II.

Gegenwart

 

 

Er hatte wieder diesen Traum. Er träumte ihn seit nunmehr über zwanzig Jahren. Seit jenem Tag, an dem er zum ersten Mal in einen grünen Kittel gekleidet in seinem Labor gestanden und die Temperatur am Brüter überprüft hatte, so wie er es auch heute wieder tat. Sie nannten das Gerät Brüter, weil es immer dieselbe Temperatur von 37 Grad anzeigen musste. Es war wichtig, dass die Wärme immer gleichmäßig blieb. Auch die Luftfeuchtigkeit wies konstant 100 Prozent aus. Würde ein kalter Luftzug die Temperatur nur um ein Grad senken, auch nur für ein paar Minuten, würden die Eier nicht überleben. Einmal war es ihm passiert. Er hatte die Klappe nicht richtig verschlossen und es zu spät bemerkt. Die Eier hatten eine hässliche braune Verfärbung angenommen und ließen sich trotz aller Versuche nicht mehr befruchten.

Er ging hinüber zu dem Labortisch, auf dem ein weißes Mikroskop stand. Es war sein Lieblingsgerät, ein Mikroskop mit automatischer Helligkeitsregelung und einem elektronisch gesteuerten Annäherungssensor, der anhand der Pupillenstellung seiner Augen die vollautomatische Steuerung der Mikroskopfunktionen übernahm. Vorsichtig nahm er eine Glasschale in die Hand und klemmte sie auf dem Halter ein. Dann rückte er seine Brille zurecht. Eine Geste, die er bis heute beibehalten hatte, obwohl sie eigentlich völlig unnötig war, denn sein neuestes Mikroskop war so modern, dass es kein Okular mehr hatte und die Bilder mithilfe einer hochauflösenden Digitalkamera direkt auf seinen Bildschirm übertrug. Doch noch war er gefangen in seinem Traum. Unruhig wälzte er sich im Bett umher, während sein zwanzig Jahre jüngeres Ich durch das Okular seines alten Lieblingsmikroskops starrte.

Der Anblick brachte sein Blut zum Rauschen. Fantastisch! Tausende kleine Lümmel tummelten sich in der Petrischale. Die Spermien waren gereinigt und bereit für den Endspurt. Dies war seine Lieblingsphase. Gleich würde er sie mit den Eizellen zusammenbringen und dann für 24 Stunden in den Brutschrank stellen. Schon morgen würde er wissen, wie viele der Eizellen befruchtet worden waren. Unter dem Mikroskop konnte er erkennen, ob die Spermien in die Eizelle eingedrungen waren und ob sich zwei Vorkerne gebildet hatten. Dann würde er noch weitere 24 Stunden abwarten müssen, bis winzige Embryos heranreiften. Kleine Zellhaufen - im Vier- bis Acht-Zell-Stadium, welche der Arzt mit Hilfe einer langen Pipette in die Gebärmutter der Patientin einpflanzte.

Er, Hans-Peter Mundscheit, war der Erzeuger dieser Embryos. Nicht der biologische Vater. Nein, natürlich nicht. Aber er verhalf all jenen Paaren zum Kindersegen, bei denen es auf herkömmlichem Wege nicht funktionierte. Seinen Fähigkeiten als leitender Biologe des IVF-Labors an der Universität zu Köln war es zu verdanken, dass Hunderte von Kindern im Jahr das Licht der Welt erblickten, die es eigentlich nie gegeben hätte. Er erschuf Leben.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Im Nebenzimmer hatte eine Patientin auf dem Stuhl Platz genommen. Ihre nackten Beine waren weit gespreizt und ein greller Neonstrahl leuchtete in ihr Innerstes hinein. Durch das kleine Fenster in der Labortür konnte er deutlich die rosa Färbung ihrer Schamlippen erkennen. Mit glänzendem Edelstahl untersuchte der Arzt ihre Geschlechtsorgane. Die Frau hielt die Augen geschlossen, trotzdem war sie nicht entspannt. Mundscheit konnte ihr die Nervosität regelrecht ansehen. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich aufeinandergepresst, die Hände hielt sie ineinander verkrampft über ihrem Bauch.

