III.
Vor fünfhundert Jahren
Amüsiert beobachtete Martha die beiden dunkelhaarigen Halbwüchsigen, die sich lachend mit einem kleinen Hundewelpen vergnügten. Ein wildes Knäuel aus Beinen, Armen und flauschigem, bunt gefleckten Hundefell wälzte sich in rasender Geschwindigkeit auf dem Hof herum. Einer der Jungen löste sich aus dem Gewirr und drehte sich zu Martha um. Wie immer, wenn er sie mit den blauen Augen ihrer verstorbenen Schwester Elisa ansah, schlug ihr Herz für einen Moment höher. Ganz deutlich konnte sie in ihm die Gesichtszüge Elisas erkennen. Selbst die Art und Weise, wie er seinen Mund zu einem Lächeln verzog, ließ auf der Stelle das Bild der Schwester vor ihrem geistigen Auge entstehen.
Auch nach all diesen Jahren vermisste Martha sie so sehr wie am ersten Tag. Sie bereute den Zank um dieses dumme Kleid. Hätte sie damals gewusst, dass die arme Elisa für dieses Gewand mit ihrem Leben bezahlen muss, sie hätte es ihr nur zu gern freiwillig überlassen. Zu ihrer großen Genugtuung war wenigstens die alte Hexe, die der armen Elisa den Zwillingsfluch auferlegt hatte, kurz danach von der heiligen Inquisition auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Direkt neben dem Galgen - auf der Richtstätte »Am Galgenfeld« weit vor den Stadtmauern von Zons - wurde sie verbrannt.
Martha erinnerte sich genau an das Riesenspektakel, welches am Tag der öffentlichen Verbrennung veranstaltet wurde. Noch heute hörte sie die kreischenden Schreie der Alten, als sie langsam in der Feuerglut zu Asche zerfiel. Nach dem Tod ihrer Schwester Elisa hatte Martha die beiden Jungen, Christan und August, zu sich genommen. Sie waren wie leibliche Söhne für sie. Die optische Ähnlichkeit mit Elisa gab ihr das Gefühl, dass ihre Schwester in ihnen weiterlebte. Christan war genauso sanft und liebevoll wie seine Mutter, während August wild und ungestüm war. Aber das störte sie nicht.
Christan, der sich eben aus dem Wirrwarr gelöst hatte, blickte sie immer noch an. Martha lächelte und winkte ihm zu. Er grinste und drehte sich wieder zu seinem Bruder um. August wälzte sich noch immer eng verschlungen mit dem Hundewelpen auf der Erde. Es war ein Schäferhund, der auf dem Rücken liegend nach August schnappte. Der Junge hatte seine Knie und Ellenbogen in die Seiten des Tieres geschlagen und versuchte mit kräftigem Druck seiner beiden Hände die Kehle des Hundes zuzuschnüren. Der Widerstand des Welpen wurde zunehmend schwächer, doch August ließ nicht von ihm ab. Ein flehender Laut aus der Kehle des gequälten Tieres brachte Christan zum Handeln. Er riss seinen Bruder von dem Welpen weg. August war nicht sonderlich erfreut über Christans Eingreifen und boxte ihm kräftig in die Seite.
»Verdammt, was tust du, Christan. Ich hatte ihn fast so weit!«
»Was soll das heißen, du hattest ihn so weit?«, keuchte Christan, die Hände vor Schmerzen in seine Taille gepresst. »Wolltest du ihn zu Tode quälen und ersticken?«
»Ja, lieber Bruder, genau das hatte ich vor!«
»Mutter beobachtet uns. Sieh doch selbst!«
August warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Martha sie nicht aus den Augen ließ.
