V.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Endlich. Die Falle hatte zugeschnappt. Stundenlang hatte er geduldig hinter der alten Weide gelauert. Die Sonne schien jeden Tag hell und die prallen Blaubeeren drohten zu verderben. Fast schon hatte er aufgegeben, als dieser junge Bursche tapsig und naiv in die Falle ging. Er liebte Jungs. Ihre Körper waren viel fester, als die der Mädchen. Sobald sie zu Frauen heranwuchsen, verlor der Körper jegliche Straffheit. Ihre Brüste wabbelten herum und ihre Hintern hingen schlaff über den Knochen.

Bei Jungen war das anders. Ihre Körper wurden mit dem Alter immer härter und strammer. Je mehr sich die Muskulatur ausprägte, desto attraktiver fand er sie. Feste Rundungen schürten die Lust in seinem Inneren und ließen ihn zwischen den Beinen hart werden. In seiner Fantasie berührte er sie, während sie ihm auf dem Bauch liegend ihren Hintern bereitwillig entgegenstreckten. Er schüttelte diesen lüsternen Gedanken ab. Ja, die Falle hatte zugeschnappt. Aber sein Opfer war viel zu jung.

Der Bursche war so weich wie ein Baby, vielleicht acht Jahre alt. Er hätte sich mit ihm zufriedengegeben, aber der Kleine war ihm in einem unachtsamen Moment entkommen. Unglücklicherweise hatte er ihn nicht wieder einfangen können. Er war ihm fast bis zum Waldrand gefolgt, doch der Knabe lief trotz seiner blutenden Finger flink wie ein Wiesel. Dann waren ihm Berittene entgegengekommen und er hatte sich hurtig ins Unterholz geflüchtet. Am Ende konnte er froh sein, dass sie ihn nicht entdeckt hatten. Das wäre sein Untergang gewesen.

 

 

...

 

 

»Ruhig atmen, Tilmann!« Pfarrer Johannes tätschelte dem Jungen die Schultern, während der Arzt Josef Hesemann seine Wunden säuberte. Es sah scheußlich aus. Gleich drei Finger waren dem Kleinen regelrecht abgerissen worden. Josef würde die Stümpfe sauber abtrennen müssen. So, wie die zerfetzten Knochen herausstanden, würde die Verletzung nie richtig verheilen. Die Gefahr war viel zu groß, dass der Junge an Wundbrand starb, wenn er nicht schnell handelte. Seufzend griff der Arzt zu einer feinen Säge. Im selben Augenblick betrat Bastian Mühlenberg die Stube. Seine blonden Strubbelhaare standen zu allen Seiten ab. Sein Blick fiel unmittelbar auf die ramponierte Hand des Jungen.

»Tilmann, mein Gott. Was um Himmels willen ist dir geschehen?«

Tränen liefen über die Wangen des Knaben und tropften feucht auf sein Wams.

»Es war ein Mann in einer schwarzen Kutte.« Tilmann schluchzte laut. »Ich wollte Blaubeeren essen, als ich in einer Schlinge hängenblieb. Noch bevor ich meine Finger frei bekommen konnte, ist er über mich hergefallen.« Der Brustkorb des Jungen vibrierte, während er nach Worten suchte.

»Er hat mit einer riesigen Axt zugeschlagen, aber nicht richtig getroffen, weil ich meine Hand schnell weggezogen habe.«

Entsetzt beäugte Bastian die aus den Fingerstümpfen der linken Hand herausragenden Knochensplitter.

»Wird das wieder heilen?«

Josef seufzte abermals und nickte. »Wenn Ihr ihn festhaltet und ich ihm die Stümpfe sauber abtrenne, dann wird er es überstehen.«

Der Junge schüttelte panisch den Kopf. »Nein, bitte nicht! Bitte lasst mich gehen!«

Doch es war zu spät. Bastian hatte sich bereits hinter ihn gestellt und hielt den Oberkörper des Kleinen fest umschlossen. Pfarrer Johannes schlug seine Arme kräftig um die Beine des Knaben. Josef Hesemann band die verletzte Hand um einen Baumstumpf. Er fixierte sie so, dass er die herausstehenden Fingerknochen in einer gerade Linie absägen konnte.

