XII.
Gegenwart
Grüne Augen in einem blassen Gesicht bannten Emilys Blick, während sie versuchte, sich auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Ein großer Stapel von Kopien lag auf seinem Schreibtisch. Anna hatte gemeinsam mit Emily das halbe Stadtarchiv auf den Kopf gestellt. Bastian Mühlenberg war vor über fünfhundert Jahren, bei der Suche nach dem Mörder des Zonser Schmiedes, auf eine Münzfälscherbande gestoßen. Er hatte, wie bei jedem Mord, den er analysierte, Notizen angefertigt. Leider waren sie diesmal nicht ganz so umfangreich wie bei vorangegangenen Serienmorden. Erstaunlicherweise hatte er große Teile seiner Aufzeichnungen unkenntlich gemacht. Dicke Tintenkleckse und Linien verwehrten dem Leser den Blick auf seine Gedanken. Es war, als wollte er im Nachhinein seine Geschichte geheim halten. Selbst Emilys Freundin Anna konnte sich diesmal keinen Reim darauf machen. Wenigstens waren die Taten selbst und die aufgefundenen Opfer relativ detailliert beschrieben. Emily war gespannt, ob Professor Morgenstern damit etwas anfangen konnte.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
Der Satz drang nur langsam zu ihr durch. Emily brauchte einige Sekunden, um den Sinn zu verstehen und ihre Gedanken zu ordnen. »Ja, natürlich.« Sie zwinkerte ein paar Mal. »Ich muss mich entschuldigen. Ich kann einfach nicht glauben, dass Adrian Helmhold so gefährlich ist, wie Sie ihn geschildert haben.«
Professor Morgenstern zog das Foto zu sich heran und betrachtete es. »Sein Äußeres scheint Sie ja sehr zu faszinieren.« Er blickte sie durchdringend an. Emily schlug die Augen nieder. Der Professor machte sie auf eine unheimliche Art nervös. Hinter seinen Augen verbargen sich Geheimnisse. Dessen war sie sich plötzlich ganz sicher.
»Ich finde, er sieht so unschuldig aus. In seinem Gesicht kann man keine Falten erkennen, die sich sonst in die Haut eingraben. Ich denke da an die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen oder heruntergezogene Mundwinkel.«
Professor Morgenstern grinste sie an und legte eine Hand auf ihren Unterarm. Kaum merklich zuckte Emily zusammen. Seine Berührung war wie ein Stromschlag. Er löste die rote Alarmlampe in ihrem Inneren aus. Sie wünschte sich, dass Anna bei ihr wäre. Doch die musste heute arbeiten.
»Worüber wollen wir uns unterhalten? Über Adrian Helmhold oder über einen historischen Psychopathen?« Professor Morgenstern machte eine Pause und nahm seine Hand betont langsam von ihrem Unterarm. Emily kam sich vor wie in einem Verhör. Ihre Gefühle schwankten zwischen Unbehagen und Neugier.
»Ich sollte mich wirklich mehr konzentrieren, nicht wahr?« Sie versuchte, dem Blick des Professors standzuhalten. »Denken Sie, dass der Schmied, Matthias Honrath, von einem Psychopathen ermordet wurde?«
Professor Morgenstern blätterte durch die Unterlagen. »Ich denke, dass zumindest zwei der hier beschriebenen Fälle von ein und demselben Täter ausgeführt wurden.«
Emilys ganzer Körper spannte sich merklich an. »Sie meinen das verbrannte Bettelweib und den Schmied?«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine die abgetrennten Finger des Knaben Tilmann und den Schmied.« Er breitete die Blätter vor ihr aus.