»Verdammt«, fluchte er und ließ von seinem Bruder ab. »Warum muss sie ständig hinter uns herschnüffeln? Wir sind keine Kinder mehr!«
»Sie ist unsere Mutter, August. Sei doch froh, dass sie sich um uns sorgt. Denk nur an den armen Bernhart, der letzte Woche erst von seinem Vater vom Hof gejagt wurde.«
»Ach, so hör doch auf von Bernhart zu sprechen. Er ist ein elender Schwächling. Taugt zu nichts. Was sonst hätte der Alte mit ihm tun sollen, wo doch noch sechs weitere hungrige Mäuler an seinem Tisch warten?«
»Du bist so gemein. Denkst du nicht einmal darüber nach, wovon der Ärmste jetzt leben soll?«
»Oh je, er kann sich doch in der Stadt als Knecht verdingen. In Köln suchen sie jede Menge davon. Er wird schon keinen Hunger darben.«
Christan schüttelte heftig den Kopf: »Er ist der Erstgeborene. Ihm gebührt der Hof seines Vaters.«
»Christan, er hat keinen Funken Verstand in seinem Kopf.« August machte eine abfällige Handbewegung. »Ich kann den Alten verstehen.«
Wütend stieß Christan seinen Bruder fort und stürmte vom Hof. Der kleine Welpe folgte ihm auf dem Fuß. Martha schüttelte den Kopf, freute sich jedoch über die Flausen ihrer beiden Halbwüchsigen. Dann drehte sie sich um und wandte sich wieder ihrer Küchenarbeit zu. Nur August blieb wie versteinert im Hof stehen. Seine Augen waren zu engen Schlitzen zusammengekniffen und seine Mundwinkel verzogen sich nach unten. Er hasste seinen Bruder für dessen gutes Herz. Er selbst konnte keine Güte in sich fühlen, während Christan erfüllt davon war. Irgendwo musste er jetzt seine Energie loswerden. Sein Hass wollte sich einen Weg nach draußen bahnen. Wie von Sinnen rannte er los.
...
Bastian Mühlenberg von der Zonser Stadtwache traute seinen Augen nicht. Bereits zum zweiten Mal in diesem Monat wurde er zum Krötschenturm gerufen. Der Turm war einer von vier großen Türmen, die jeweils die Ecken der Stadtmauer von Zons verstärkten. In Kriegszeiten dienten alle Türme als Wehrtürme zur Verteidigung der Stadt, aber in Friedenszeiten wurden sie für andere Zwecke genutzt.
Der Krötschenturm, der sich an der nordwestlichen Seite befand, beherbergte Kranke und Schwache. Immer wieder brachen Seuchen aus und die Stadtherren achteten streng darauf, Kranke mit ansteckenden Leiden bis zur Genesung oder schlimmstenfalls bis zu ihrem Tod in den Krötschenturm zu verbannen. Erst vor zwei Wochen waren zerstückelte Tierreste, vermutlich von Hühnern, in einer Ecke neben dem Krötschenturm gefunden worden. Da Bastian als Mitglied der Zonser Stadtwache seit nunmehr über einem Jahr für kriminelles Gesindel sowie Mord und Betrug verantwortlich war, wurde er in solchen Fällen stets zu Hilfe gerufen. Bastian war außerordentlich beliebt bei den Zonser Bürgern. Insbesondere das weibliche Geschlecht lag ihm zu Füßen, was nicht nur in seiner muskulösen Gestalt, seinem markanten Gesicht oder seinen blonden Strubbelhaaren, sondern vor allem in seinem Mut und seiner Tapferkeit begründet war.
Bereits zwei üble Unholde hatte er in seiner kurzen Amtszeit zur Strecke gebracht. Der erste Verbrecher vergewaltigte und ermordete mehrere junge Frauen nach einem bestimmten Muster, was ihm in Zons und Umgebung den Namen »Puzzlemörder« eingebracht hatte. Der andere missbrauchte das Beichtgeheimnis, um anschließend mit einer goldenen Sichel die Kehlen unschuldiger Bürger aufzuschlitzen. Schmerzhaft erinnerte sich Bastian an seinen ältesten Bruder Heinrich, der, wie viele andere auch, dem Sichelmörder zum Opfer gefallen war. Bis heute hatte Bastian seine Leiche nicht beerdigen können. Eine Bürde, die er bis an sein Lebensende mit sich herumschleppen musste.
Seit diesen düsteren Mordfällen war es bis auf ein paar Hexenverbrennungen ruhig geworden im kleinen Städtchen Zons. Hin und wieder wurde gestohlen, aber Gewalttaten gab es keine, wenn man von den zerstückelten Tierresten einmal absah. Bastian trat näher an die blutigen Fellreste heran. Diesmal waren es keine Hühner, soviel konnte er aufgrund der fehlenden Federn schlussfolgern. Das Fell erinnerte ihn an das eines Hundes, vielleicht war es auch ein Wolf. Bastian ergriff einen Knüppel und stocherte in dem Haufen herum. Die breiige Masse aus blutigem Fleisch gab zäh unter seinem Druck nach. Einzelne Knochen waren gebrochen. Die Rasse des Hundes war nicht mehr zu erkennen. Bastian würde in der ganzen Stadt herumfragen müssen, um herauszufinden, welcher Bürger zu Schaden gekommen war. Ansonsten erschien dieser Fall eigentlich uninteressant. Wenn er den Täter dingfest machte, würde er für den Diebstahl bestraft werden. Aber dafür brauchte er zumindest einen Zeugen, der ihn auf die richtige Spur brachte. Anhand der zerfetzten Überreste konnte er nicht viel herausfinden.