»Halte die Luft an, mein Junge. Es ist gleich vorbei.« Mit diesen Worten setzte Josef die Säge an und trennte mit geübten Handgriffen die Splitter vom gesunden Fleisch ab. Tilmann schrie erbärmlich. Er wehrte sich, aber Bastian und Pfarrer Johannes hielten ihn so fest, dass er sich keinen Millimeter rühren konnte. Blut spritzte aus der frischen Wunde und Josef wickelte ein Leinentuch stramm um die Stümpfe. Zufrieden betrachtete er anschließend sein Werk.

»Tilmann, denk immer daran. Du hast großes Glück, dass nur deine linke Hand verkrüppelt ist.«

Der Junge versuchte, sich aufzurappeln. Wankend erhob er sich und fiel sofort in Ohnmacht. Bastian fing den schlaffen kleinen Körper auf. »Legt ihn hier auf das Stroh. Ich werde seinen Eltern kundtun, was geschehen ist.« Mit diesen Worten verließ Pfarrer Johannes die Stube.

»Und sagt ihnen, dass ich Tilmann noch einmal befragen muss. Er muss sich genau an das Gesicht des Mannes erinnern, damit ich eine Beschreibung habe«, brüllte Bastian dem Pfarrer hinterher. Doch die Tür war längst zugeschlagen.

 

 

...

 

 

»Warte auf mich, August!« Christan war völlig außer Puste. »Was hast du mit ihm angestellt?« Er holte weiter auf. »Er ist gar nicht bei unserer Tante, richtig?«

Christan brüllte aus Leibeskräften. »Verflucht, August! Bleib stehen!«

Doch August ließ sich von den Worten seines Bruders wenig beeindrucken. Er rannte weiter, spürte, wie seine Lunge vor Anstrengung brannte und wie seine Muskeln langsam müde wurden. Christan kannte ihn in- und auswendig. Ja, er hatte ihm versprochen, dem Welpen nichts zu tun. Er wusste genau, dass Christan dieses Tier liebte und dass er ihm sehr weh tat, wenn er ihn fortschaffte. Aber er konnte nicht anders. Christan war sein Bruder. Er gehörte ihm. Er war aus demselben Fleisch und Blut gemacht wie er. Da konnte August doch nicht zulassen, dass sich so ein Köter zwischen sie drängte. Schließlich hatte sich Christan am Ende mehr um dieses Tier gekümmert als um ihn. Abrupt blieb er stehen. Christan, der nicht so prompt mit einem Ende des Wettrennens gerechnet hatte, prallte mit voller Wucht auf August und beide fielen zu Boden. Christan rollte sich auf seinen Bruder und presste seine Knie fest auf die Arme von August.

»Was hast du mit ihm gemacht? Sag es mir, August!«

»Ich habe gar nichts gemacht. Er ist einfach ausgerissen. Woher soll ich wissen, wo er jetzt ist?«

»Das glaube ich dir nicht!«

Wild wälzten sich die beiden im Gras. Christan holte aus und schlug August mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht. Augusts Lippen platzten auf und Blut lief seinen Hals hinab.

»Verdammt Christan, jetzt hör auf!« August atmete hektisch. »Ich gebe es zu. Ich habe ihn fortgeschafft. Es tut mir leid.«

Christan ließ auf der Stelle von ihm ab. »Ich wusste es.« Seine Stimme klang traurig. »Es ist immer das Gleiche mit dir, August.« Er stand auf und wollte gehen, doch August hielt ihn am Arm fest. »Ich mache es wieder gut, versprochen.« Wütend stieß Christan den Arm von sich. »Wie oft hast du das schon versprochen, August?«

