VI.
Gegenwart
Er drehte die goldene Münze mit den Fingern seiner rechten Hand. Er hätte Zauberkünstler werden können, so geschickt ließ er den Gulden vom Zeigefinger bis zum kleinen Finger wandern. Die Münze drehte sich dabei um jeden Finger im Kreis. Draußen stand die Sonne halbhoch am Himmel und tauchte die Landschaft in goldenes Herbstlicht. Es war eine gute Jahreszeit. Nicht zu warm und auch nicht eiskalt. Er hasste die Kälte. Sommerliche Temperaturen fand er grundsätzlich angenehm, doch alles verdarb viel zu schnell. Er musste im Sommer minutiös planen. Im Herbst konnte er sich Zeit lassen. Die Verwesung setzte erst viele Stunden später ein und er konnte in Ruhe seine Spuren verwischen. Auch wenn etwas Unvorhergesehenes geschah, blieb meist genug Zeit für eine Korrektur. Im Sommer hingegen musste alles perfekt sein. Es gab keine zweite Chance, denn der Verwesungsgeruch förderte die Leichen im Handumdrehen zutage.
Wie immer ließ er die Münze entscheiden. Kopf oder Wappen? Er schleuderte sie hoch in die Luft und zählte bis drei. Er schloss die Augen, denn er würde den Taler auch blind auffangen können. Ihre Schicksale waren seit jeher miteinander verbunden. Soviel hatte er herausgefunden. Die Blutlinie ließ sich nicht vortäuschen. Jeder Mensch konnte tief in seinem Innersten spüren, ob die Eltern, die ihn großzogen, von seinem Blut waren oder nicht. Viele wollten es gar nicht wissen. Sie glaubten Wurzeln zu haben, wo es gar keine gab. Aber der Schmerz der Wahrheit wäre unerträglich für sie und so ignorierten sie ihr Innerstes und verdrängten alle Zweifel.
Er war anders. Von klein auf hatte er die Unterschiede gespürt. Seine Eltern waren so gut, so liebevoll - er konnte unmöglich ihr Kind sein. Wäre er nicht zufällig auf diese Akte gestoßen, er würde es bis heute nicht wissen. Jetzt aber wusste er alles. Er würde jeden bestrafen, der ihn von seiner Blutlinie getrennt hatte.
Klatschend schlug die Münze auf seinem Handrücken auf. Er wusste, welche Seite oben lag, bevor er es sah: der stehende St. Petrus. Zeit zu handeln!
...
Kommissar Oliver Bergmann war stinksauer. So sauer wie selten zuvor in seinem Leben. Sein Gesicht war puterrot angelaufen und sein Herz pumpte wie ein Turbomotor Blut in gigantischen Mengen durch die zu engen Adern. Wortwörtlich war er kurz davor zu platzen.
»Hör zu, Oliver, ich wusste nicht, dass sie eine Prostituierte ist. Ich habe sie in einer Bar kennengelernt.« Klaus erinnerte sich genau an diesen Abend. Zuvor hatte er heftig mit Sonja gestritten. Sie wollte unbedingt mit ihm zusammenziehen, doch er fühlte sich noch nicht bereit. Niemand aus dem Polizeirevier in seinem Alter wohnte mit einer Frau zusammen. Er fühlte sich viel zu jung und zu cool, um sesshaft zu werden. Wütend über ihr Drängen war er davongestürmt und in die nächste Bar gelaufen, die geöffnet hatte. Nach drei Bier und fünf Schnäpsen war ihm Sophia Koslow wie die absolute Traumfrau erschienen. Er war am Ende dieses Abends so betrunken, dass er nicht einmal mehr mitbekam, wie er sie für die Nacht bezahlte. Sie war jung. So jung, dass sie es aus seiner Sicht nicht eilig haben konnte mit dem Zusammenziehen. Sie wollte Spaß, nichts Ernstes. Am nächsten Morgen riss sie ihr Zuhälter brutal aus dem Bett. Sie hatte nicht genug Freier bedient, weil sie die ganze Nacht nur mit Klaus verbracht hatte. Erst als ihr Zuhälter das Geld nachzählte und bemerkte, dass Klaus in seinem Suff für die ganze Nacht gezahlt hatte, ließ er von Sophia ab.