»Es sieht alles sehr gut aus«, sagte der Arzt mit ruhiger Stimme und legte das Instrument aus der Hand. Dann schaltete er einen kleinen Monitor an und griff nach dem Stab-Ultraschallkopf. Er streifte ein Kondom darüber und spritzte durchsichtiges Gleitgel darauf. Dann führte er das Gerät in die Vagina der Patientin ein, ohne dabei die Augen vom Monitor abzuwenden. Ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, als das kalte Gel ihre Schamlippen berührte, doch sie hielt ihre Augen weiter geschlossen.

»Die Schleimhaut ist hoch genug aufgebaut. Wir können den Transfer morgen durchführen.«

Zufrieden zog der Arzt die Vaginalsonde heraus und warf das Kondom in einen Abfalleimer.

»Sie können sich wieder anziehen«, mit diesen Worten drückte er ihr ein Papiertuch in die Hand und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Die junge Frau wischte sich das Gel von ihren Schamlippen und verschwand hinter einem schäbigen blauen Vorhang.

»Wie viele Embryos sollen wir transferieren? Wir haben fünf befruchtete Eizellen, und drei davon haben sich hervorragend weiterentwickelt.«

Der Arzt sah die junge Frau fragend an, die jetzt - immer noch an ihrer Bluse nestelnd - auf dem Patientenstuhl direkt vor seinem Schreibtisch saß. Sie war ohne Zweifel attraktiv. Ihre grünen Augen waren von langen dunklen Wimpern umrandet, und ihr langes brünettes Haar lockte sich über ihren Schultern.

»Ich möchte nur einen Embryo zurückhaben«, antwortete sie, ohne zu zögern.

Der Arzt runzelte die Stirn. »Sie wissen doch, dass die Chance auf eine Schwangerschaft am größten ist, wenn Sie sich mindestens zwei Embryos transferieren lassen?«

»Ja, das weiß ich. Aber ich habe mich entschieden. Suchen Sie einen aus und vernichten Sie den Rest.« Mit diesen Worten deutete die junge Frau ein nervöses Lächeln an und erhob sich.

»Ja, aber ...«

»Professor Neuhaus«, unterbrach sie ihn diesmal forsch, »ich sagte doch, ich habe mich entschieden.« Wieder schüchtern fügte sie hinzu: »Bitte belassen wir es dabei.«

Sie reichte ihm die Hand zum Abschied und wandte sich dem Ausgang zu. Beim Hinausgehen blickte sie für einen kurzen Moment nach links und starrte durch den Fensterschlitz der leicht geöffneten Labortür. Hans-Peter Mundscheit zuckte heftig zurück. Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen! Nein, das konnte nicht sein, versuchte er sich zu beruhigen. Das Glas war von der anderen Seite verspiegelt. Sie konnte nicht hindurchblicken. Doch ihre Augen verfolgten ihn. Schweißgebadet wachte Mundscheit auf. Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hatte.

 

 

...

 

 

Kommissar Oliver Bergmann stand vor seinem Spiegel im Bad und reckte angestrengt das stopplige Kinn empor. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Der weiße Rasierschaum tropfte zäh über seine Hand ins Waschbecken hinunter, während er versuchte, das Grübchen an seinem Kinn glattzurasieren. Oliver besaß diesen Nassrasierer erst seit wenigen Tagen. Er hatte sich immer noch nicht an die neue Technik gewöhnt. Seine Haut war gerötet und gereizt. Gerade bahnte sich die scharfe Doppelklinge eine schmale glatte Bahn vom Kinn in Richtung Kehlkopf hinunter, als sein Handy schrill klingelte. Oliver zuckte zusammen.

»Mist«, fluchte er laut, als sich ein feines rotes Rinnsal mit dem weißen Rasierschaum zu mischen begann. Er hatte sich geschnitten. Wütend warf er den Rasierer ins Waschbecken, griff sich ein Handtuch und ging zurück ins Schlafzimmer. Sein Diensthandy vibrierte auf dem Bett und gab dabei unaufhörlich einen aufdringlichen Klingelton von sich.