»Sehen Sie hier. Unser Täter beginnt mit Kleinigkeiten. Vor dem Krötschenturm wurden immer wieder Tierreste gefunden. Kurze Zeit darauf passierte das Unglück mit den Fingern des Knaben und dann haben wir unsere erste Leiche. Das ist ein typisches Muster. Der Täter entwickelt seine grausamen Fantasien und die Methoden, um diese zu befriedigen, immer weiter. Ein Psychopath liebt Kontrolle und Macht. Er tötet seine Opfer meist nicht sofort, weil er sie kontrollieren will. Er fügt ihnen Verletzungen zu, die zunächst nur Schmerzen bereiten, jedoch nicht lebensgefährlich sind. Die abgetrennten Finger sind für mich ein typisches Zeichen. Auch die Leiche des Schmiedes wies verschiedene Verletzungen auf. Er hatte Würgemale am Körper, war zur besseren Kontrolle gefesselt und die Leiche wies diverse Schnittwunden auf.«
Er blätterte weiter in den Unterlagen. »Ob das verbrannte Bettelweib demselben Täter zum Opfer fiel, weiß ich nicht. Das Einzige, was darauf hindeutet, sind die vielen Hundewelpen, die in der verbrannten Hütte gefunden wurden. Dies spricht wiederum für ein psychopathisches Profil. Ich könnte schwören, dass er die Tiere zuerst getötet hat, um seinem Opfer die größtmögliche Angst einzujagen und um ihm zu zeigen, dass er die Situation vollständig unter Kontrolle hat. Je länger ich nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass es sich um einen einzigen Täter gehandelt hat. Wissen Sie denn, wer es war?«
Emily schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein, diese Unterlagen hier sind alles, was ich gefunden habe. Aus ihnen geht nur hervor, dass ein Buckliger namens Gilig Ückerhoven im Juddeturm gelandet ist.«
Professor Morgenstern blätterte weiter. »Nun, der Name ist letztendlich unwichtig. Ich denke, Sie können diese Morde als Beleg für das Vorkommen von psychopathischen Mördern im Mittelalter ruhig verwenden und auf mein Gutachten verweisen.« Er lächelte einnehmend. »Oh, was sind das hier für Münzen?«
Er hielt Emily eine farbige Kopie mit Gold- und Silbergulden vor die Nase. Sie winkte ab. »Das sind die Fälschungen, die damals in Zons angefertigt wurden. Der Schmied war daran beteiligt.«
Professor Morgenstern war fasziniert. »Sehr interessante Arbeiten. Sie dürften heute viel Geld wert sein. Diese hier kommt mir bekannt vor.« Er rieb sich das Kinn. Irgendwo hatte er diese Goldmünze schon einmal gesehen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wo das war und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nun gut, ich hoffe, ich habe Ihnen fürs Erste weitergeholfen. Wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie gerne wieder!« Er grinste und begleitete Emily, die rasch die Unterlagen zu einem Haufen stapelte und anschließend in ihrem Rucksack verschwinden ließ, zu seiner Bürotür.
...
Das Handy von Kommissar Oliver Bergmann klingelte schrill. Er hatte gerade die Kinderwunschklinik der Universität zu Köln verlassen und war auf dem Weg zu seinem Partner Klaus. Der Name im Display ließ ihn erstarren. Hans Steuermark. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sein Chef ihn um diese Tageszeit anrief. Sicher war sein Fehlen in Frankfurt an der Oder schon aufgefallen und jetzt wollte Steuermark ihn endgültig suspendieren. Olivers Herz raste, während das Telefon immer weiter klingelte. Dann gab er sich einen Ruck und nahm ab.
