V.
Gegenwart
Das kleine lederne Buch war mit dem roten Siegel des Geschlechts der von Spanheims verziert. Es war sehr alt und wertvoll. Er hätte es für viel Geld verkaufen können. Im Laufe der Jahre hatten etliche Antiquitätenhändler Interesse gezeigt und ihm attraktive Angebote unterbreitet, doch er würde dieses Buch niemals hergegeben. Es war sein kostbarster Besitz. Er gehörte nicht zu diesem alten Adelsgeschlecht, doch das Buch war trotzdem ein Erbstück. In der langen Linie seiner eigenen Familie wurde es von Generation zu Generation weitergegeben. Sein Vater hatte ihm das Buch am ersten Tag seines Studiums überreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er von der Existenz dieses kostbaren Schatzes nichts gewusst. Das Wissen darum, wie seine Familie an dieses Buch gelangt war, ging im Laufe der Zeit verloren. Vielleicht war es einst ein Geschenk des Grafen von Spanheim an seinen Lehnsmann gewesen oder schlicht Grabschändung. Niemand kannte die Wahrheit, doch sie war ihm ohnehin egal. Der Wert dieses Buches lag in seinem Inneren. Die mit schwarzer Tinte beschriebenen Seiten mussten über fünfhundert Jahre alt sein und bargen längst vergessenes Wissen.
Seufzend fuhr er mit den Fingern über den Ledereinband. Sein Daumen umkreiste liebevoll das Siegel. Es war eine instinktive Geste, die er immer dann ausführte, wenn er nicht mehr weiterwusste. Das Buch war sein Talisman. Schon während des Studiums hatte die bloße Berührung seinen Geist geöffnet und ihm so zu einer Idee oder einem Ausweg verholfen. Diesmal funktionierte es nicht. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Computerbildschirm. Flackernd spiegelte sich das bläuliche Licht auf seinem Gesicht. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Es war viel zu heiß und seine Poren produzierten unablässig Flüssigkeit, die seinen überhitzten Körper herunterkühlen sollte. Das Hemd klebte am Oberkörper fest, doch er nahm dies alles nicht wahr. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein seiner Königin.
Er hatte so große Hoffnungen in sie gesetzt, allerdings funktionierte sie noch immer nicht so, wie sie sollte. Die Hitze in dem kleinen muffigen Raum war mittlerweile unerträglich. Am liebsten hätte er ein Fenster geöffnet, doch es gab keines. Wie oft hatte er diesen Fehler schon bereut? Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, da er von neugierigen Blicken verschont bleiben wollte. Die mangelnde Lüftungsmöglichkeit machte diese Unterkunft zu einer wahren Hölle. Doch da musste er nun durch. Er musste seine Königin unter Kontrolle bringen. Nervös starrte er auf den Bildschirm und beobachtete sie. Was sollte er nur tun? Mechanisch tippten seine Finger auf das marmorne Schachbrett, welches mit eleganten Figuren seinen Schreibtisch zierte. Er riss die Augen vom Bildschirm los und plante den nächsten Zug. Es war eine verzwickte Situation, selbst auf dem Schachbrett. Er war ein Meister darin, die Spielzüge vorauszuplanen. Plötzlich hatte er eine Idee. Mal sehen, ob er das Spiel noch zu seinen Gunsten wenden konnte.
...
Das Telefon klingelte schrill und riss ihn aus den Gedanken. Er starrte auf die Nummer im Display und seufzte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Dr. Neuenhaus hob genervt ab. Der Anrufer stellte ihm immer wieder dieselben Fragen und er konnte sie nicht beantworten. Er lag weit hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück. Niemand hatte diese Verzögerung vorhersehen können. Mit ruhiger und kompetenter Stimme versuchte er, seinen Sponsor am anderen Ende der Leitung zu beruhigen. Lange würde er ihn nicht mehr hinhalten. Er brauchte dringend einen Durchbruch.