»Christan, ich wollte dir nicht weh tun. Ich konnte einfach nicht anders.«

»Gib es zu, er ist der Welpe, den man am Krötschenturm gefunden hat, oder?« August blickte stur nach unten. Christan baute sich vor ihm auf und ergriff seine Kehle. »Du hast ihn zerstückelt, du Mistkerl!« Christan spuckte vor Wut aus. »Wie konntest du das tun? Es war doch nur ein kleiner, hilfloser Welpe! Warum bist du nur so bösartig? Wie kannst du mein Zwillingsbruder sein?« Er drückte zu, mit aller Kraft, die er hatte. August röchelte leise, wehrte sich jedoch nicht. Christan spürte, wie die Wut in ihm tobte. Am liebsten hätte er seinem Bruder ein für alle Mal den Garaus gemacht. Aber er konnte es nicht. Sein Gewissen hielt ihn davon ab. Mit lautem Schluchzen ließ er August los und sank weinend auf die Knie.

August schnappte nach Luft und setzte sich auf. Sanft nahm er seinen Bruder in die Arme. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Da ist etwas in mir, dass ich nicht beherrschen kann. Glaub mir, wenn ich gekonnt hätte, ich hätte es aufgehalten.«

»Lass mich in Ruhe, ich will dich nie wieder sehen!« Weinend sprang Christan auf und rannte davon. Für einen Moment fühlte August etwas, das er nur ganz selten empfand: Reue. Sein Herz pochte und er konnte es mit jedem Schlag spüren. Er bereute seine Tat um Christans Willen. Vielleicht war er doch noch nicht verloren! Er würde es wieder gut machen!

 

 

...

 

 

»So sei doch leise, Wernhart!« Bastian wisperte aufgeregt in die schwarze Nacht hinein. Sie hatten ihn kreuz und quer durch die ganze Stadt gejagt, doch der Schatten wollte nicht stehen bleiben. Rastlos zog er durch die Nacht. Sie waren am Krötschenturm gestartet, im Nordwesten von Zons. Nachdem sie dreimal die Gasse »Hohes Örtchen« rauf- und runtergeschlichen waren, hatte sich der Bucklige entschieden, die Zehntgasse in Richtung Juddeturm hinaufzueilen.

Trotz seines gekrümmten Rückens, der einen schaurigen Buckel auf seinen Schultern entstehen ließ, bewegte sich Gilig geschmeidig und zügig vorwärts. Die Beschreibung des Knaben passte genau auf ihn. Er lief tagein, tagaus in einer schmuddeligen schwarzen Kutte herum. Zwar hätte die Beschreibung auch auf jedes Mitglied der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft gepasst, aber der junge Tilmann hatte darauf bestanden, dass es sich um einen kleinen Mann mit einem Buckel handelte.

Ein wenig zweifelte Bastian an den Worten des Burschen. Schließlich hatte er drei Finger verloren und war nur um ein Haar dem Tod entgangen. Der Junge wirkte auch zwei Tage nach dem Überfall noch völlig durcheinander. Teilweise erzählte er wirres Zeug. Dies war dem Fieber zuzuschreiben, das trotz der Behandlung des Arztes Josef Hesemann den armen Jungen heimgesucht hatte.

Einen ganzen Tag lang weigerte Tilmann sich, zu essen und zu trinken. Sein Körper war mittlerweile so ausgemergelt, dass seine Mutter Pfarrer Johannes zweimal am Tag zum Gebet einbestellte. Josef Hesemann jedoch war zuversichtlich. Die Wunde heilte trotz des Fiebers ordentlich. Sie war sauber und das Fleisch war an den Stümpfen nicht schwarz verfärbt. Für ihn war das Fieber eine natürliche Reaktion auf die Amputation der Finger. Solange es nicht über viele Tage anhielt, hielt Josef es nicht weiter für gefährlich.