Klaus konnte diese Szene wieder und wieder in seinem Kopf abspulen: »Braves Mädchen!« Der Widerling klopfte ihr dabei fest auf den Hintern. »Jetzt geh runter. Dein Stammkunde wartet auf dich! Er platzt bald, weil er dich letzte Nacht nicht flachlegen konnte. Also besorg es ihm ordentlich, Sophia!« Er nahm ihr Kinn in die Hand und sah ihr tief in die Augen: »Und vergiss nicht, mein Engel, du gehörst mir!« Sein russischer Akzent war widerwärtig. Der ganze Typ war unterste Schublade mit seinem billigen, aufdringlichen Parfüm und seinen nach hinten gegelten Haaren. Wie ein Lackaffe stolzierte er in seinem zerknautschten Anzug durch das schäbige Hotelzimmer, in das Sophia Klaus für diese Nacht geschleppt hatte.
Für einen Moment spielte Klaus mit dem Gedanken seine Waffe zu ziehen und dem Mistkerl ein Loch in die Stirn zu verpassen, aber Sophias angstgeweitete Augen hielten ihn davon ab. Dieser ängstliche, verlorene Blick war es, der Klaus von diesem Moment an gefangen nahm. War es bis dahin ein Abenteuer im Suff gewesen, so entwickelte er jetzt einen heftigen Beschützerinstinkt für Sophia. Im Laufe der Zeit verliebte er sich.
Von diesem Tag an versuchte er alles, um sie aus dieser üblen Szene zu befreien. Der Puff, der unter dem Namen »Exklusiv-Club« in Dormagen, keine fünf Minuten von Zons entfernt, logierte, war der größte in der Gegend. Die meisten Mädchen dort stammten aus Osteuropa. Vermutlich waren sie alle gegen ihren Willen verschleppt worden. Sophia wollte einfach nur nach Deutschland, raus aus der Ukraine. Wie so viele andere Frauen auch vertraute sie sich einem Menschenhändlerring an, der sie anschließend erpresste. Entweder Prostitution oder eine »exklusive« Rückfahrkarte in die Ukraine.
»Verdammt, Klaus. Ich habe deine Visitenkarte vom Tatort verschwinden lassen, und du Trottel hast nichts Besseres zu tun, als das Mädchen anzurufen.« Oliver rieb sich angespannt die Schläfen. Natürlich wusste Klaus damals gar nicht, dass Sophia Koslow nicht mehr lebte. Wenn Oliver ihn direkt angerufen hätte, dann wäre die ganze Sache vielleicht nie ans Licht gekommen, aber für solche Gedanken war es jetzt zu spät. Verzweifelt überlegte Oliver, wie sie beide aus dieser verflixten Situation ausbrechen könnten, aber sein Kopf war leer.
»Hör mal, Oliver. Ich werde morgen zu Steuermark gehen und ihm die ganze Geschichte offenlegen. Von der Visitenkarte muss doch niemand etwas wissen.« Klaus blickte Oliver an. Am liebsten wäre er für immer in seinem Selbstmitleid versunken. Er hatte die Frau, die er eigentlich liebte, betrogen und noch dazu seinen Partner in Schwierigkeiten gebracht. Und das für eine Prostituierte, die er letztendlich nicht von ihrem Job abbringen konnte. Obwohl er es vor vier Wochen endlich geschafft hatte, sie aus dem »Exklusiv-Club« herauszuholen, war sie bereits eine Woche später auf »www.KAUFmich.com« erschienen. Sie hatte sich dort mit anderen Frauen zusammengetan, die dem schnellen Euro zugeneigt waren.
Klaus würde nie vergessen, wie elend er sich fühlte, als er es herausbekam. Von wegen Menschenhandel und Erpressung. Sie tat es für Geld! Sicher, sie mochte ihn. Aber ihren gutbezahlten Job hätte sie seinetwegen nicht an den Nagel gehängt. Sie hatten sich heftig gestritten, und eigentlich wusste Klaus selbst nicht mehr, warum er sie wieder angerufen hatte. Es war eher eine Gewohnheit als eine bewusste Entscheidung. Jedenfalls wollte er seine unglückliche Affäre mit Sophia endgültig beenden. Sein Beschützerinstinkt war verflogen, spätestens seitdem er herausgefunden hatte, dass sie wirklich eine Hure war und kein armes ukrainisches Mädchen, welches zum Sex gezwungen wird.
Müde rieb Klaus sich die Augen. Morgen würde er reinen Tisch machen. So viel stand fest.
...
Emily starrte angestrengt auf das Navigationssystem ihres Peugeots. Sie konnte es nicht fassen, es hatte sich schon wieder verschluckt. Der blaue Pfeil, der eigentlich ihre aktuelle Position anzeigen sollte, zitterte auf dem kleinen Bildschirm hin und her, als wenn er sich nicht entscheiden könnte, wo es langging. Wütend schlug sie mit der flachen Hand gegen das Display. Fehlanzeige. Der blaue Pfeil war beleidigt verschwunden und das Navigationssystem zeigte nun zu wenige Satelliten an.