Seine Augen fuhren über den Bildschirm und blieben an einem Namen hängen. Saskia Heinermann war nach wie vor die Nummer eins auf seiner Liste, doch sie klagte immer noch über Nebenwirkungen. Eigentlich müsste diese Phase längst überstanden sein. Sie sollte sich weder unruhig noch sonst in irgendeiner Weise schlecht fühlen. Er machte sich langsam ernsthaft Sorgen. Sein Mittel war im Grunde die ideale Medizin für gestresste, allein erziehende Mütter wie Saskia Heinermann. Dr. Neuenhaus seufzte. Auch das Johanniskraut schien bei ihr keinerlei Wirkung zu zeigen. Vielleicht sollte er es mit einem stärkeren Mittel versuchen? Er schüttelte den Kopf. Nein, das könnte die ganze Studie zugrunde richten. Sein Blick fiel auf die Nummer zwei seiner Liste. Ihre Ergebnisse waren auch nicht schlecht. Womöglich sollte er sich doch auf eine andere Probandin konzentrieren.
...
Er beobachtete sie schon eine Zeit lang. Lachend saßen die drei jungen Frauen im neuen italienischen Eiscafé am Schlossplatz und schnatterten ununterbrochen, während sie an ihren Eiskugeln schleckten und die warmen Strahlen der Frühlingssonne hungrig in sich aufsogen. Für Ende April war das Wetter fantastisch. Er selbst war mit dem Fahrrad die ganze Strecke von Köln nach Zons gekommen, nur mit einer kurzen Hose und seinem Lieblingstrikot bekleidet. Eine große Sonnenbrille verdeckte sein Gesicht und mit dem Fahrradhelm sah er aus wie Hunderte anderer Radfahrer, die bei schönem Wetter diese Route entlangfuhren. Selbst wenn sie direkt an ihm vorbeilaufen und ihn anschauen würde, sie hätte niemals bemerkt, dass er sie beobachtete. Er tat dies schon eine ganze Weile. Verfolgte sie auf Schritt und Tritt, wie ein Schatten. Zuerst war es ungewohnt für ihn gewesen, doch mittlerweile kannte er ihren Tagesablauf. Er hatte keine Schwierigkeiten mehr, ihr zu folgen. Sie war in seinem Kopf verankert wie ein sechster Sinn und er konnte fühlen, was sie fühlte und sehen, was sie sah. Alles, was sie tat, berauschte ihn. Wenn er sie so ansah, mit ihren blonden strähnigen Haaren und dem molligen Körper, dann konnte er ihre Unschuld nahezu riechen. Doch ein unbeschriebenes Blatt war sie nicht. In ihr steckte so viel mehr, als die äußere Hülle preisgab. Niemand kannte ihr Geheimnis außer ihm.
Ein kleiner Junge stürmte an den Tisch und hüpfte aufgeregt um den Stuhl seiner Mutter herum, bis diese ihn lächelnd auf den Schoß nahm. Seine Gedanken stoppten abrupt. Die schöne Szene war vorüber. Das Kind könnte noch zu einem Problem werden. Mürrisch setzte er sich auf sein Rad und fuhr davon.
...
Saskia fühlte sich glücklich und gelöst. Sie genoss den schönen Nachmittag mit ihren Freundinnen Emily und Anna. Selbst Nils, der munter auf ihrem Schoß herumhüpfte und sich freudestrahlend über eine Kugel Schokoladeneis hermachte, hatte seit Stunden nicht gequengelt.
»Hast du keine Angst vor unerwünschten Nebenwirkungen?«
Emilys Frage brachte sie aus dem Konzept. Das Gefühl der Glückseligkeit wankte und ein großes schwarzes Loch öffnete sich plötzlich in ihrer Körpermitte. Für einen Moment drohte die Dunkelheit sie zu verschlucken. Saskia blinzelte hektisch. Das Loch verschwand und stattdessen blickte sie in die fragenden Augen ihrer Freundin.
»Nein, es ist völlig harmlos. Nur ein Nahrungsergänzungsmittel gegen Stress.«
»Aber dafür wäre doch dann keine klinische Studie unter Berücksichtigung des Arzneimittelgesetzes erforderlich?« Emily runzelte die Stirn.
»... und dann noch das viele Geld, das du dafür bekommst«, fügte Anna mit kritischer Stimme hinzu.