»Bergmann! Gott sei Dank! Ich dachte schon, Sie stecken im Funkloch. Ich habe gute Neuigkeiten für Sie. Ab morgen beginnt Ihr Dienst wieder bei mir in Neuss.«
Oliver schluckte ungläubig. »Sind Sie sich sicher?«
»Sie haben Mist gebaut, das ist gar keine Frage. Und wenn Sie das noch einmal tun, dann versetze ich Sie zurück in den Streifendienst. Aber wir haben es hier mit einem gefährlichen Serientäter zu tun und ich kann Ihre Kollegin Petra Ludwig nicht ganz alleine auf diesen Fall ansetzen. Der Polizeidirektor persönlich hat mir grünes Licht gegeben. Das Untersuchungsverfahren wird vermutlich eingestellt. Also packen Sie und kommen Sie auf dem schnellsten Weg zurück ins Revier!«
»Und was ist mit meinem Partner?«
»Den bringen Sie mit. Für ihn gilt das Gleiche!«
Oliver traute seinen Ohren nicht. Sie waren gerettet. Alles würde wieder gut werden. Emily würde sich wahnsinnig freuen. Er holte tief Luft und sagte: »Um ganz offen zu Ihnen zu sein, ich befinde mich gerade in Köln und könnte bereits in einer Stunde wieder in Neuss sein.« Steuermark schien sich über Olivers plötzlichen Ortswechsel nicht zu wundern. Zumindest fragte er nicht weiter nach. »Also gut, Bergmann. Dann in einer Stunde in meinem Büro!« Es klickte in der Leitung und das Gespräch war beendet.
Oliver setzte sich auf die nächste Parkbank. Diese unerwartete Wendung musste er erst einmal verkraften. Er spürte, wie die Endorphine durch seine Blutbahn rasten und ihm fast schwarz vor Augen wurde. Eine riesige Last fiel von seinen Schultern. Er musste unbedingt Emily anrufen. Er hatte sie so vermisst! Seine Finger drückten auf die Kurzwahltaste seines Handys. Die Mailbox meldete sich und Oliver legte ohne eine Nachricht zu hinterlassen auf. Er wollte unbedingt mit ihr direkt sprechen. Sie war so wütend über seine Versetzung gewesen, dass Oliver sich echte Sorgen über den Fortbestand ihrer Beziehung gemacht hatte. Doch jetzt würde alles wieder in Ordnung kommen. Er probierte es noch einmal, hatte aber keinen Erfolg.
...
Er war nicht ihr Mann! Das hatte sie im Urin. Petra Ludwig beäugte ihr Gegenüber. Ronny Hammerschmidt war ein spießiger Langweiler. Er sprach durch die Nase und hatte eine unnatürlich hohe Stimme. Für einen Moment kam ihr der Gedanke, ob er und seine Frau eine künstliche Befruchtung hatten vornehmen lassen, weil er keinen Sex mit ihr wollte.
Petra ärgerte sich innerlich über die vermutlich verschwendete Zeit. Sie hatte Stunden damit zugebracht, seine Aufenthaltsorte der letzten Jahre mit Fundorten von Leichen abzugleichen. Ihre Suche ergab keinen Treffer. Bis auf seinen Aufenthalt in St. Paul vor einem Jahr gab es keinen weiteren Vorfall, mit dem man Ronny Hammerschmidt in Verbindung bringen konnte. Jetzt, wo er leibhaftig vor ihr saß, wusste sie auch warum. Dieser Mann war kein Mörder!
Er erzählte ihr jetzt seit über einer Stunde, wie glücklich er mit seiner Frau und den Zwillingen war. Jeden seiner Auslandsaufenthalte führte er bis ins kleinste Detail aus. Dabei vergaß er nicht einmal, den Trennungsschmerz zu erwähnen, der ihn jedes Mal heimsuchte, wenn er ohne seine Frau unterwegs war. Gelangweilt starrte Petra auf ihr Vernehmungsprotokoll. Noch zwei Fragen, dann war sie erlöst.
Die Tür zum Vernehmungsraum öffnete sich. Verdutzt drehte sich Petra um. Im Türrahmen stand Oliver Bergmann. Sie zwinkerte zweimal, um sicherzugehen, dass sie keine Halluzinationen hatte - aber er war es leibhaftig.
»Entschuldigen Sie mich für einen Moment«, unterbrach sie Ronny Hammerschmidt, der gerade ausführlich von seinem letzten USA-Besuch berichtete. Sie drückte Oliver aus der Tür hinaus in den Flur. »Wie sind Sie so schnell hierhergekommen?« Erstaunt beobachtete sie, wie er rot anlief. Sie hatte ihn cooler in Erinnerung.
»Ich war schon längst zurück, als der Anruf von Steuermark mich erreichte.« Er verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern.