Prima, dachte Emily. Das ging ja gut los. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass sie sich bereits um zehn Minuten verspätet hatte. Gerade als sie ihr Smartphone aus der Tasche holen wollte, entdeckte sie am Straßenrand ein großes weißes Schild mit einem roten Kreuz. In schwarzen Buchstaben stand »Krankenhaus« darauf. Das musste es sein! Sie folgte der Beschilderung und bog auf eine einsame Landstraße ab. Rechts und links erstreckten sich Felder, an die zu beiden Seiten Wälder angrenzten. Das Laub hatte sich bereits leicht verfärbt. Die Landschaft erstrahlte in einem unglaublich warmen Licht und Emily konnte sich gar nicht vorstellen, dass inmitten einer so schönen Landschaft eine psychiatrische Klinik beheimatet sein sollte.
Die Straße machte eine sanfte Biegung und Emily brauste mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve. Sie liebte hohes Tempo. Es war aufregend, in den Autositz gedrückt zu werden und dabei das Aufheulen des Motors zu hören. Am liebsten hätte ihr rechter Fuß das Gaspedal nicht mehr losgelassen, aber als ihr ein breiter Traktor entgegenkam, siegte die Vernunft über ihren Wagemut. Mit einem Seufzer nahm sie den Fuß vom Gas.
Emily bog in einen schmalen Waldweg ab. Große Birken säumten den Wegesrand und rauschten im Herbstwind. Der Wald wurde immer dichter und die Sonne verbarg sich hinter den Baumkronen, als der Weg abrupt endete. Ein weiteres Schild wies nach rechts. Emily bog in einen Kiesweg ein. Nach fünfzig Metern erreichte sie ein riesiges schwarzes Eisentor.
Sie hielt an und drückte auf den Empfangsknopf, der aus einer metallenen Säule herausragte. Ohne dass sie etwas sagen musste, öffnete sich das schwere Tor. Wie von Geisterhand schwebten die Flügel auseinander. Emily gab Gas. Der Kies knirschte unter den Rädern, während sie den riesigen Park bewunderte, der sich hinter dem Tor auftat. Große alte Bäume, umgeben von bunten Blumeninseln und formschön geschnittenen Büschen, wechselten sich ab. Zwischen uralten Eichen entdeckte Emily das Haus mit den traurigen Fenstern. Es sah genauso aus wie auf dem Foto. Kleine Türmchen ragten aus dem Dach der prächtigen Villa. Dieses äußerst gepflegte Anwesen wirkte nicht wie ein Krankenhaus, es hätte vielmehr in das Immobilienportfolio eines Multimillionärs gepasst. Emily parkte auf dem Rondell direkt vor dem Eingang. Ihre Autotür schlug mit einem lauten Knall zu.
Sie blickte sich um und erschrak. Die Fenster dieses Hauses wirkten nicht nur wie Augen - es waren Augen. Aus mindestens drei Fenstern wurde sie beobachtet. Deutlich konnte sie die schemenhaften Gestalten, die an den Scheiben klebten, erkennen. Eine Gänsehaut lief ihr über den ganzen Körper. Das war unheimlich. Sie hätte doch darauf bestehen sollen, dass Anna sie begleitete.
Anna war ihre beste Freundin. Sie half ihr immer bei den Recherchen, auch wenn sie eine vielbeschäftigte Bankerin war. Mit Anna an ihrer Seite würde sie sich jetzt wesentlich wohler fühlen. Emily holte tief Luft und zwang sich, auf die Eingangstür zu schauen. Sie wollte nicht, dass die Geisteskranken ihre Furcht bemerkten. Erleichtert nahm sie die Türklinke in die Hand und trat ein. Hier wirkte das Haus schon eher wie eine Klinik.
Weiße, schmucklose Wände und ein grauer Linoleumfußboden betonten die farblose, neutrale Umgebung. Emily entdeckte die hinter einer Säule versteckte Anmeldung. Eine ältere Schwester mit brünetten Locken beugte sich gerade über ein aufgeklapptes Buch und fuhr angestrengt mit den Fingern über die Zeilen. Irgendwie kam sie Emily bekannt vor. Sie trat dicht an den Schalter heran und räusperte sich. Die Schwester sah auf. Ihr erstaunter Blick blieb an Emily haften. »Emily, was machen Sie denn hier?«
Emily brauchte einige Sekunden, bevor sie die Schwester erkannte. »Das gibt es ja nicht, Frau Winterfeld. Ich wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten.« Emily hätte schwören können, dass Annas Mutter in einer Kölner Klinik tätig war.
