem von Augusts wahrer Schuld erzählt, doch er wollte ihn trotzdem für immer im Juddeturm einsperren. Er könne keinen Mörder frei herumlaufen lassen! Wie Hohn hallten diese Worte in Augusts Kopf nach. Schließlich hatte er zwei Leben gerettet. Blieb nur noch eines übrig, welches er sühnen musste. Aber davon wollte Bastian Mühlenberg nichts hören. Nun, der würde sich noch wundern.

Schon hörte er die Schritte des Wärters auf der Treppe. Die Tür öffnete sich und ein unrasierter, stinkender Mann lugte durch den Spalt herein. August warf den Gulden hoch in die Luft, fing ihn klatschend wieder auf und lachte.

 

 

...

 

 

Die Nacht war von feuchtem Nebel durchzogen. Mondlicht spiegelte sich auf dem Wasser des Hafenbeckens, als das Handelsschiff »Johanna« sich zur Weiterfahrt bereit machte. Bastian führte die bucklige Gestalt mit der Kapuze über dem Kopf vorsichtig auf die Holzplanken des Schiffes. Der Bucklige bewegte sich wie immer erstaunlich geschmeidig für seine Behinderung. Bastian hievte ihn in den Lagerraum hinunter und flüsterte: »Nehmt die Kapuze erst ab, wenn Ihr auf dem Rhein seid. Niemand darf Euer Gesicht sehen!«

Dann gab er dem Kapitän einen Wink und sprang vom Schiff. Der Kapitän wankte leicht. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht mit dem Weinfass verbracht, das Bastian ihm als Bezahlung überlassen hatte. Pfarrer Johannes stand am Rand des Hafenbeckens und bekreuzigte sich. Der alte Mann hatte tiefe Ränder unter den Augen.

»Werden sie nach ihm suchen?«, fragte Bastian, während er das Seil vom Beckenrand löste.

Pfarrer Johannes zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Außerdem verwischen wir seine Spuren, indem wir ihn zuerst über den Rhein schicken.«

Er holte die Bibel, die er bei der Leiche des hageren Mannes gefunden hatte, hervor und strich über die Initialen, die in den Einband graviert waren.

»A.W.«

Die Buchstaben standen für Anton Wolfrath, ein ehemaliger Gefolgsmann des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen. Vor zwei Jahren war er wegen Diebstahls seines Amtes enthoben worden. Pfarrer Johannes hatte sich genau erkundigt. »Nein«, wiederholte er, »der Erzbischof wird gewiss nicht nach ihm suchen. Er wird froh sein, wenn Anton Wolfrath für immer aus seinem Leben verschwindet.« Er seufzte.

»Ich meinte Gilig. Werden die Leute nach dem Buckligen suchen?« Bastian warf das Seil einem Schiffsjungen zu und drehte sich zu Johannes um.

Dieser kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ach, Ihr meintet Gilig? Ich befürchte, ja. Die meisten Zonser wollen ihn am Galgen sehen. Keiner glaubt an seine Unschuld. Ich werde mir eine gute Erklärung für sein Verschwinden ausdenken müssen.«

Langsam trotteten die beiden zurück. Es war bitterkalt und der Wintereinbruch stand kurz bevor.

»Euer Kind wird ein Sohn des Frühlings sein!«, wechselte Pfarrer Johannes plötzlich das Thema.

»Oder eine Tochter!« Bastian strahlte bei diesen Worten über das ganze Gesicht. Marie war wohlauf. Josef Hesemann hatte sie gründlich untersucht. Ihr und dem Kind ging es bestens.

Sie schritten über den Schlossplatz und lenkten ihre Schritte in Richtung Juddeturm.

»Meint Ihr, dass es Gilig bei Bruder Anselmus gefällt?«, fragte Bastian, in Gedanken immer noch bei den Geschehnissen der letzten Stunden.

»Nun, das Kloster Brauweiler ist für seine gute Küche bekannt. Ich denke, er wird sich schnell einleben.« Pfarrer Johannes blieb vor dem Juddeturm stehen. »Ich bin sehr froh, dass Bruder Anselmus sich bereit erklärt hat, dieser verlorenen Seele zu helfen.«

Bastian nickte. »Was machen wir mit August? Ich schulde ihm das Leben von Marie und mein eigenes, aber trotzdem ist er ein Mörder. Seine Seele ist kalt.«

Johannes legte seine alte Hand auf das Treppengeländer. »Sein Bruder Christan ist ein herzensguter Mensch voller Wärme.« Er schüttelte den Kopf. »Wie können die beiden nur so unterschiedlich sein?«

»Er ist der kalte Zwilling!«, entgegnete Bastian und öffnete die Tür zu Augusts Kerkerzelle.

Ungläubig suchten seine Augen den Raum ab. Er war leer. Bastian spürte, wie der Schock seine Gedanken lähmte. Schnell zog er den Schlüssel hervor und öffnete die Nachbarzelle, in der Gilig gefangen gewesen war.

»Oh nein!« An der Wand lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Sie atmete nicht mehr. Bastian drehte sie herum und der Pfarrer bekreuzigte sich erneut. Vor ihnen lag Gilig. Sein Gesicht war blau angelaufen. Eine Schlinge schnitt tief in seinen Hals. Die Hände waren gefesselt. Neben ihm lag eine goldene Münze. Bastian nahm sie in die Hand. Ein stehender Petrus, mit dem Himmelsschlüssel in der einen und einem Buch in der anderen Hand, blickte ihn an. Ein Fetzen Papier lugte unter der Wange des Toten hervor. Pfarrer Johannes hob es auf und las vor: »Sucht nicht nach mir. Ihr habt nichts zu befürchten.«

Bastian schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. Sie hatten die Täuschung nicht bemerkt und August somit zur Flucht aus der Stadt verholfen. Er hatte sich in Giligs Kleidern und unter der Kapuze verborgen. Aber wie war er aus der Zelle entkommen? Das konnte er unmöglich alleine geschafft haben.

»Wer hatte heute Wachdienst?« Bastian war außer sich.

Pfarrer Johannes legte einen Arm auf seine Schulter und deutete mit dem Finger auf Augusts Nachricht. »Lasst es gut sein, Junge. Ich glaube ihm diese Worte und letztendlich hat er Euer Leben gerettet.«

»Aber er ist ein Mörder!« Bastian fluchte lauthals.

»Gott wird sich seiner annehmen.« Pfarrer Johannes bekreuzigte sich ein weiteres Mal.

Bastian tobte noch eine Weile und erinnerte sich plötzlich an die Nacht, in der er von Anna geträumt hatte. Er sah den weißen Gang vor sich, mit den makellos glatten Wänden und dem Boden, der wie dunkles Wasser aussah. In seiner Erinnerung tauchte ein blasses Gesicht mit grünen Augen auf. Ein gealtertes Gesicht. Wahrscheinlich hatte Pfarrer Johannes recht. Das Schicksal des Zwillings war längst besiegelt. Er, Bastian, konnte nichts daran ändern. Mit oder ohne seine Hilfe würde die Geschichte ihren vorherbestimmten Lauf nehmen.

Er kniff die Augen zusammen und versuchte, Annas Antlitz heraufzubeschwören. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als es ihm gelang. Anna! Dies war sein letzter Gedanke, bevor er den Juddeturm verließ. Er verdrängte alles andere und hielt sich ihr Gesicht vor Augen, bis er einschlief und sie in seinen Träumen lebendig wurde. Es würde keine weiteren Morde dieses Wahnsinnigen in Zons geben. Dieser Fall war beendet. Das Leben ging weiter.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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