Petra grinste. Also war er doch immer noch der Alte, stellte sie beruhigt fest.
»Hören Sie, ich weiß, dass Sie mich für eine überkandidelte Zicke halten, die unaufhörlich an Ihrem Stuhl sägt und Ihren Partner auf dem Gewissen hat. Aber es würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir zusammen an diesem Fall arbeiten könnten.«
Oliver schüttelte sichtlich bestürzt den Kopf. »Nein, das tue ich nicht! Wirklich nicht!« Zur Bekräftigung hielt er ihr seine Hand hin. »Als Erstes sollten wir uns auf das Du einigen! Ich bin Oliver.«
Petra schlug ein. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. In den letzten Tagen fühlte sie sich so überfordert und von ihren männlichen Kollegen ignoriert, dass sie wirklich froh war, in die ehrlichen Augen von Kommissar Oliver Bergmann zu blicken. Es gab doch jemanden, der freiwillig mit ihr zusammenarbeiten wollte.
»Wie weit bist du mit dem Verhör?«, fragte Oliver, um diese peinliche Situation zu beenden. Er hatte Petra immer für knallhart gehalten. Dass sie sich so freute, mit ihm zusammenzuarbeiten, berührte ihn und gleichzeitig war es ihm irgendwie unangenehm.
»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er es nicht war.«
»Aber er war der letzte Freier von Sophia Koslow. Hast du schon mal nach seinen Besuchen bei ihr gefragt?«
Petra lief rot an. »Nein, das hatte ich ganz vergessen.«
»Macht nichts, das habe ich herausgefunden, bevor du den Fall übernommen hast. Vielleicht hat er einfach nur ausgefallene Sexfantasien, die er bloß bei einer Prostituierten ausleben konnte.«
Petra schürzte die Lippen. »Er kommt mir jedenfalls merkwürdig vor. Dass er bei Sophia Koslow war, spricht für sexuelle Sonderwünsche, aber ich halte ihn trotzdem nicht für unseren Mann.« Petra machte eine Pause und fügte dann hinzu. »Obwohl er von seiner körperlichen Statur her schon durch einen Lüftungsschacht passen würde.«
Oliver zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Petra erklärte ihm, dass der Mörder von Professor Neuhaus durch den Lüftungsschacht in das Büro eingedrungen war, um den Überwachungskameras zu entgehen. Es musste sich bei dem Täter also um eine sehr schlanke Person, vielleicht sogar eine Frau handeln.
»Wusstest du, dass Ronny Hammerschmidt seine Kinder mit Hilfe künstlicher Befruchtung gezeugt hat?« Oliver wollte nachlegen, doch erstaunt stellte er fest, dass Petra nickte.
»Ja, Herr Kullmann von der Klinikverwaltung hat es mir gesagt. Er hat mir direkt einen Computerausdruck der Behandlungen mitgegeben. Ich habe mich auch erkundigt, ob die Kinder gesund sind. Das wäre ja ein echtes Tatmotiv, wenn etwas schief gegangen wäre. Aber die Zwillinge sind wohlauf. Das habe ich extra recherchiert. Die Behandlung verlief bestens und nach heutigem Kenntnisstand wurde auch niemand vertauscht. Uns fehlt daher immer noch das Motiv.«
Oliver war schwer beeindruckt. Wie mühsam hatte er diese Information recherchieren müssen, die sie da einfach so herausplapperte. Er lächelte.
»In Ordnung, dann fragen wir Ronny Hammerschmidt jetzt einfach, was er bei der Prostituierten Sophia Koslow zu suchen hatte.«
...