»Ich habe erst vor ein paar Tagen hier angefangen. Anna hat sicher vergessen, es zu erwähnen.« Frau Winterfeld lächelte, immer noch überrascht. Ihr Finger blieb auf einer Zeile des Kalenders hängen. »Ich habe Ihren Termin gerade im Kalender entdeckt. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Professor Morgenstern.«
...
Professor Morgenstern war viel jünger, als Emily erwartet hatte. Blaue Augen in einem markanten Gesicht, umrandet von einem blonden Lockenschopf, musterten sie interessiert. Die lange, schräge Narbe über seiner rechten Wange fiel Emily sofort ins Auge. Er war nicht besonders groß, dafür jedoch durchtrainiert. Wie ein Professor kam er ihr ganz und gar nicht vor. Er reichte ihr die Hand und lächelte. »Herzlich willkommen in unserer Klinik, Frau Richter. Es freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen.« Sein Händedruck war fest. Er bot Emily den Stuhl vor seinem Schreibtisch an und sie nahm Platz.
»Danke, dass ich so schnell einen Termin bei Ihnen bekommen habe.«
»Kein Problem. Ich habe Ihre Reportagen über den Puzzlemörder und auch den Sichelmörder gelesen. Das war wirklich äußerst interessant. Und ich bin natürlich gerne bereit, Sie bei Ihrem neuen Vorhaben zu unterstützen.« Er zwinkerte ihr freundlich zu.
Emily lächelte schüchtern und zupfte sich am rechten Ohrläppchen. Professor Morgenstern verfolgte jede ihrer Gesten mit wachen Augen.
»Ich möchte meine neue Reportage über das Böse im Menschen schreiben. Insbesondere interessieren mich die sogenannten Psychopathen. Ich denke, dass Menschen mit derartigen Persönlichkeitsstörungen zu den grausamsten Verbrechen imstande sind.«
»Da liegen Sie leider vollkommen richtig mit Ihrer Annahme.« Professor Morgenstern runzelte die Stirn und fuhr mit leiser Stimme fort. »Sie haben sich unsere Klinik sicher wegen der roten Etage ausgesucht. Wir beherbergen hier einige der gefährlichsten Gewaltverbrecher dieses Landes. Jeder dieser Patienten leidet unter einer extremen Persönlichkeitsstörung.« Professor Morgenstern erhob sich bei diesen Worten und ging hinüber zu seinem Aktenschrank, der verschlossen auf der linken Seite des Büros stand.
»Fünf Patienten haben ein psychopathisches Profil.« Er nahm einige Akten heraus und legte sie auf seinen Schreibtisch. Dann holte er eine Lesebrille aus seiner Schublade und setzte sie auf. Erstaunt stellte Emily fest, dass er jetzt wesentlich älter wirkte. »Einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der Psychopathie ist der kanadische Psychologe Robert Hare. Er hat eine Checkliste für die Identifizierung von Psychopathen entwickelt.«
Emily zückte ihren Block und notierte sich diesen Namen. »Woran erkennt man sie?«
»Das ist gar nicht so einfach. Generell liegt bei dieser Persönlichkeitsstörung ein völliges Fehlen von Empathie, Gewissen und Verantwortungsbewusstsein vor. Psychopathen sind mitunter extrem charmant und manipulativ. Ansonsten würden ihnen sicherlich viel weniger Opfer ins Netz gehen.« Professor Morgenstern machte eine kleine Pause und wartete, bis Emily ihre Notizen vervollständigt hatte. Er erklärte ihr, dass es im Wesentlichen zwei Arten von Psychopathen gibt. Den ausnützerischen Typen, einen sprachgewandten Charmeur, der mit Hilfe von Lügen und Manipulation seine Ziele erreicht, und den impulsiven Typen, der sich schnell langweilt, ständig Neues erleben will, oft einen parasitären Lebensstil an den Tag legt und sein Verhalten nicht wirklich unter Kontrolle hat.
Emilys Frage, ob Psychopathen generell »böse« seien, ließ Professor Morgenstern unbeantwortet. Dies war aus seiner Sicht eher ein philosophisches Problem. Jemand der weder Angst noch Reue empfinden und die moralischen Grundsätze eines gesunden Menschen nicht nachvollziehen konnte, musste sicherlich auch anders bewertet werden. Andererseits war Gewalt in der modernen menschlichen Kultur und in Friedenszeiten immer mit dem Bösen verbunden.