Saskia starrte die beiden verunsichert an. Vielleicht hatten sie recht und die Teilnahme an der Studie von Dr. Neuenhaus war keine gute Idee. Sie stotterte: »Neuenhaus nennt es Nahrungsergänzungsmittel, weil praktisch nur Vitamine und Mineralstoffe enthalten sind. Keine chemischen Zusätze. Er befolgt freiwillig die Vorgaben des Arzneimittelgesetzes und das Mittel soll auch nur in Apotheken erhältlich sein.«
Die zweifelnden Blicke von Emily und Anna ließen Saskia die Verabredung bereuen. Eigentlich hatte sie ihre Freundschaft mit Emily wieder auffrischen wollen. Pascal hatte sie vor zwei Tagen am Telefon bekniet, Emily seine Story über die Spielsucht vorzustellen. Saskia liebte ihren Stiefbruder und war fest entschlossen, ihm diesen Gefallen zu tun. Doch so, wie Emily sie in diesem Moment anblickte, hatte sie wenig Lust dazu. Emily war eine talentierte Journalistin. Ihre Artikel über historische Morde im mittelalterlichen Zons waren bei den Lesern sehr beliebt und zwischenzeitlich hatte sie es zu einer Festanstellung bei der Rheinischen Post gebracht. Jede Woche erschienen Beiträge von ihr, in denen es inzwischen nicht mehr nur um Morde im historischen Zons, sondern auch um kulturelle und wirtschaftliche Themen des Mittelalters und der Gegenwart ging.
Saskia hatte Emily im ersten Semester ihres Journalismus-Studiums kennengelernt. Sie hatten sich von der ersten Minute an verstanden und fast alle Kurse an der Uni gemeinsam belegt. Natürlich war sie nie Emilys allerbeste Freundin gewesen. Diese Rolle nahm Anna ein, die nach dem Studium Bankerin geworden war. Doch Saskia hatte Anna diese Rolle keineswegs missgönnt. Gerade zu dieser Zeit war sie schwer verliebt in Nils‘ Vater gewesen. Sie seufzte innerlich. Im ersten Semester war ihr Leben noch in Ordnung und voller Zukunftspläne, aber mit der ungeplanten Schwangerschaft hatte alles ein jähes Ende gefunden. Auch ihre Freundschaft zu Emily hatte seitdem mehr und mehr an Intensität verloren. In den letzten zwei Jahren war der Kontakt sogar monatelang abgerissen. Umso mehr hatte Saskia sich auf das Wiedersehen gefreut, doch Emilys kritische Blicke verdarben einfach alles.
»Wenn du möchtest, kann ich dir ein paar Rechercheaufträge für die Rheinische Post verschaffen.«
Emilys mitleidige Stimme verletzte Saskia plötzlich. Was bildete Emily sich nur ein? Sie konnte schon selbst für sich sorgen. Missmutig schlug sie den Blick nieder.
»Komm schon, Saskia. Sei nicht sauer auf mich.« Emily berührte Saskias Hand und legte die neueste Ausgabe der Rheinischen Post mitten auf den Tisch. »Schau dir meinen letzten Artikel an: Spiele und Rauschmittel im Mittelalter.«
Saskias Augen hafteten an der Zeitung. Sie benötigte mehrere Sekunden, um zu erfassen, was sie dort las. Emilys Stimme rückte derweil in weite Ferne und verzerrte sich wie in Zeitlupe. Saskia konnte ihr nicht mehr zuhören, denn ihr Verstand war viel zu sehr damit beschäftigt, das Foto eines Mannes mit der darüber in fetten Buchstaben platzierten Schlagzeile zu verknüpfen.
»Mitglied des Stadtrates tot in Zonser Wohnung aufgefunden«
Die Welt um Saskia herum drehte sich. Sie kannte diesen Mann. Sie hatte mit ihm geschlafen. Das Bild der schwimmenden Meerjungfrau in einem unendlichen Wellenmeer zog sie in einen Strudel der Verzweiflung. Schlagartig füllte sich die Erinnerungslücke von jener Nacht. Sie sah Unmengen an Wasser, in denen ihre Eroberung ertrunken war. Plötzlich hörte sie seine Schreie und spürte die eisige Kälte des Todes, die sie dazu gebracht hatte, sein Gesicht nach unten zu drücken. Ihr wurde übel. Wankend erhob sie sich.
Der Eisbecher kippte um. Nils fing an zu weinen. Emily und Anna starrten sie erschrocken an. Wie in Trance verließ Saskia das Café, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mechanisch lief sie die Schloßstraße entlang, getrieben von den Bildern, die unaufhörlich vor ihren Augen auftauchten. Das durfte nicht wahr sein. Sie hatte nichts mit seinem Tod zu tun! Oder doch?