Kevin war fasziniert. In der Pathologie hatte er gelernt, wie einfach es war, Blutgefäße abzuklemmen. Obwohl die weiße Maus vor ihm nur noch zwei Beine und keinen Schwanz mehr hatte, lebte sie weiter. In der freien Natur wäre sie verblutet, aber Kevin war in der Lage, sie am Leben zu erhalten. Er fragte sich, ob sie Schmerzen litt. Seine Augen wanderten zum Futternapf. Er war leer. An Appetitlosigkeit schien die Maus jedenfalls nicht zu leiden. Er zog ein dünnes Stromkabel hervor und schaltete ein. Vorsichtig tippte er mit seinen Fingerkuppen an das offene Ende, aus dem die kupfernen Drähte heraushingen. Ein leichtes Kribbeln fuhr durch seine Hand. Er regelte den Strom herunter und prüfte die Stärke des Stromschlages erneut. Das Kribbeln war kaum mehr als ein sanfter Lufthauch. Diese Stärke sollte für die weiße Maus genau richtig sein. Ein teuflisches Grinsen erschien auf Kevins Gesicht. Nervös leckte er sich die Lippen, während er den Draht immer dichter an das Tier heranführte.
Die Nase der Maus bewegte sich hektisch und ihre Kulleraugen platzten fast, als der Stromschlag sie erwischte. Kevin genoss diesen Anblick. Er wartete einige Sekunden, bevor er sie erneut berührte. Panisch versuchte die Maus, auf ihren zwei Beinen zu entkommen. Sie vollführte krampfende Bewegungen auf dem zerknitterten Zeitungspapier in ihrem Käfig und kroch bäuchlings mit den Gliedmaßen rudernd vorwärts. Peng! Abermals ging ein Stromschlag durch ihren Körper. Kevin lachte erregt und drehte den Strom ein kleines bisschen mehr auf. Das sollte das Biest verkraften, dachte er und leckte sich wiederholt über die trockenen Lippen. Er ließ sie noch ein paar Zentimeter weiter vorwärts kriechen und hielt den Draht direkt vor ihre Nase. Sie sollte den Schmerz kommen sehen. Peng! Ihr Körper zuckte erneut und Kevin fühlte sich wie Gott.
Dann lag sie plötzlich still da, die Augen weit aufgerissen. Verdammt, sie war tot. Er hatte es übertrieben. Wütend warf er den Draht weg. Mist! Er hatte die Maus so gut präpariert, jetzt würde er eine Neue vorbereiten müssen.
...
Bettina Winterfeld schlüpfte aus ihrem weißen Schwesternkittel und hängte ihn in einem grauen Spind auf. Der Duschraum für die Schwestern war nicht besonders schön, aber wenigstens sauber. Bettina duschte gerne nach der Arbeit, insbesondere dann, wenn sie eine anstrengende Nachtschicht hinter sich hatte.
Sie warf das Handtuch über einen Plastikhocker und drehte die Dusche auf. Ein angenehm warmer Wasserstrahl prasselte auf die weißen Kacheln und mit einem wohligen Seufzer ließ sie sich ihren verspannten Nacken vom Wasser massieren. Sie schloss die Augen. Es war jetzt fünf Uhr morgens und sie sehnte sich nach ihrem Bett.
Die Nachtschicht hatte sie heute zum ersten Mal wieder in der roten Etage verbringen müssen. Seit dem Vorfall mit Adrian Helmhold war die Angst vor einer erneuten Unvorsichtigkeit ihr ständiger Begleiter. Das Wasser lief warm über ihr Gesicht und Bettina fühlte, wie sie sich langsam entspannte. In dieser Nacht war ihre Schicht ruhig verlaufen.
Alle zwei Stunden lief sie ihre Runden und kontrollierte die Patienten. Sie war mit einer Taschenlampe und einem Schlüsselbund ausgerüstet. Die Taschenlampen waren vor zwei Jahren eingeführt worden, weil sich die Patienten über die ständigen Störungen ihrer Nachtruhe während der Rundgänge beschwert hatten. Seitdem öffnete die Nachtschicht die Türen leise und verzichtete darauf, das Deckenlicht in den Zimmern einzuschalten. Nur mit dem schwachen Lichtstrahl der Taschenlampe kontrollierten sie, ob der Patient im Bett lag und schlief.