In der roten Etage der Klinik lebten fünf Psychopathen, wobei drei von ihnen fast vierzig Punkte auf der Hare Skala erreichten. Zwei hatten bereits mehrere Menschen kaltblütig ermordet. Henri Tiedemann war schon als Teenager gewalttätig und hatte im Alter von zwölf Jahren seine kleine Schwester vergewaltigt. Er gehörte in die Gruppe der impulsiven Psychopathen. Hans Dieter Wellenbrink war erst im Alter von fünfzig Jahren auffällig geworden. Er hatte über zwanzig Jahre hinweg mehrere Frauen entführt, gefoltert und anschließend ermordet. Er war Direktor in einem Versicherungsunternehmen, äußerst charmant und beliebt. Niemand aus seinem Umfeld hätte ihm solche Taten zugetraut.
Und dann gab es noch einen dritten Patienten in der roten Etage. Sein Name war Adrian Helmhold. Als kleiner Junge tötete er alle seine Haustiere. Er tat dies so geschickt, dass seine Mutter erst viel zu spät herausfand, dass Adrian dahintersteckte. Jeder Todesfall sah zunächst wie ein Unfall aus. Mal war das Wasser aus dem Aquarium ausgelaufen. Ein anderes Mal wurde ein Kaninchen von einer Drahtschlinge erdrosselt, die sich einfach so vom Käfig gelöst hatte, und zu guter Letzt starb der Familienhund an einer Vergiftung. Erst als die Mutter die Packung mit dem Gift im Kinderzimmer fand, erkannte sie ihren Irrtum und schickte Adrian zu einem Psychologen. Ungefähr ein halbes Jahr später musste er in die geschlossene Anstalt eingewiesen werden, da er seine Wutausbrüche nicht mehr unter Kontrolle hatte und mit einem Küchenmesser auf seine Tante losgegangen war. Zu diesem Zeitpunkt war Adrian gerade einmal neun Jahre alt.
»Das heißt, Adrian Helmhold sitzt jetzt seit 19 Jahren in der geschlossenen Psychiatrie? Gibt es denn keine Heilungschancen für ihn?«
Professor Morgenstern schüttelte nachdenklich den Kopf. »An der Universität in Tübingen wird zurzeit eine neue Therapiemethode getestet. Aber die steckt noch in den Kinderschuhen.« Er drehte die Akte um, sodass Emily das Foto von Adrian erkennen konnte. Ein blasser, unscheinbar wirkender Mann blickte sie aus unschuldigen Augen an. Emily staunte. Nie im Leben wäre sie darauf gekommen, dass dieser Mann ein Psychopath sein könnte.
Das Telefon riss Emily aus ihren Gedanken. Professor Morgenstern hob ab und runzelte die Stirn. Verstört legte er den Hörer wieder auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Frau Richter. Ich habe gerade eine schlechte Nachricht erhalten. Vielleicht können wir unser Thema ein anderes Mal weiter vertiefen.« Er erhob sich, schüttelte Emily die Hand und führte sie aus seinem Büro. Emily seufzte. Schade, aber dieses Gespräch war wohl vorläufig beendet.
...
»Wir haben drei mögliche Täter ins Visier genommen.« Die Stimme von Oliver Bergmann klang aufgeregt. Die ganze Nacht hatte er mit der Auswertung von Profilen verbracht. Jeden Amerikaner, der im Rhein-Kreis Neuss wohnhaft und bei einem amerikanischen Unternehmen angestellt war, hatte er akribisch durchleuchtet. Ohne Resultat. Die Suche nach deutschen Mitarbeitern, die zum Mordzeitpunkt in Minnesota gewesen waren, hatte immerhin drei Treffer erbracht.
Das Interessanteste daran war, dass einer von ihnen Ronny Hammerschmidt hieß. Ein Mann mit diesem Namen war der letzte Freier von Sophia Koslow gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er auch ihr Mörder war, stieg aus Olivers Sicht in astronomische Höhen. Er hatte vor einem Jahr nicht nur in St. Paul die Gelegenheit gehabt, eine Prostituierte zu töten, sondern er war auch der Letzte, der Sophia Koslow lebend gesehen hatte.
»Hat Ihr Partner noch nicht mit Ihnen gesprochen?« Hans Steuermark unterbrach Oliver unwirsch.
»Nein, wieso?« Oliver blickte Steuermark fragend an.