In Bastians Magengrube machte sich Unruhe breit. Er hatte das Gefühl, dass er nicht zum letzten Mal einen derartigen Fund gemacht hatte. Dieses Tier war größer als das Federvieh, welches Bastian vor zwei Wochen an diesem Ort vorgefunden hatte. Fast machte es den Eindruck, als würde der Täter eine immer höhere Dosis benötigen. So als ob ein Huhn nicht mehr genug wäre und die Opfer immer gewichtiger werden mussten, um das Blut des Täters zum Rauschen zu bringen.
»Das war der Bucklige, ich habe es genau gesehen!« Die alte Frau zeigte mit zitternden Fingern auf den Kadaver. »Er schleicht ständig hier herum. So sperrt ihn doch endlich in den Juddeturm, Bastian Mühlenberg.«
Bastian betrachtete die Alte mitleidig. Seit ihr Sohn im Neusser Krieg ums Leben gekommen war, konnte Jonata Heusenstamm keine Freude mehr empfinden. Ihr ganzes Leben bestand nur noch aus Bitterkeit, die insbesondere dadurch zum Ausdruck kam, dass sie ihre Umgebung und Mitmenschen für alles anklagte, was schief ging.
»Ich werde mit ihm sprechen, Jonata. Bis ich Beweise habe, bitte ich Euch, Eure Zunge zu hüten und keine Verdächtigungen mehr auszusprechen.« Bastian richtete sich zu voller Größe auf: »Oder könnt Ihr seine Schuld tatsächlich beweisen?«
Die Alte verzog ärgerlich den Mund. »Glaubt mir oder lasst es sein, Bastian Mühlenberg. Möge Gott Euch auf den richtigen Weg führen, aber ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und wollte weggehen.
Bastian hielt sie zurück. »Nun, wenn Ihr es wirklich gesehen habt, Jonata, dann erzählt mir doch genau, wie es sich zugetragen hat.«
Die Alte blieb stehen und seufzte dankbar.
»Er kommt immer genau um Mitternacht. Verhüllt in einen schwarzen Umhang schleicht er hier herum. Er läuft nicht aufrecht, sondern gebeugt. Deshalb weiß ich, dass es der Bucklige ist. Manchmal hat er ein armes Tier dabei, manchmal nicht.«
Jonata machte eine Pause, um die Wichtigkeit des nächsten Satzes hervorzuheben.
»Und gestern hat er diesen armen Hund dabei gehabt. Wenn Ihr mich fragt, Bastian Mühlenberg, war es noch ein Welpe. Das Tier sprang fröhlich und nichts ahnend umher und der Bucklige hat ihm mit einem großen Mauerstein den Garaus gemacht. Der Hund war längst tot, aber der Bucklige hat nicht aufgehört, den Stein auf ihn niedersausen zu lassen.«
Angewidert spuckte sie aus.
»Er hat sein Fleisch regelrecht zu Brei geschlagen, aber das könnt Ihr ja selbst sehen.«
Bastian stöhnte innerlich auf. Wie er bereits vermutet hatte, war Jonata wenig hilfreich. Ihre Beschreibung passte auf jeden Zonser Bürger, der einen schwarzen Umhang besaß. Er ließ die verbitterte Alte mit einem freundlichen Nicken stehen und verließ unverrichteter Dinge diesen schaurigen Ort.
...
Pfarrer Johannes nahm seinen Platz im Beichtstuhl ein. Seine Leibesfülle war in den letzten Monaten so üppig geworden, dass die Stunden in dem engen Kasten mittlerweile eine Belastung für ihn waren. Schmerzhaft drückte das dicke alte Holz in seine Seiten. Heute würde wieder ein anstrengender Tag werden. Mehrere Gläubige hatten sich zur Beichte angemeldet und Johannes war zu pflichtbewusst, als dass er sein körperliches Wohlbefinden über seine geistlichen Pflichten stellte. Die erste Gläubige begann sogleich, atemlos ihre Sünden aufzuzählen.
Pfarrer Johannes mahnte sich selbst zur Geduld. Diese Frau war für ihn so lästig wie eine Fliege. Es fiel ihm schwer, ihr zuzuhören. Trotz seiner Gutmütigkeit hatte er Schwierigkeiten, ihr Liebe und Zuneigung entgegenzubringen. Er fragte sich, warum Gott es ihm so schwer machte. Sie zählte ihm stundenlang Sünden auf, die eigentlich keine waren. Es kam ihm vor, als ob es ihr nicht möglich wäre, einfach einmal zu schweigen. Als sie ihm erzählte, wie ihr Ehemann ihr aus dem Weg ging, nachdem sie ihm wiederholt eine ihrer Geschichten aufzwängen wollte, musste Johannes sich ein Lachen verkneifen. Er konnte ihn nur allzu gut verstehen.