Die Türen waren von außen durch eine Kette gesichert, damit niemand hinter der Tür lauern und diese von innen aufreißen konnte. Da diese Sicherheitsvorkehrung lästig war, wurde sie nur allzu oft vergessen, weshalb die Kontrollen immer zu zweit durchgeführt wurden. Heute Nacht begleitete sie Nils Wengler, der Pfleger, der ihr bei dem Überfall geholfen hatte. In seiner Gegenwart fühlte sie sich seitdem sicherer als mit anderen Kollegen.
Bettina drehte sich um und griff nach der Seife. Ein kalter Luftzug fuhr plötzlich durch den Raum und zauberte eine Gänsehaut auf ihre nackte Haut. Verwundert öffnete sie die Augen. Hatte sie vergessen, die Tür zu schließen? Der Luftzug verschwand und Bettina überließ sich wieder den wärmenden Wasserstrahlen, die gleichmäßig über ihren Körper flossen. Das Gitter des Lüftungsschachtes, welches auf der anderen Seite des Raumes angebracht war, vibrierte. Doch Bettina hatte die Augen längst wieder geschlossen und nahm nichts außer der Wärme des Wassers wahr.
Zehn Minuten später stand sie vollständig bekleidet im Umkleideraum des Schwesternzimmers und wollte gerade die Tür zum Flur öffnen, als sie ein Geräusch hörte. Ob das Nils Wengler war, der sich im Nebenraum ebenfalls duschen wollte? Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und lauschte. Der Flur war dunkel. Um diese Uhrzeit spendete nur eine energiesparende Notbeleuchtung Licht für die Angestellten der psychiatrischen Klinik. Da Bettina nichts hören konnte, schlich sie auf Zehenspitzen zum Nachbarraum und klopfte leise. »Nils? Sind Sie noch da?«
Keine Antwort. Bettina drückte die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Nils war schon weg. Sie hatte lange geduscht, wahrscheinlich lag er längst im Bett und schlief. Bettina drehte sich um und wollte in Richtung Ausgang laufen, als sie erneut ein Geräusch hörte. Es war eine Stimme. Ob der Psychopath aus der roten Etage wieder zählte? Bettina blickte durch ein Fenster nach draußen. Es regnete nicht. Mittlerweile hatte sie herausgefunden, dass Adrian Helmhold immer dann laut zählte, wenn es regnete. Offenbar hatte er ein Problem mit den Regentropfen, die auf sein Dachfenster prasselten. Er konnte dieses Geräusch nicht ertragen. Bettina wunderte sich. Sie befand sich im Erdgeschoss der Klinik und die rote Etage war fünf Geschosse über ihr. So weit entfernt würde sie seine Stimme sicher nicht hören können. Und es regnete ja nicht einmal.
Wieder drangen undeutlich Worte an ihr Ohr. Sie kamen aus der ersten Etage. Dort waren die Büros untergebracht. Aber wer sollte um diese Uhrzeit arbeiten? Bettina ging vorsichtig die Treppe hinauf und betrat den Flur. Sofort fiel ihr ein schmaler Lichtstrahl ins Auge. Er kam aus dem Büro von Professor Morgenstern, dessen Tür nur angelehnt war. Aus dem Raum war jetzt ganz deutlich eine Männerstimme zu vernehmen.
»Das hättest du nicht tun sollen! Kannst du nicht aufpassen?« Die Stimme klang scheidend, bösartig.
Bettina setzte ängstlich einen Fuß vor den anderen. Sie wollte wissen, wer dort in diesem Büro war. Eine innere Stimme riet ihr, auf der Stelle zu verschwinden, doch ihre Neugier trieb sie direkt auf das Licht zu. Mit rasendem Herzen neigte sie den Kopf und warf einen Blick in das Büro.
Professor Morgenstern stand mit nacktem Oberkörper vor einem Spiegel und schnitt sich mit einem Messer die Haut auf. Blut lief in mehreren Rinnsalen über seinen Oberarm und tropfte auf die graue Anzughose, die er immer noch trug. Bettina unterdrückte einen Schrei und drehte sich auf der Stelle um.