Ein stechender Schmerz ließ sie anhalten. »Passen Sie doch auf!« Saskias Stimme klang panisch. Ihr Knie schmerzte vom Aufprall eines Fahrrads, dem sie nicht rechtzeitig ausgewichen war.
»Was machst du denn hier?«
Pascals warme Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Verwundert blickte sie ihren Stiefbruder an, der in voller Fahrradmontur vor ihr stand. Dann ließ sie sich zitternd in seine Arme fallen. »Mir ist so übel«, schluchzte sie, während er ihr sanft über das Haar strich.
»Komm, ich bringe dich nach Hause«, flüsterte er.
...
Kommissar Oliver Bergmann saß zurückgelehnt mit den Beinen auf dem Schreibtisch in seinem Bürostuhl und genoss mit geschlossenen Augen die glitzernden Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster auf seine Nasenspitze fielen. Seine Hand tastete blind nach einer Tasse, die herrlichen Kaffeeduft verströmte. Er hatte sie ganz dicht an die Kante des Schreibtisches geschoben, damit er sich nicht vorbeugen musste, um sie in die Hand zu nehmen. Seine Finger arbeiteten sich langsam an der Schreibtischkante entlang. Er konnte es kaum erwarten, den heißen Kaffee endlich auf seinen Lippen zu spüren. Ohne die Augen zu öffnen, glitt er weiter über das polierte Holz der Schreibtischplatte. Doch statt des ersehnten Porzellans landeten seine Fingerkuppen auf rauem Papier. Abrupt öffnete er die Augen und blickte überrascht in das Gesicht seines Partners Klaus. Dieser grinste ihn höhnisch an.
»Erwischt!«
Oliver fuhr hoch und verzog das Gesicht. »Du gönnst mir aber auch nicht die kleinste Pause«, schmollte er und schlug Klaus die Zeitung aus der Hand. Dann griff er gierig nach der Kaffeetasse und gönnte sich einen kräftigen Schluck. Wie von selbst blieben seine Augen an der ersten Schlagzeile oder vielmehr dem Foto von Emily hängen. Eine Welle des Stolzes durchflutete ihn. Sie hatte es mit ihrer neuen Reportage auf die Titelseite des Regionalteils geschafft. Zärtlich liebkoste er mit den Augen ihr Gesicht. Es war ein besonders schönes Foto, welches sie vor der alten Stadtmauer in Zons zeigte. Oliver überflog die Zeilen des Artikels, obwohl er den Inhalt längst kannte. Die Story drehte sich um mittelalterliche Drogen. Emily hatte wochenlang recherchiert und Oliver war eine Weile enttäuscht gewesen, dass sie während dieser Phase nur wenig Zeit für ihn übrig hatte.
Sein Blick wanderte hinab und blieb an einem anderen Foto hängen. Das gewinnende Lächeln des Stadtrates Torsten Schniewald versetzte ihm einen Stich ins Herz. Das Leben konnte so schnell vorüber sein. Schniewald wurde bereits in jungen Jahren zum Fraktionsvorsitzenden gewählt und hatte eine steile politische Karriere hingelegt. Jetzt war er tot. Oliver hatte nicht lange gebraucht, um die Identität des Mordopfers herauszufinden. Direkt an der nächsten Straßenecke hatte ein Plakat aus dem letzten Wahlkampf ihm Klarheit verschafft. Im Geiste verglich er den Leichenfund mit dem Foto. Die Ähnlichkeiten waren verschwindend gering. Jedes Leben war aus den halboffenen, toten Augen der Leiche ausgelöscht, genau wie das strahlende Lächeln. Ein Laie hätte mit der Identifizierung sicherlich Schwierigkeiten gehabt, doch Olivers Augen waren geschult. Die Erfahrung machte es ihm möglich, sich das schlaffe, seelenlose Gesicht eines Leichnams als lebendigen Menschen vorzustellen.
Interessiert überflog er die Pressemitteilung und war froh, dass dort keine besonderen Einzelheiten erwähnt wurden. Für die Öffentlichkeit war die Todesursache von Torsten Schniewald bisher als »unbekannt« angegeben worden. Niemand sollte erfahren, dass er ertränkt wurde, bevor die Polizei den Tathergang eindeutig nachvollziehen konnte. Es gab etliche Ungereimtheiten, die Oliver sich bisher nicht erklären konnte.