Eine Beichte glich der anderen und nach über zwei Stunden fiel es Pfarrer Johannes immer schwerer, in dem engen Beichtstuhl zu sitzen. Es zwickte und zwackte ihn am ganzen Körper und sein Rücken begann zu schmerzen, als Gilig zu ihm in den Beichtstuhl stieg. Was wollte der Bucklige ihm erzählen? Johannes vergaß für einen Moment sein Unwohlsein und hörte aufmerksam zu.
Stotternd und in gebrochenem Deutsch begann Gilig zu sprechen: »Er hat so schönes Haar. Ich mag ihn sehr.«
Johannes hielt seinen Kopf dichter an das Beichtgitter. Seine Augen suchten Gilig im Dunkeln. Er sah, wie sich der Bucklige versonnen mit der rechten Hand über die Brust strich.
»Wer hat schönes Haar, Gilig? Von wem sprecht Ihr?«
»Junge, der aussieht wie anderer Junge. Hat so schönes braunes Haar. Gilig möchte ihn anfassen.«
Johannes traute seinen Ohren nicht. Dieser Bucklige begehrte offenbar junge Knaben. Er musste unbedingt herausfinden, auf wen Gilig es abgesehen hatte, bevor etwas Schlimmes passierte.
»Gilig, erzählt mir doch genau, welchen Jungen Ihr meint?«
Gilig stotterte: »Ich kenne seinen Namen nicht.«
Johannes fasste nach: «Ihr müsst mir seinen Namen nennen, Gilig. Und Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr diesen Jungen meidet. Sonst werdet Ihr in der Hölle landen.«
Gilig erstarrte bei den Worten von Pfarrer Johannes und brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin. Noch bevor Johannes die Beichte beenden konnte, stand er auf und rannte aus der Kirche.
Pfarrer Johannes erhob sich und starrte Gilig hinterher. Eine düstere Vorahnung beschlich ihn. Gilig war von jeher ein schwieriger Fall gewesen. Als Kind wurde er wegen seines Buckels ständig von den anderen Kindern verspottet. Er war nicht nur körperlich fehlgebildet, sondern auch geistig zurückgeblieben. Mit 25 Jahren hatte er das Gemüt eines kleinen Kindes. Aber das Schlimmste war, dass er auf den Spott der Menschen immer mit Aggressionen reagiert hatte. Pfarrer Johannes hatte viel versucht, um ihn auf einen gottgefälligen Weg zu leiten und ihn lange Jahre davon abhalten können, anderen weh zu tun. Diese neue Entwicklung stimmte ihn sorgenvoll. Er durfte das Beichtgeheimnis nicht verletzen, trotzdem musste er die Sache im Auge behalten. Vielleicht konnte er mehr über Giligs gefährliche Gelüste herausfinden und verhindern, dass er sich und andere unglücklich machte.
...
Geschickt legte er die Schlinge ins Unterholz. Sie war unsichtbar für jeden, der nicht genau wusste, wo sie lag. Es duftete herrlich nach Blaubeeren. Die Früchte waren prall und reif. Sein Magen knurrte und er musste sich selbst davon abhalten, die verlockenden Beeren zu pflücken. Nein, diese waren für sein nächstes Opfer reserviert. Er wusste, dass es genug Menschen gab, die in den kommenden Stunden diesen gewundenen Pfad entlanglaufen würden.
Viele Kinder benutzten ihn als Abkürzung, um schnell in die Stadt zu gelangen. Kinderhände eigneten sich aufgrund ihrer Größe wunderbar für seine Falle. Ihre kleinen Finger würden im Nu stecken bleiben, sobald sich diese nach den reifen Früchten ausstreckten. Dann würde alles blitzschnell gehen. Die Falle schnappte zu und die kleinen Fingerchen wären sein. Schon jetzt hörte er den schrillen Schrei, der sich mit Entsetzen aus der Kinderkehle löste, sobald der Finger von der Hand getrennt würde. Er sah das Engelsgesicht vor sich, wie es erst lächelnd vor Gier die verlockenden Blaubeeren anstarrte, um sich einen Moment später vor Schmerz zu verzerren. Dahin wäre das Engelsgesicht. Verdrängt von einer Teufelsmaske, die mit schiefem Mund und wild funkelnden Augen das wahre Ich eines Menschen zum Vorschein brachte. Das Böse.