»Dort, siehst du das?« Wernhart, Bastians bester Freund und ebenfalls Mitglied der Zonser Stadtwache, hielt ihn am Ärmel fest. »Was sucht er dort an der Mauer?«

Die Stadtmauer von Zons war riesig. Sie bestand aus drei Meter hohem Felsgestein, und bisher hatte kein Feind die mit Basaltsteinen verstärkte Bewehrung überwinden können. Die gesamte Architektur der Festungsmauern entsprach dem neuesten Stand der Baukunst. Die Stadt war - da waren sich die Zonser allesamt einig - uneinnehmbar.

Die Mauer glich einem überdimensionalen Trapez und erstreckte sich ungefähr 300 Meter in Nord-Süd-Richtung und 250 Meter in West-Ost-Richtung. An den Eckpunkten war sie durch Wachtürme verstärkt: nordöstlich der quadratische Rhein- oder Zollturm, nordwestlich der runde Krötschenturm, südwestlich der runde Mühlenturm und an der südöstlichen Ecke stand der Schlossturm. Der runde Juddeturm erhob sich hingegen innerhalb des Städtchens neben dem Schloss Friedestrom.

Gerade machte sich der bucklige Gilig an den Steinen der östlichen Mauer zu schaffen. Er stand direkt unter einer der Pfefferbüchsen. So wurden die kleineren Wehrtürme scherzhaft von der Bevölkerung bezeichnet, denn sie waren im oberen Teil mit Fenstern versehen, aus denen bei einem Überfall auf die Stadt allerlei Gestein und Pech auf die Angreifer hinuntergeworfen oder »gepfeffert« werden konnten.

Der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden hatte sehr viele Gulden in die Errichtung der Festung fließen lassen. Er hatte Zons zu wirtschaftlicher Blüte verholfen, indem er anno 1372 den Rheinzoll aus Neuss nach Zons verlegt hatte. Ein Jahr darauf waren dem Ort sogar die Stadtrechte verliehen worden.

Was zum Himmel trieb der Bucklige hier mitten in der Nacht? Bastian konnte sich kaum vorstellen, dass Gilig mit bloßen Händen aus dieser stabilen Mauer Steine stehlen wollte. Er spähte angestrengt ins Dunkel und sah, wie Gilig etwas aus der Mauer hervorholte und unter seinem Wams verbarg.

Bastian stieß Wernhart an. Sie mussten sich aufteilen, wenn Gilig ihnen nicht entwischen sollte. Bastian wollte ihn auf frischer Tat ertappen, bevor er sein Diebesgut einfach abwerfen konnte. Ohne Beweise konnten sie den Buckligen nicht in den Juddeturm werfen.

Während Wernhart sich dicht hinter Gilig hielt, schlich Bastian um den Juddeturm herum und anschließend die Mühlenstraße hinauf. Sicher wollte der Bucklige durch das Feldtor die Stadt verlassen. Zwar war zu dieser Stunde das große Tor verschlossen. Durch einen kleinen Gang hindurch konnte man von der Stadt her kommend jedoch auch bei Nacht das Tor passieren. Genau an dieser Stelle wollte Bastian Gilig auflauern.

Er postierte sich unauffällig an einer Häuserwand. Lange warten musste er nicht. Gilig kam schnellen Schrittes auf ihn zu, dicht gefolgt von Wernhart. Bastian wartete, bis der Bucklige genau auf seiner Höhe war, und löste sich dann aus dem Schatten. Erschrocken blieb Gilig stehen und ließ einen Leinensack fallen. Klimpernd rollten ein paar Münzen über die Straße. Schnell bückte er sich und sammelte sie wieder ein.

»Was sind das für Münzen? Woher habt Ihr sie?«, fragte Bastian mit strenger Stimme.

Gilig stotterte unverständlich und wagte nicht, den Blick zu heben. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Bastian wiederholte seine Frage etwas freundlicher. Gilig hatte Angst, das war unschwer zu erkennen. Bastian wusste, dass er von Gilig keine Antwort bekommen würde, wenn er ihn noch mehr unter Druck setzte. Wernhart hatte bereits seinen Dolch gezückt, um ihn Gilig an die Kehle zu pressen, doch Bastian gebot ihm mit einer Geste Einhalt.