»Oliver Bergmann, was gibt es?« Seine Stimme klang gereizt.

»Wir haben eine Frauenleiche gefunden. Sie ist ziemlich übel zugerichtet. Die Spurensicherung ist bereits auf dem Weg ...«

»Die sollen den Tatort nicht anrühren, bevor ich da bin«, unterbrach Oliver den Polizisten am anderen Ende der Leitung. »Geben Sie mir die Adresse und ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Okay. Neckarstraße 25 in Dormagen-Hackenbroich, dritte Etage.«

Oliver legte auf. Das fehlte ihm gerade noch. Erst in der letzten Woche hatten sie eine Frauenleiche aus dem Rhein gefischt. Die Leiche war so aufgedunsen und stark verwest, dass er ihren Geruch bei dem bloßen Gedanken daran stechend in der Nase spürte. Von ihrem Anblick ganz zu schweigen! Bis heute hatten sie nicht die geringste Spur und eigentlich war sein kompletter Tag mit der Befragung von Zeugen verplant.

Sein Partner Klaus war noch eine weitere Woche im Urlaub. Er war kaum weg gewesen, da türmten sich bereits die neuen Fälle auf Olivers Schreibtisch. Wie sollte er das alles nur alleine schaffen? Außerdem war er heute Abend mit Emily verabredet. Ein Treffen, welches er unter gar keinen Umständen verpassen wollte. Sie waren jetzt seit sechs Monaten ein Paar, und Oliver hatte das Gefühl, noch nie in seinem Leben so glücklich gewesen zu sein. Ihr leidenschaftliches italienisches Temperament und ihre Schönheit hatten ihm von der ersten Sekunde an den Verstand geraubt. Alle seine früheren Bekanntschaften verblassten neben ihr zu einer grauen Masse.

Verträumt griff Oliver nach dem Rasierer und sah in den Spiegel. Seine stahlblauen Augen richteten sich auf die Reste des weißen Rasierschaums an seinem Kinn. Das Blut aus dem schmalen Schnitt war bereits geronnen. Vorsichtig begann Oliver, die restlichen Bartstoppeln zu entfernen. Er hatte sich bewusst diesen Nassrasierer zugelegt, um Emilys zartes Gesicht nicht weiterhin mit seinen Bartstoppeln zu malträtieren. Sie hatte sich zwar nur einmal beschwert, aber seitdem glaubte Oliver, eine sanfte Zurückhaltung ihrerseits beim Küssen zu spüren. Das wollte er ändern. Heute sollte ihre ganze Leidenschaft ihm und seine Stoppeln der Vergangenheit angehören. Zufrieden grinste er sein Spiegelbild an und strich sich über das Kinn und die Wangen. Glatt wie ein Babypopo, dachte er und machte sich auf den Weg zu seinem neuen Tatort.

 

 

...

 

 

Wie sie ihn anwiderte. Er hatte weder Worte dafür noch wusste er, wie er es jahrelang mit dieser Person hatte aushalten können. Ihre fette, schwabbelige Haut hing schlaff von ihren Oberarmen hinunter, während sie sich bemühte, den Staub aus dem hintersten Winkel des obersten Küchenregals zu putzen. Dieser Reinigungsfimmel ging ihm unheimlich auf die Nerven. So sehr, dass er bewusst Dreck machte, nur um sie zu ärgern. Um zu sehen, wie sie sich aufregte. Wie sich ihre vertrockneten Lippen spitzten und sich ihr Doppelkinn in so viele Falten legte, dass er diese gar nicht mehr zählen konnte. Doch am meisten störten ihn ihre kleinen braunen Augen. Sie blickten stumpf, ohne jeglichen Glanz und strahlten ihre ganze Dummheit aus. Er hatte sich lange mit der menschlichen Intelligenz beschäftigt und nach ausgiebigen Tests festgestellt, dass sie sich am unteren Rand des Möglichen befand. Gerade so viel, um in dieser Welt zu überleben, aber zu wenig, um ihm etwas bieten zu können. Geschweige denn, dass er von ihr lernen könnte.