»Sie sind von dem Fall abgezogen. Alle beide!«
Oliver erhob sich überrascht und beugte sich über Steuermarks Schreibtisch. »Wie meinen Sie das, wir sind abgezogen?«
Hans Steuermark setzte einen unterkühlten Blick auf und erwiderte gereizt: »So wie ich es sage. Ende. Sie werden bis auf Weiteres nach Frankfurt an der Oder versetzt und Ihr Partner ist die längste Zeit Kriminalbeamter gewesen.«
Oliver starrte den Leiter des Kriminalkommissisariats ungläubig an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Doch im Blick von Hans Steuermark entdeckte er nichts als Entschlossenheit. Steuermark hatte sein Urteil gefällt. Plötzlich kraftlos sank Oliver zurück auf seinen Stuhl.
»Ich weiß, dass Sie die Visitenkarte von Klaus Gruber vom Tatort entfernt haben.« Steuermark sah Oliver anklagend an. »Es war die einzige Karte, die fehlte und Ihre Kollegin Petra Ludwig hat die Fakten sofort erkannt.«
Steuermark seufzte laut. »Verdammt, Bergmann, warum haben Sie das getan? Sie hätten doch wenigstens zu mir kommen können, oder glauben Sie, ich hätte Ihnen direkt den Kopf abgerissen?«
Mit einer verzweifelten Geste fuhr er fort: »Durch Ihre Kollegin ist die Sache jetzt offiziell. Ich kann das nicht ignorieren. Wir haben Kokainreste an der Uniform Ihres Partners gefunden. Er steht unter Verdacht, diese Droge konsumiert zu haben. Und Sie hatten nichts Besseres zu tun, als eigenmächtig den Tatort zu verändern! Auch wenn Sie nur Ihren Partner schützen wollten, ich muss Sie zumindest zwangsversetzen. Seien Sie froh, dass Sie nicht suspendiert werden!«
Die Worte prasselten mit solcher Wucht auf Oliver nieder, dass ihm augenblicklich speiübel wurde. Im ersten Moment verfluchte er seinen Partner Klaus, der offensichtlich mit seinem Geständnis alles ruiniert hatte. Dann verdammte er seine Kollegin Petra Ludwig. Diese ehrgeizige blöde Kuh! Warum mischte sie sich in seine Angelegenheiten ein? Hätte sie nicht einfach ihre Klappe halten können? Da konnte sie sich jetzt ja endlich Hoffnungen auf eine Beförderung machen. Immerhin hatte sie direkt zwei Kollegen mit einem Schlag erledigt!
Olivers Kehlkopf schmerzte. Gequält bemühte er sich, seine Wut und Verzweiflung hinunterzuschlucken. Schon wurden seine Augen feucht. Steuermark sah ihn traurig an. »Glauben Sie mir, es ist das Beste, wenn Sie Ihren Dienst erst einmal in Frankfurt an der Oder antreten. Frau Ludwig übernimmt ab sofort die Ermittlungen.« Er tätschelte Olivers Schulter. »Ihr Dienst beginnt morgen. Also fangen Sie an zu packen.«
...
»Wie konntest du so etwas tun und mir nichts davon erzählen? Ich dachte, wir haben keine Geheimnisse voreinander!« Emily schluchzte heftig. Tränen liefen ihr in dicken Strömen über die Wangen und tropften auf ihre Bluse. Ihre Augen funkelten Oliver wütend an.
»Emily, es tut mir leid.« Oliver schüttelte traurig seinen Kopf. »Ich wollte nicht, dass du schlecht von mir denkst. Ich wollte dich nicht belügen. Bitte glaube mir.« Seine Stimme hatte einen flehenden Unterton. Das fehlte ihm jetzt gerade noch. Auf keinen Fall wollte er Streit mit Emily. Ihre Tränen taten ihm weh und rissen tiefe Krater in sein Herz. Er war schuld an ihrem Unglück. »Und was wird jetzt aus uns?«, fragte Emily aufgebracht.
»Wie meinst du das?«
»Frankfurt an der Oder liegt an der polnischen Grenze oder auch am Ende der Welt!«
»Ich komme jedes Wochenende zu dir. Versprochen!« Oliver nahm zärtlich ihre Hände und drückte ihr einen Kuss auf die tränenfeuchten Wangen. »Ich liebe dich, Emily. Du bedeutest mir alles. Ich finde eine Lösung für uns.« Emily zog ihre Hände fort und wandte sich von ihm ab. »Ich muss das erst einmal verdauen, Oliver.« Sie stand auf und ging zur Tür. Oliver wollte sie aufhalten, doch sie stieß ihn von sich. Wortlos verließ Emily die Wohnung. Wie vom Schlag getroffen, blieb Oliver im Flur stehen. Um ihn herum wurde es schwarz. Sein Herz fühlte sich an wie Blei. Schluchzend sank er in sich zusammen.
...