»Ist dort jemand?« Professor Morgensterns Stimme klang jetzt drohend. Doch Bettina war schon am unteren Ende der Treppe angekommen und lief barfuß auf den Ausgang zu. Ihre Schuhe hatte sie in die Hand genommen, damit er ihre Schritte nicht hören konnte. Bettinas Herz beruhigte sich erst, als sie in ihrem Wagen saß und den Motor anließ. Sie verriegelte die Türen von innen und fuhr ohne Licht los, um nicht gesehen zu werden. Erst als der Wagen in die Landstraße einbog, schaltete sie die Scheinwerfer ein. Bettina zitterte. Wie in einer Endlosschleife kreiste eine einzige Frage durch ihr Gehirn: War das wirklich Professor Morgenstern, den sie gerade beobachtet hatte?
...
Klaus Gruber malte sorgfältig Linien auf das Whiteboard, das in seinem Büro an der Wand hing. Er schaute auf die Uhr. Oliver Bergmann musste jede Sekunde hier eintreffen und bis dahin wollte er die wichtigsten Eckdaten der Ermittlung notiert haben. Sie hatten einen Hauptverdächtigen, der gerade verhört wurde: Ronny Hammerschmidt. Klaus umrandete den Namen mit einer roten Linie. Er hatte eindeutige Verbindungen zu allen drei Opfern. Er war Stammkunde bei Sophia Koslow und er hatte seine Kinder durch künstliche Befruchtung mit Hilfe von Professor Neuhaus und Hans-Peter Mundscheit zeugen lassen. Des Weiteren war er genau zu jenem Zeitpunkt vor gut einem Jahr in St. Paul in den USA gewesen, als dort ein ähnlich brutaler Mord an einer Prostituierten begangen wurde. Am Ende dieser logischen Kette fehlte jedoch etwas ganz Entscheidendes: Für keinen der drei Morde hatte Hammerschmidt ein Motiv. Klaus malte eine dicke Wellenlinie mit einem Blitz auf das Whiteboard. Sie waren nicht auf der richtigen Fährte.
Die Bürotür öffnete sich und Oliver Bergmann trat gemeinsam mit Petra Ludwig ein. Klaus biss sich auf die Zunge. Er konnte dieses Karrierebiest eigentlich nicht ausstehen, aber die Vertrautheit, die zwischen ihr und Oliver zu herrschen schien, ließ ihn schweigen.
»Klaus!«, Oliver strahlte über das ganze Gesicht. »Mensch ist das schön, dich in diesen farblosen Gemäuern wieder zu sehen.« Sein Blick wanderte zum Whiteboard und er grinste. »Ohne diese Tafel wäre dein Leben nicht perfekt, richtig?« Oliver erinnerte sich noch genau, wie Klaus dieses Whiteboard angeschleppt hatte. Er hatte die Kommunikation zwischen ihnen verbessern wollen. Oliver hasste diese Dinger eigentlich und machte sich lieber Notizen in einem Buch, aber heute hatte er nichts daran auszusetzen. Er war einfach nur froh, wieder hier zu sein.
Petra Ludwig begrüßte Klaus mit einem kurzen Kopfnicken und stellte sich vor die weiße Tafel. Sie nahm einen Stift zur Hand und schrieb zehn weitere Namen auf.
»Was bedeuten diese Namen?«, fragte Klaus.
Petra antwortete nicht sofort. In fetten Buchstaben schrieb sie »Analverkehr« über die Linie, die die Verbindung zwischen Ronny Hammerschmidt und Sophia Koslow kennzeichnete. Klaus riss die Augen auf und blickte unsicher zu Oliver hinüber. Dieser grinste. »Das ist der Grund, warum Ronny Hammerschmidt regelmäßig in den Puff ging. Er hat uns erzählt, dass seine Frau keine Lust darauf hatte.« Er tippte mit dem Finger auf das Wort, welches Petra Ludwig gerade auf die Tafel geschrieben hatte.