Er wusste, dass es das Böse gab. In jedem Menschen machte es sich breit. Er hatte es selbst so oft gespürt, wie es sich langsam anschlich. So unwiderstehlich näherkam, dass er aller guten Vorsätze zum Trotz sein Versprechen brach. Weil er der Gier nicht widerstehen konnte, weil er das Gefühl des Triumphes brauchte wie die Luft zum Atmen und weil er nicht das war, was die Leute in ihm sahen. Er war anders und in diesen Momenten konnte er es voll und ganz ausleben. Es gab ihm Kraft, anschließend wieder normal zu sein, unauffällig - ja sogar uninteressant für alle, die ihn kannten.
Er duckte sich hinter einer dicken Weide. Wie lange würde er heute wohl warten müssen? Die letzten Male waren ihm stets nur Tiere in die Falle gegangen. Erst vor drei Tagen war es ein junger Schäferhund. Tapsig und vollkommen naiv hatte es ihn erwischt. Der dumme Hund hatte ihm vertraut. Sein Instinkt hätte ihn warnen sollen, doch er hatte ihn das Leben gekostet.
Er hatte ihm die Schlinge fest um die Kehle gezogen und ihn anschließend eine lange Strecke bis hin zum Krötschenturm geschleift. Dann hatte er geduldig gewartet, bis die Alte sich vor ihrer Hütte blicken ließ und just in jenem Moment, als sie über die Schwelle trat, fing er an, den Hund zu schlagen. Das war ein Genuss. Ihre Furcht und ihr Entsetzen waren so groß, dass er sie körperlich spüren konnte. Und der Blick des Welpen erst.
Zuerst war es Erstaunen, was er in den braunen Hundeaugen sah und dann kam die Gewissheit. Das war der schönste Moment, der Höhepunkt dieses Abends: die Erkenntnis des Welpen, dass sein Leben zu Ende ging. Dass der Mensch, den er für seinen Freund hielt, zu seinem Mörder wurde. Der Köter schien intelligent und das gefiel ihm sehr. Die dummen Hühner, die er ein paar Wochen vorher erledigt hatte, waren bis zum bitteren Ende ahnungslos. Eigentlich war es so schnell vorüber, dass er es kaum genießen konnte, sie sterben zu sehen. Das machte keinen Spaß. Er wollte, dass seine Opfer ihre Situation erkannten. Dass die Panik wie ein Wildbach durch ihre Blutbahnen schoss. Sie mussten wissen, dass sie keine Chance gegen ihn hatten. Er bestimmte den Zeitpunkt ihres Dahinscheidens. Das war es, was ihn antrieb. Immer und immer wieder wollte er diese Situation erleben. Er konnte nicht genug davon bekommen.
Ein Ast knackte ganz in der Nähe. Vorsichtig beugte er sich vor und spähte durch das undurchdringliche Blätterdickicht der Weide hindurch auf den schmalen Pfad, der direkt an den Blaubeeren vorbeiführte. Da sah er sie.
Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, hüpfte fröhlich den Weg entlang. Ihr langes, derbes Kleid verfing sich in den Dornen der Pflanzen am Wegesrand, doch das schien sie nicht zu stören. Anhand ihrer Kleidung konnte er erkennen, dass sie ein einfaches Bauernmädchen war. Sicher würde sie niemand vermissen.
Die Bauern in der Umgebung hatten viele Kinder und Töchter waren wenig willkommen. Die Söhne packten kräftig auf den Feldern mit an, für die Mädchen musste man eine Mitgift zahlen, wenn man sie loswerden wollte. Praktisch würde er ihren Eltern also einen Gefallen tun.
Das Mädchen blieb abrupt stehen und horchte in den Wald hinein. Für einen kurzen Moment war er sich nicht sicher, ob sie ihn hören konnte, dann ging sie einfach weiter. Direkt vor den duftenden Blaubeeren hielt sie inne. Seine Erregung steigerte sich mit jedem Zentimeter, den sie näher kam. Sie hatte ein Engelsgesicht und in seiner Fantasie stellte er sich vor, sie zu töten. Komm schon, Kleines, greif zu! Die Kleine streckte gerade ihre süßen Finger nach den Früchten aus, als lautes Getrampel sie aufschrecken ließ. Ohne weiter auf die Beeren zu achten, rannte sie davon. Eine Horde Bauerntrampel stapfte polternd den Pfad entlang. Die Halbwüchsigen waren so in ihr eigenes Gealbere vertieft, dass auch sie den Blaubeeren keinerlei Beachtung schenkten. Enttäuscht ließ er sich hinter die Weide zurückfallen. Er würde wohl noch Geduld aufbringen müssen.