Torsten Schniewald war als Stadtrat und als vielversprechender Nachfolgekandidat für den kurz vor der Rente stehenden Bürgermeister ein bekanntes Gesicht in der Umgebung, trotzdem hatten sie für den fraglichen Abend bisher keinen einzigen Zeugen gefunden, der das Opfer noch lebend gesehen hatte. Die Spur verlor sich bereits am Nachmittag. Schniewald hatte einen Vortrag auf einem politischen Symposium in Berlin gehalten und war dann mit dem Flieger nach Düsseldorf zurückgekehrt. Die Fluggesellschaft hatte mittlerweile die Check-in- und Boardingdaten überprüft. Schniewald war definitiv an Bord der Maschine gewesen, doch seitdem hatte niemand mehr Kontakt zu ihm gehabt. Zumindest hatte Oliver bisher keinen Zeugen auftreiben können. Es war völlig unklar, wie er vom Flughafen Düsseldorf bis nach Hause gelangt war und ob es auf dem Weg dorthin Zwischenstationen gegeben hatte.
Oliver hatte innerhalb eines Tages sämtliche Taxigesellschaften überprüft. Ein Fahrgast vom Flughafen zu Schniewalds Wohnadresse fand sich genauso wenig wie eine Fahrt zu Schniewalds Büro. Auch anhand eines Fotos konnte sich keiner der Taxifahrer an Schniewald erinnern. Die Überwachungskameras der S-Bahn waren ebenfalls ergebnislos kontrolliert worden, ebenso wie sein Auto, das seit Tagen unberührt in der Tiefgarage seiner Wohnung stand. Alles sprach dafür, dass Schniewald nach der Ankunft am Düsseldorfer Flughafen einen unbekannten Ort aufgesucht hatte oder dort auf jemanden getroffen war, der mit ihm in seine Wohnung fuhr.
Doch wer sollte dieser jemand sein? Und warum wurde das Opfer erst betäubt und dann in der Badewanne ertränkt? Und was noch viel merkwürdiger war, warum hatte der Mörder das Opfer zurück auf das Bett gelegt? Verzweifelt rieb Oliver sich die Stirn. In diesem Fall hatte er definitiv zu viele Fragen und viel zu wenige Antworten. Die Stimme seines Partners holte ihn aus seinem Gedankenkarussell.
»Was hast du gesagt?«
»Ich muss mich heute Abend einmal entspannen und möchte wissen, ob du mit mir in die Kneipe gehst?«, Klaus klang genervt.
In Olivers Gehirn spukte Klaus‘ Frage herum. Entspannung. Das war keine schlechte Idee. Was, wenn Torsten Schniewald sich nach dem anstrengenden Tag in Berlin auch einfach nur hatte entspannen wollen und ebenfalls in eine Kneipe gefahren war? Dies würde erklären, warum kein Taxifahrer die abgefragten Adressen angefahren hatte. Oliver spürte ein vertrautes Kribbeln auf seiner Haut. Intuitiv nahm er eine unsichtbare Fährte auf. Sein Jagdinstinkt war geweckt.
»Lass uns die Zeugenbefragungen auf alle Kneipen in der Umgebung von Schniewalds Wohnort ausdehnen.« Oliver öffnete die Suchmaschine seines Browsers und tippte die passenden Stichwörter ein. Vielleicht gehörte ihr Mordopfer ja auch zu den Männern, die sich am besten bei einem kühlen Bier in ihrer Stammkneipe entspannen konnten.
...
Saskias Kopf hämmerte wie verrückt. Sie hatte das Schlafzimmer abgedunkelt, damit das grelle Tageslicht ihren Migräneanfall nicht noch weiter verschlimmerte. Pascal kümmerte sich im Nebenzimmer um Nils. Sie konnte sich eine Auszeit nehmen und entspannen. Saskia kannte diese Migräneattacken, die immer wieder nach ihren Angstzuständen auftauchten. Seit Jahren wurde sie von ihnen geplagt. Sie spürte, wie sich der Druck auf ihren Kopf erhöhte, wenn sie sich tiefer ins Kissen fallen ließ. Deshalb richtete sie sich vorsichtig auf. Immer noch kreisten die Bilder vom Stadtrat Torsten Schniewald wild in ihrem Inneren herum. Sie musste diesen Stress loswerden. Rasch nahm sie ihr Tagebuch aus dem Beistelltisch des Bettes und knipste ein kleines Licht an. Das Tagebuch half ihr, belastende Gedanken loszulassen. Alles, was sie dort hineinschrieb, konnte sie aus ihrem Kopf löschen. Auf den Papierseiten verweilten ihre Gedanken, ohne ihren Verstand zu belasten.