»Die zehn Namen an der Wand gehören zu Studenten, die am Tag der Ermordung von Professor Neuhaus an einer Leichensektion teilgenommen haben. Es war der einzige Kurs an diesem Tag, da alle anderen Hörsäle wegen Renovierungsarbeiten geschlossen waren.«
Die Tür ging auf und ein älterer Polizist trat ein. Petra spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Dieser Mann gehörte zu ihrem Recherche-Team und hatte ihr in den letzten Wochen besonders zu schaffen gemacht. Doch diesmal blickte er sie freundlich an und drückte ihr einen Stapel Papier in die Hand. Erstaunt registrierte Petra, dass er ihre Aufträge bereits erledigt hatte. Sie lächelte dankbar.
»Hier sind die Stammdaten zu allen zehn Studenten. Am besten teilen wir uns auf.« Mit diesen Worten drückte Petra ihren beiden Kollegen mehrere Blätter in die Hand.
...
Anna wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Bis zum Schlafengehen hatte sie Emilys Reportage Korrektur gelesen und war mit dem Gedanken an die Münzfälscherbande eingeschlafen, die vor über fünfhundert Jahren in Zons ihre Geschäfte gemacht hatte.
Anna träumte von Bastian Mühlenberg. Sie traf ihn am Rhein, ganz in der Nähe des Zollturms. Er saß da und ließ Kieselsteine übers Wasser hüpfen. Sie setzten mehrfach auf der Oberfläche auf und hörten sich an wie dicke Regentropfen, die auf ein Fenster prallten. Anna mochte das Geräusch nicht. Trotzdem lächelte sie, als Bastian sich zur ihr umdrehte und sie mit großen tiefbraunen Augen ansah. Ihr Herz pochte aufgeregt.
Plötzlich saßen sie nicht mehr gemeinsam am Rhein, sondern standen in einer alten Schmiede. Bastian nahm sie an die Hand, während sie zusahen, wie der Schmied mit einem schweren Hammer den Prägestempel in die noch nicht abgekühlten Münzen schlug. Ein stehender Petrus mit einem Buch in der einen und dem Himmelsschlüssel in der anderen Hand war deutlich auf den Gulden zu erkennen. Bastian drückte ihr eine fertige Münze in die Hand und küsste sie dabei auf die Lippen. Dann verschwand er und Anna blieb alleine mit dem Schmied in der heißen, stickigen Werkstatt zurück.
Sie rief Bastians Namen und fand ihn auf einer herbstlichen Lichtung im Wald wieder. Sie wunderte sich kurz, wie sie dort hingekommen war, doch dann hockte sie sich zu Bastian ins Dickicht und sah zu, wie zwei junge Burschen mit einem Hundewelpen herumtollen. Beide glichen sich bis aufs Haar. Es waren Zwillinge.
Einer von ihnen lief plötzlich auf sie zu und Anna stellte erschrocken fest, dass er aussah wie jemand, den sie kannte. Verzweifelt kramte sie in ihrem Gedächtnis. Wo hatte sie diese grünen Augen und das blasse Gesicht schon einmal gesehen? Bastian legte einen Arm um sie und führte sie von dem Burschen weg.
Plötzlich waren sie auf der roten Etage der psychiatrischen Klinik. Bastian versuchte, eine Frau davon abzuhalten, die letzte Tür auf dem Gang zu öffnen. Die Frau drehte sich um und mit Erschrecken bemerkte Anna, dass es ihre Mutter war. Die Tür flog auf und eine Gestalt stürzte sich auf sie. Anna schrie. Im letzten Moment zerrte Bastian ihre Mutter beiseite, sodass der Schlag des Verrückten ins Leere ging. Grüne Augen in einem blassen Gesicht blickten sie an und musterten sie ausgiebig.
Schweißgebadet wachte Anna auf. Sie richtete sich in ihrem Bett auf, atmete schwer und begriff erst einen Moment später, dass sie sich in der Sicherheit ihres eigenen Schlafzimmers befand. In diesem Moment fiel ihr der Name wieder ein: Adrian Helmhold. Verstört fragte sie sich, wieso sie von ihm träumte.