Der Bucklige hob erneut an: »Münzen für die Bruderschaft.« Zum Beweis griff er in seinen Leinensack und hielt Bastian ein Geldstück unter die Nase.

Bastian betrachtete die Münze. Im Dunkeln glaubte er, die Deutzer Prägung zu erkennen. Er wusste, dass Gilig hin und wieder Botengänge für die Bruderschaft übernahm. Der Bucklige verdiente seinen Lebensunterhalt mit allerlei einfachen Diensten. Trotzdem war es merkwürdig, dass Gilig mitten in der Nacht unterwegs sein sollte.

»Was habt Ihr dort hinten an der Mauer gesucht?«, fragte Bastian nun ohne Umschweife. Gilig fasste sich an den Kopf, als schien er erst jetzt zu begreifen, was die beiden Männer der Zonser Stadtwache von ihm wollten. »Nichts weiter, ich habe dort nur meinen Hammer aufbewahrt.«

»Zeigt mir Euer Versteck!«, befahl Bastian und zerrte den Buckligen zurück zur Stadtmauer. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bauchgefühl betrog ihn nie.

»Wollen wir ihn nicht gleich in den Juddeturm werfen und morgen einer genauen Befragung unterziehen?«, fragte Wernhart missmutig. Bastian schüttelte den Kopf: «Lasst uns kurz nachsehen. Ich werde ihn nicht ohne Beweise in den Juddeturm sperren.«

Gilig stapfte mit eingezogenem Kopf voran. An der Stadtmauer angekommen, steckte er seine Finger tief in einen Spalt zwischen den Felssteinen hinein. Er ruckelte und zerrte, bis der Stein sich langsam löste. Ungeduldig stieß Wernhart den Buckligen beiseite und zog den Felsbrocken heraus. Mit ganzer Wucht und einem lauten Knall fiel dieser zu Boden.

»So sei doch leise!«, mahnte Bastian noch einmal. Wenn Wernhart so weiter machte, würde bald ganz Zons von diesem Lärm aufwachen. Wenn sie hier zusammen mit dem Buckligen gesehen würden, gäbe es sicher nicht wenige Zonser, die Gilig sofort in den Juddeturm werfen wollen würden. Aber so lange, wie seine Schuld nicht bewiesen war, wollte Bastian keine unnötigen Komplikationen heraufbeschwören. Es war schlimm genug, dass die Alte vom Krötschenturm und auch der Knabe Tilmann ihn beschuldigten.

Zugegebenermaßen war Gilig Ückerhoven eine eigentümliche Erscheinung. Schon als kleiner Junge wurde er wegen seines Buckels gehänselt. Obwohl er längst im heiratsfähigen Alter war, hatte er sich bis zum heutigen Tage kein Weib genommen. Er war kein schöner Mensch und wirkte geistig zurückgeblieben. Seine Sprache war einfach, doch immerhin besaß er ein kleines Haus an der Ostmauer in Zons. Dieses hatte er von seinen Eltern geerbt. Er war ihr einziges Kind. Das Unglück eines behinderten Sohnes hatte die Ückerhovens früh ins Grab getrieben. Gilig, der Außenseiter, wäre ein schnelles Opfer, und niemand würde sich für ihn besonders einsetzen. Umso mehr lag es an Bastian, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ohne Beweise keine Schuld. Dies war ein eiserner Grundsatz der Zonser Stadtwache. Und Bastian hatte nicht vor, diesen aufzugeben.

Wernhart untersuchte das Loch, das sich groß und schwarz hinter dem herausgerissenen Mauerstein auftat.

»Es ist leer«, stellte er schließlich ernüchtert fest.

Gilig kramte in seinem Wams und zog einen verbogenen rostigen Hammer hervor. »Mein Hammer«, stotterte er.