Hastig schlug sie das Buch auf und begann zu schreiben:
»Ich habe heute ein Bild in der Tageszeitung gesehen, das mich völlig aus der Fassung gebracht hat. Dort war das Foto des Mannes abgebildet, mit dem ich erst vor kurzem im Bett gelandet bin. Bisher kannte ich nur seinen Vornamen. Torsten. Das hat sich jetzt geändert. Ich weiß inzwischen auch, welchen Beruf er ausübt. Keine Ahnung, warum er in meiner Kneipe aufgetaucht ist. So schicke Typen lassen sich dort eigentlich nie blicken. Es hätte etwas mit uns werden können. Der Sex war unbeschreiblich gut. Doch jetzt ist er tot! Ich stehe total unter Schock! Das Schlimme an der Sache ist, dass ich ahne, wie es passiert ist. Ich glaube, ich habe ihn sterben sehen. Er ist vor meinen Augen ertrunken. Zumindest glaube ich das. Ich hatte an diesem Abend einiges getrunken. Nur bruchstückhaft tauchen die Erinnerungsfetzen in meinem Kopf auf. Was ist nur passiert? Ich habe ihn sterben sehen. Heißt das, ich habe ihn umgebracht?«
Saskia ließ den Kugelschreiber fallen und weinte. Sie konnte sich einfach nicht vollständig erinnern und das machte sie völlig fertig. Verzweifelt versuchte sie, die verlorene Nacht aus ihrem Gedächtnis hervorzuholen, doch der Film endete in seinem Schlafzimmer und fing dann in ihrem eigenen Bett wieder an. Dazwischen befand sich ein schwarzes Loch, in das sie nicht hineinblicken konnte. Es war mehr ein Gefühl als das konkrete Wissen, dass Torsten Schniewald ertrunken war. Saskia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Blick blieb an der Meerjungfrau auf dem Unterarm hängen. Die Jungfrau lächelte sie freundlich an. Eine feine rote Linie verlief vom Hinterkopf der Figur hinauf zu Saskias Handfläche. Verdutzt fuhr sie mit der anderen Hand darüber. Rechts und links von der Stelle entdeckte sie weitere blutverkrustete Linien. Das sind Kratzspuren, fuhr es ihr durch den Kopf. Warum zum Teufel hatte sie Kratzspuren an ihren Armen? Im Bruchteil einer Sekunde flog das Bild eines Ertrinkenden an ihr vorbei, der sich verzweifelt an ihren Armen festkrallte. Saskia schluchzte laut und presste die Handflächen gegen beide Schläfen.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Die Stimme ihres Stiefbruders holte sie augenblicklich in die Realität zurück.
»Du siehst schlimm aus. Soll ich einen Arzt rufen?«
Saskia schüttelte den Kopf. »Nein, danke Pascal. Es ist nur die Migräne.« Ein erneuter Tränenausbruch hinderte sie am Weitersprechen. Pascal stand unschlüssig im Türrahmen. Nach einer Weile sagte er: »Ich mache dir einen heißen Tee. Der wird dich beruhigen.«
Er schloss leise die Tür und Saskia war wieder alleine. Sie fixierte die Augen auf ein offenes Bohrloch an der Decke neben der Schlafzimmerlampe. Dort hing früher eine andere Lampe. Saskia hatte es nie geschafft, das Loch zu verschließen. Irgendwie beruhigte es sie, dass nicht alle Dinge perfekt waren. Das Loch war ein Makel, aber es beeinträchtigte keinesfalls die Statik der Decke. Ihr unstetes Leben und die frühe Schwangerschaft waren ebenfalls nicht perfekt, aber trotzdem war sie eine Frau. Immerhin war es ihr gelungen, ein Mitglied des Stadtrates ins Bett zu kriegen. Und das trotz ihrer etwas molligen Figur. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern über die Kratzspuren an ihrem Unterarm. Vielleicht hatte der Typ versucht, sie zu vergewaltigen, und sie hatte sich gewehrt? Wahrscheinlich war das Erlebnis so traumatisch gewesen, dass sie es einfach verdrängt hatte. Es könnte so eine Art Selbstschutzmechanismus sein, der ihren Geist vor dem Absturz in einen ewigen Abgrund bewahrte.