Am nächsten Morgen saß Kommissar Oliver Bergmann mit hängendem Kopf im Zug nach Frankfurt an der Oder. Fast acht Stunden dauerte eine Strecke. Am Abend zuvor hatte er verzweifelt versucht, sich mit Emily zu versöhnen. Doch sie wollte ihn nicht sehen. Sein Herz schlug dumpf. Jeder Schlag hallte in der unendlichen Leere wider, die der Streit mit Emily verursacht hatte. Oliver hatte Angst davor, sie zu verlieren. In seiner Verzweiflung hatte er sich gestern mit seinem Partner Klaus betrunken. Zwei Kästen Bier und etliche Gläser Wodka hatten ihn für kurze Zeit seinen Schmerz vergessen lassen. Oliver fühlte sich so hoffnungslos wie noch nie in seinem Leben. Er liebte seinen Job als Kriminalkommissar, aber noch viel mehr liebte er Emily. Ohne sie machte sein Leben keinen Sinn. Sein Kopf brummte.
Am Fenster flog die herbstliche Landschaft vorbei, doch auch die warmen Farben konnten seine Stimmung nicht heben. Immer noch benebelt vom Alkohol, schloss Oliver die Augen, und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Gerade als er eingedöst war, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Genervt hob er die Lider einen Spaltbreit.
»Was machst du denn hier?«, entfuhr es ihm überrascht. Sein Partner Klaus - oder vielmehr Ex-Partner - blickte ihn aus verquollenen Augen an. Sein Atem roch streng nach Bier.
»Sonja hat sich von mir getrennt.« Klaus setzte sich schwer atmend neben Oliver. »Ich habe erst einmal keinen Job mehr, und da dachte ich mir, ich gehe mit dir ins Exil.« Klaus kicherte leise. »Ich war noch nie so weit im Osten.«
Oliver stöhnte und lehnte den Kopf zurück. Er wäre lieber alleine gewesen und hätte sich die ganze Zugfahrt hindurch an seinem Selbstmitleid geweidet. Stattdessen hatte er jetzt Klaus am Hals. Wäre Klaus nicht dieser Nutte in die Arme gelaufen, könnten sie jetzt beide im Büro sitzen und Mörder jagen. Oliver schüttelte den Kopf und wollte gerade den Mund zu einer längeren Rede öffnen, als Klaus ihn unterbrach: »Hör mal Oliver. Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Das kann ich so schnell auch nicht wieder gut machen. Aber ich kann dich unterstützen. Egal, was du brauchst. Ich helfe dir. Bitte lass mich nicht auch noch hängen, Partner.« Klaus sah Oliver mit einem bettelnden Blick an. Oliver seufzte. Er konnte Klaus einfach nichts abschlagen. Immerhin hatte er ihm alles beigebracht, was er als Kriminalkommissar wissen musste. Vom ersten Tag an hatte Klaus ihn unterstützt, obwohl Oliver neu und unerfahren war.
Er nickte schwerfällig und klopfte Klaus auf die Schulter. »Also gut, Klaus. Aber du versprichst mir, dich nie wieder in Schwierigkeiten zu bringen? Ist das klar?«
Klaus atmete erleichtert auf. »Total klar!« Erschöpft ließ er sich an die Rücklehne sinken und schlief auf der Stelle ein.
Oliver versuchte ein weiteres Mal, Emily ans Handy zu bekommen, doch sie drückte ihn weg. Verdammt, dachte er, sie ist immer noch sauer auf mich. Ich muss mir dringend etwas einfallen lassen.
Er steckte sein Handy zurück in die Tasche und schloss die Augen. Immerhin, er hatte noch mehr als sechs Stunden Zugfahrt vor sich. Vielleicht fiel ihm bis dahin etwas ein.
...
Emily saß mit vom Weinen geröteten Augen auf Annas Wohnzimmercouch. Anna war Emilys beste Freundin. Sie wohnte direkt in der Zonser Altstadt, an der Rheinstraße vier. Das Häuschen lag neben dem Rheinturm. Früher wurde dieser Turm auch Zoll- oder Petersturm genannt. Da das Häuschen bereits innerhalb der dicken Stadtmauern von Zons lag, gab es keine Parkplätze direkt vor dem Haus. Deshalb hatte Emily ihren Wagen auf dem großen Parkplatz am Rheinturm abgestellt, der eigentlich für die vielen Besucher gedacht war, die jedes Wochenende das kleine Zons bevölkerten und die gerne durch dieses wunderbar erhaltene mittelalterliche Städtchen spazierten. Von diesem Parkplatz aus gelangte man direkt durch eine kleine Unterführung zum Hauseingang von Annas Appartement, welches sich im Obergeschoss befand. Anna arbeitete bei einer kleinen Düsseldorfer Bank und war mit Leib und Seele Bankerin. Ihre beste Freundin so am Boden zerstört zu sehen, schmerzte sie.