»Warum versteckt Ihr ihn hier in der Mauer und nicht in Eurem Haus?«, fragte Wernhart aufgebracht. Gilig zuckte mit den Schultern. »Ist das vielleicht der Hammer, mit dem Ihr dem jungen Tilmann die Finger abgehauen habt?« Wernhart stieß Gilig bei diesen Worten aggressiv gegen die Brust und zerrte an dessen Wams herum.

»Redet schon!«

Gilig schüttelte heftig den Kopf.

»Lass ihn, Wernhart. Wir nehmen den Hammer mit und untersuchen ihn bei Tageslicht. Sollte auch nur ein einziger Blutstropfen daran sein, dann endet er im Juddeturm!«

Wernhart nickte und stieß den Buckligen von sich. »Lauft schon, bevor wir es uns anders überlegen«, zischte er und baute sich drohend auf. Gilig zuckte zusammen und rannte los.

 

 

...

 

 

Am nächsten Morgen untersuchten Bastian und Wernhart den Hammer. Er war vollkommen frei von Blut.

»Ich verstehe trotzdem nicht, warum der Bucklige ihn in einem Loch in der Stadtmauer versteckt. Es ist doch bloß ein Hammer.«

Bastian nickte, während er das schwere Werkzeug prüfend in seinen Händen hielt. »Es ist mir ein Rätsel. Wir sollten ihn auf jeden Fall weiter beobachten. Der Kerl ist mir nicht geheuer.«

»Warum haben wir ihn dann nicht sofort in den Juddeturm geworfen?« Wernhart war aufgebracht.

»Das weißt du doch so gut wie ich. Wir müssen den wahren Unhold finden. Ich glaube nicht, dass der Bucklige dem kleinen Tilmann etwas zu Leide getan hat.« Bastian ließ den Hammer fallen. Genau in diesem Augenblick betrat Pfarrer Johannes die Stube. Sein Gesicht sah grau und eingefallen aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen.

»Matthias Hohnrath ist tot. Er wurde völlig zerstückelt im Wald aufgefunden.«

Johannes atmete schwer und setzte sich. Schweißperlen liefen über seine Stirn, obwohl die Temperaturen im September schon deutlich gesunken waren. »Und überall Tierfraß. Mir ist immer noch übel von seinem Anblick.«

Eine halbe Stunde später standen sie in dem kleinen Wäldchen, welches sich in westlicher Richtung an ein paar Felder anschloss. Der Wind wehte durch das schon leicht verfärbte Laub und die hoch am Himmel stehende Sonne ließ die Bäume in einem goldenen Licht erstrahlen. Bastian liebte diese goldenen Herbsttage. Nie war das Licht so schön wie zu dieser Jahreszeit. Tief sog er die frische Luft ein und bereitete sich innerlich auf den Anblick vor, der sich ihm gleich bieten würde. Eine angefressene Leiche, das fehlte ihm gerade noch. Eigentlich hatte er Marie versprochen, den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Sie war jetzt seit drei Monaten guter Hoffnung und ihr Bauch begann sich langsam zu wölben. Bastian liebte Kinder und schon jetzt war er voller Vorfreude. Etwas knackste im Unterholz. Bastian sah sich um. Ein aufgescheuchter Fuchs suchte schleunigst das Weite.

»Hier vorne ist es.« Pfarrer Johannes deutete auf eine große Kastanie. »Direkt dort unter dem Baum haben sie ihn gefunden. Meine Messdiener sollten eigentlich frisches Holz besorgen, doch stattdessen sind sie auf den toten Matthias Hohnrath gestoßen.«

Bastian und Wernhart traten näher. Von weitem sah der Mann aus, als würde er unter der uralten Kastanie ein Nickerchen halten. Er lag auf der Seite. Seine Knie waren angezogen. Erst als Bastian direkt vor ihm stand, erkannte er die Brutalität dieses Mordes. Die Kleidung des Mannes war an der Vorderseite vollständig aufgerissen. Die Eingeweide oder das, was noch davon übrig war, hingen aus dem aufgeschlitzten Leib heraus. Die Nase war ebenfalls abgefressen. Trotz des entstellten Gesichtes konnte Bastian Matthias Hohnrath, den Schmied, erkennen.