Die Schlafzimmertür öffnete sich leise und Pascal schlurfte mit einer Tasse dampfendem Tee hinein. Auch wenn die heruntergelassenen Rollläden das helle Frühlingslicht aussperrten, wusste Saskia, dass es nicht die richtige Jahreszeit für einen heißen Tee war. Es war viel zu warm. Trotzdem nahm sie Pascal das Getränk dankbar ab. Es war seine fürsorgliche Geste, die sie rührte.
»Sag mal, hast du schon mit Emily gesprochen?« Pascals Stimme schnurrte wie die eines Kätzchens. Seine Miene jedoch verriet die Ungeduld, die sich hinter seiner Frage versteckte. Saskia seufzte. Jetzt fing er schon wieder mit diesem Thema an.
»Ich weiß, es geht dir nicht so gut. Aber ich brauche langsam wirklich dringend Geld.« Pascal hatte sich auf die Bettkante gesetzt und streichelte beruhigend über ihre Arme.
»Ich war heute mit Emily und Anna im Café verabredet, aber dann wurde mir plötzlich schlecht. Es tut mir leid, Pascal.« Saskia schlürfte vorsichtig den heißen Tee. Pascals Miene verfinsterte sich für einen flüchtigen Moment so sehr, dass Saskia sich die Zunge verbrannte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte sein Gesicht wieder den sanftmütigen Ausdruck angenommen, den sie an ihm so sehr liebte. Sie nahm noch einen Schluck Tee. Diesmal pustete sie jedoch so lange auf die dampfende Flüssigkeit, bis diese trinkbar war. Warum war Pascal nur eine so labile Persönlichkeit? Sie hatte ihm bereits mehr als genug Geld geliehen. Geld, das sie eigentlich für Nils hatte aufsparen wollen. Sie wollte gar nicht wissen, welche Art von Menschen Pascal wegen seiner Spielsucht im Nacken saßen.
»Vielleicht solltest du zur Polizei gehen?«
Pascal sog scharf Luft ein: »Warum sollte ich das tun?«
»Die können dir sicher helfen. Irgendjemand muss doch hinter dir her sein, dass du so unter Druck stehst?«
Pascal schüttelte den Kopf. »Hör mal, Saskia. Ich habe Verpflichtungen. Ich muss die Miete bezahlen, die Kreditrate fürs Auto und so weiter. Mir sitzt niemand im Nacken. Ich wollte doch nur, dass du Emily von meinem Artikel erzählst.« Seine Stimme klang ehrlich zerknirscht.
»Ich rufe sie an, sobald es mir besser geht, und dann frage ich sie. Einverstanden?«
»Oder du bittest Vater um einen Vorschuss.« Pascals Augen hypnotisierten sie förmlich. Mit diesem Vorschlag hatte Saskia nicht gerechnet. Alleine der Gedanke an ihren Vater verstärkte die Migräne augenblicklich. Seit sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, wollte er nichts mehr von ihr wissen. Ab und zu landete ein unerwarteter Geldbetrag auf ihrem Konto. Keine großen Summen, aber besser als nichts. Ansonsten gab es seit Nils‘ Geburt kaum noch Kontakt. Den Wutausbruch ihres Vaters, als er von der Schwangerschaft erfuhr, würde sie niemals vergessen. In ihrem ganzen Leben hatte sie nicht einmal geahnt, dass er so laut schreien konnte. Saskia hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gesponnen, als ein schrilles Summen den Druck in ihrem Kopf verstärkte. Ohne zu denken, ließ sie die Teetasse auf die Bettdecke fallen und presste beide Hände fest an die Schläfen. Das heiße Getränk fraß sich augenblicklich durch die dünne Decke und verbrannte die zarte Haut ihrer Oberschenkel. Der Schmerz tauchte die Welt um sie herum in ein rotes Gewand. Wie von Sinnen sprang sie auf und lief blindlings aus der Wohnung. Sie ignorierte Pascals Rufe. Sie achtete nicht auf Nils. Sie rannte einfach um ihr Leben.