»Emily, er hat dir doch versprochen, dich jedes Wochenende zu besuchen. Er hat doch gar nicht vor, dich zu verlassen. Er liebt dich, da bin ich mir ganz sicher.« Anna hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Sie kannte den Blick nur zu gut, mit dem Oliver Bergmann Emily jedes Mal ansah, wenn sie in seiner Nähe war. Er war eindeutig verrückt nach ihr. Wie sehr wünschte sich Anna, dass ein Mann sie so ansehen würde. Sie hatte sich in den letzten Monaten derart intensiv in ihre Arbeit vergraben, dass sie Männer nur noch als Arbeitskollegen wahrnahm. Außerdem war ihr Herz immer noch von Bastian Mühlenberg gefangen. Anna seufzte. Bastian hatte sie auch mit diesem Blick angesehen. Seine tiefbraunen Augen hatten sie fast verschlungen und das Funkeln in ihnen hatte ihr Herz laut klopfen lassen. Sie schüttelte den Kopf. Emily hatte ihr eingeredet, dass Bastian Mühlenberg nicht real sein konnte. Er lebte vor über fünfhundert Jahren in Zons und war Soldat in der Stadtwache. Aber Anna war sich sicher, ihn getroffen zu haben. Sie erinnerte sich genau an sein Lächeln, seine blonden Strubbelhaare und die hohen Wangenknochen. Er hatte sie vor dem Puzzlemörder gerettet und er war es, der Kommissar Oliver Bergmann sicher durch das Labyrinth von Zons geleitet hatte. Sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen! Hinzu kam, dass sie auch heute noch oft von ihm träumte. Erst letzte Nacht hatte sie ihn am Krötschenturm gesehen, wo er mit einer hässlichen alten Frau einen Tierkadaver untersuchte. Verstört fuhr sich Anna mit ihrer Hand durch die langen Locken. Wahrscheinlich war sie kurz davor, verrückt zu werden. Sie bekam diesen Mann einfach nicht aus ihrem Kopf.
»Glaubst du das wirklich?« Emily riss Anna aus ihren Gedanken.
»Was?«
»Na, dass er mich liebt.«
»Ach so, natürlich. Ich bin mir hundertprozentig sicher.«
»Aber warum hat er mich angelogen?« Emilys Handy begann zu vibrieren.
»Willst du nicht endlich einmal rangehen? Der arme Kerl versucht jetzt zum hundertsten Mal, dich zu erreichen. Willst du ihn wirklich so leiden lassen?«
»Er hat mich angelogen!« Emilys Stimme war die eines trotzigen Kindes.
Anna schüttelte lächelnd den Kopf. Typisch Emily, dachte sie, ihr italienisches Temperament schlug wieder einmal zu. Kommissar Oliver Bergmann würde noch mächtig Überzeugungsarbeit leisten müssen, wenn sie ihm verzeihen sollte.
»Hör zu, Emily. Ablenkung ist die beste Medizin bei Liebeskummer. Ich schlage vor, wir fahren zu Professor Morgenstern und beenden die Recherche für deinen neuen Artikel. Außerdem kann ich parallel meiner Mutter einen Besuch abstatten. Sie wird sich sicher freuen, wenn sie mir ihren neuen Arbeitsplatz zeigen kann.«
Emily sah Anna aus verweinten Augen an. Sicher hatte sie recht. Ablenkung war eine gute Methode, um die Gedanken an Oliver zumindest für ein paar Stunden aus ihrem Kopf zu verbannen. Warum hatte er sie angelogen? Sie hatte ihm aus tiefstem Herzen vertraut. Warum benahmen Männer sich nur ständig daneben? Es schien ihr fast so, als wären sie nur dazu da, einem das Leben schwer zu machen. Sie betrachtete Anna. Ihr ging es letztendlich besser. Ihr konnte niemand weh tun. Vielleicht sollte sie sich wirklich trennen und das Leben als glückliche Single-Frau verbringen. Doch ein Blick in Annas grüne Augen ließ Emily plötzlich zweifeln. Nein, Anna war nicht glücklich. Die Sehnsucht war ihr nur allzu deutlich anzusehen. Trotzdem, sie würde Oliver noch zappeln lassen. Er sollte merken, dass er mit ihr nicht so umgehen durfte. Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor, kniff die braunen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und folgte Anna, die bereits ungeduldig mit dem Haustürschlüssel klapperte, aus der Wohnung.