Überall schwirrten fette, blau und grün schimmernde Fliegen über der Leiche herum. Sie krochen über die verwesende Haut des Schmiedes und in seine Körperöffnungen. Eine Welle der Übelkeit stieg in Bastian auf. Wernhart, der an den Füßen der Leiche stand, bückte sich plötzlich.

»Was haben wir denn hier?« In seinen Fingern hielt er das Ende einer Schlinge, die fest um die Füße der Leiche gezogen war. Auch der andere Fuß steckte in einer Schlinge fest. Nachdenklich rieb sich Bastian das Kinn und kniff dabei seine braunen Augen zusammen. Der Mörder hatte den kräftigen Schmied in eine Falle gelockt. Soviel war Bastian klar. Vermutlich hatte er ihn gefesselt, bevor er ihn aufschlitzte. Der Schmied war ein starker Mann. Dicke Muskelstränge definierten seinen Körper. Nur ein mindestens ebenso kräftiger Gegner konnte es von Angesicht zu Angesicht mit ihm aufnehmen.

Bastian überprüfte die Rückseite des Toten. Sie schien unverletzt. Am Hals entdeckte er Würgemale, die von einem Seil stammen konnten. Dieselben Male fanden sich an beiden Handgelenken.

»Ich vermute, dass der Schmied in einen Hinterhalt geriet und gefesselt wurde. Der Mörder ist bestimmt ein kluger Mann. Körperlich war er dem Schmied wahrscheinlich unterlegen, ansonsten hätte er ihn einfach angreifen können.«

Bastian durchsuchte die Taschen des Toten. Fast alle waren nach außen gedreht. Offensichtlich war die Leiche bereits durchsucht worden. Er fand drei Weißpfennige und ein dreckiges Leinentuch, an dem schwarzer Ruß klebte. Achtlos warf Bastian das Tuch zur Seite, hielt aber noch in der Bewegung inne. Aus dem Inneren des Lumpens hatte sich ein weiterer Taler gelöst, der mit hellem Klingen auf einem Kieselstein aufschlug. Erstaunt pfiff Bastian durch die Zähne und bückte sich nach der goldenen Münze.

»Pfarrer Johannes, seht Euch diesen Goldgulden an. Wie kommt ein einfacher Schmied an eine solche Münze?«

Johannes, der sich am Stamm einer Eiche ausruhte, richtete sich auf. Neugierig betrachtete er die Münze.

»Vielleicht war dieser Goldgulden der Grund für seine Ermordung. Der Mörder hat alle Taschen danach durchsucht und diesen kleinen Schatz hier nicht entdeckt. Aus lauter Wut hat er den Schmied aufgeschlitzt. Wo habt Ihr die Münze gefunden?«

»Sie war fest in ein verrußtes Leinentuch eingewickelt«, entgegnete Bastian.

»Ich habe sie nur zufällig entdeckt, weil sie herausgefallen ist.«

Nachdenklich musterte Bastian den Toten. Pfarrer Johannes könnte recht haben. Der Mörder hatte den Schmied vermutlich gefesselt und gefoltert. Als er nicht fündig wurde, metzelte er ihn in rasendem Zorn nieder.

»Aber woher soll der Mörder von dem Goldgulden gewusst haben?«, warf Wernhart zweifelnd ein.

»Das ist mir auch ein Rätsel.« Bastian kniff angestrengt die Augen zusammen. »Aber alle seine Taschen sind durchsucht worden. Sieh doch selbst, Wernhart. Sie sind fast alle nach außen gedreht.«

Pfarrer Johannes warf Bastian die Münze zu. »Hier, mein Junge, nehmt sie an Euch und durchsucht die Schmiede. Vielleicht findet Ihr noch mehr davon.«

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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