Fliegende Dämonen verfolgten sie und beinahe wäre sie die Treppe hinuntergestürzt. Doch Saskia ließ sich nicht beirren. Sie lief weiter. Die Angst beflügelte sie und verlieh ihr gigantische Kräfte. Sie blickte sich um und visierte ihre gehörnten Verfolger an, die wie überdimensionale Schlangen die Treppenstufen hinabglitten. Sie hatte keine Ahnung, was das für Geschöpfe waren und wo sie herkamen. Das Gebrüll und die glühendroten Augen ließen allerdings keinen Zweifel an ihren Absichten. War sie in der Hölle gelandet? Sie wusste es nicht und ihr blieb auch keine Zeit zum Nachdenken. Sie rannte hinaus auf die Straße und stieß eine Frau mit Kinderwagen beiseite. Sie wunderte sich darüber, dass die Frau ihren Verfolgern keinerlei Beachtung schenkte und ihr stattdessen die übelsten Schimpfwörter an den Kopf warf. Sie stolperte, fing sich rechtzeitig und raste, ohne auf den Verkehr zu achten, über die Straße. Reifen quietschten. Autos schlitterten kreuz und quer, doch Saskia lief weiter. Ein Wagen bewegte sich auf sie zu, aber sie wich rechtzeitig aus. Ein zweites Fahrzeug näherte sich hupend. Ein Mann stand ihr im Weg. Saskia prallte gegen ihn, riss ihn herum und stieß sich anschließend an ihm ab. Mit knapper Not entging sie dem tödlichen Aufprall und landete auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Der laute Knall ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Geschockt blickte Saskia sich um. Eine Blutlache breitete sich auf der Straße aus. Mitten darin lag der Mann, der ihr gerade noch im Weg stand. Seine Augen starrten leer in den wolkenlosen Frühlingshimmel. Sein Mund war zu einem Schrei verzerrt. Das Bild brannte sich in ihr Gedächtnis, doch ihr blieb keine Zeit zu helfen. Die Verfolger waren dicht hinter ihr. Im Augenwinkel nahm sie eine große schwarze Kutsche wahr. Ein schwarzgekleideter Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen, peitschte auf zwei riesige Pferde ein, deren Hufe auf dem Kopf des ohnehin schon toten Mannes landeten. Saskias Magen drehte sich um. Sie zwang sich, weiterzulaufen. Schon spürte sie den heißen Atem der Dämonen im Nacken. Der Himmel über ihr war jetzt blutrot angelaufen. Schwarze Wolken verhüllten das Licht. Saskia rannte weiter, hinein in einen dunklen Tunnel, der sie plötzlich in Stille einhüllte. Ihre Füße traten ins Leere. Sie stürzte hinab in den Schlund der Hölle und verlor auf der Stelle das Bewusstsein.
...
Seine Königin marschierte unerbittlich über die Schachfelder. Nachdem er sie fast verloren hatte, rächte sie sich jetzt mit gnadenloser Härte. Die gegnerischen Bauern zählte er nicht. Es war ihm egal, wie viele von ihnen die Königin erledigte. Ein Turm war schon gefallen und jetzt gerade eroberte sie das weiße Pferd. Elegant schob sie sich diagonal über das Schachbrett. Er liebte dieses Spiel. Jeder Schachzug endete früher oder später tödlich. Mit einem lauten Knall schlug das Pferd auf dem marmornen Spielbrett auf. Die schwarze Königin nahm den Platz ein. Endlich hatte die Partie an Fahrt aufgenommen. Im Geiste ging er die möglichen Spielzüge durch. Egal, für welche Variante er sich entschied, jeder Zug würde gnadenlos auf das unausweichliche Ende zuführen. Was für ein grandioses Finale!
Er lächelte. Plötzlich müde geworden, zog er sein Fahrradtrikot aus. Es war völlig durchgeschwitzt. Die Haut auf seinem Oberkörper war nass und die Brusthaare klebten wie Spinnenbeine daran. Er war so in sein Spiel vertieft gewesen, dass es ihm erst jetzt auffiel. Egal. Es war ein warmer Tag und er konnte sich nicht erkälten. Pfeifend lief er ins Bad und drehte den Wasserhahn der Dusche auf. Heute hatte er große Fortschritte gemacht.