Wie, so fragte er sich zum tausendsten Male in seinem Leben, wie konnte diese Person seine Mutter sein?

Als wenn sie seine Gedanken gehört hätte, hielt sie inne und sah sich zu ihm um. Doch statt ärgerlich oder bösartig dreinzublicken, lächelte sie ihn an. Das war zu viel für ihn. Wütend erhob er sich vom Küchentisch und rannte hinaus in den Garten. Der Garten, wenn man ihn überhaupt als solchen bezeichnen wollte, war gerade einmal 50 Quadratmeter groß und von dicken alten Mauern begrenzt. Sie bestanden aus uralten Steinen, fast so alt wie die Stadtmauern selbst, die den winzigen Ort umgaben, in dem er mit seiner Mutter lebte - Zons am Rhein.

Manchmal glaubte er, innerhalb dieser Mauern zu ersticken, die ihm jegliche Freiheit nahmen und ihn davon abhielten, einen größeren Abstand zwischen sich und seine Mutter zu bringen. Gut, seit er mit dem Studium in Köln begonnen hatte, war es besser geworden. Zumindest musste er sie nicht mehr den ganzen Tag ertragen. Eine Zeit lang hatte er überlegt, in ein Studentenappartement nach Köln zu ziehen, um sie ganz vom Hals zu haben. Aber er kannte sie nur zu gut, sie würde ihn trotzdem nicht in Frieden lassen und wäre wahrscheinlich mehrmals täglich bei ihm aufgetaucht. Hier in diesem Haus konnte er sie wenigstens aus seinem Reich verbannen und er konnte das Haus verlassen, wenn sie ihn zu sehr nervte. Im Studentenwohnheim hätte er nicht so einfach weggehen können, dann wäre sie alleine in seinem Zimmer geblieben und das wollte er nicht. Hinzu kam der ganze Trubel rund um das Studentenwohnheim. Ein ständiges Kommen und Gehen, was ihn früher oder später sicherlich um den Verstand gebracht hätte. Und so war er nicht ausgezogen, sondern bei ihr in Zons geblieben.

»Kevin, kannst du mir helfen?« Ihre Stimme klang panisch. Missmutig hob Kevin den Kopf und blickte zum Haus. Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust wieder hineinzugehen, doch er antwortete: »Ich komme.«

Mit fünf großen Schritten durchquerte er den kleinen Garten und fand seine Mutter blutend über die Spüle gebeugt. »Ich habe mich geschnitten, mein Junge.«

Kevin betrachtete die Wunde. Es gefiel ihm, wie das hellrote Blut über die aufgedunsene weiße Haut ihres Unterarmes lief. Im Sekundentakt strömte es stoßweise aus der Wunde hervor und versickerte anschließend im Abfluss der Küchenspüle. Kevin wusste, dass sie sich eine Arterie verletzt hatte. Arteria radialis, die Unterarmarterie, die am häufigsten zum Ertasten des Pulses genutzt wird. Erst im letzten Semester hatte er gelernt, welche Blutgefäße den menschlichen Körper mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgten. Hätte sie sich an einer Vene verletzt, wäre dunkelrotes Blut aus dem Schnitt gedrungen.

Mit geübten Handgriffen versorgte er ihre Wunde. Er hätte sie gerne genäht, doch sie war viel zu klein und würde sich mit etwas Druck von selbst wieder verschließen. Er zögerte noch eine Weile und ließ dann seufzend ihren Arm sinken. Dankbar tätschelte seine Mutter Kevins Wangen. Dort, wo sein Herz eben noch Fürsorge für sie empfunden hatte, machte sich erneut Abscheu breit. Er hasste es, wenn sie ihn so berührte.

»Pass das nächste Mal besser auf, Mutter.« Mit diesen Worten drehte er seinen Kopf von ihrer fetten Hand fort und ging hinauf in sein Zimmer. Kaum hatte er die Tür verschlossen, ließ er sich tief atmend auf sein Bett fallen. Er schloss die Augen und sah erneut hellrotes Blut auf das silberne Edelmetall der Spüle tropfen. Der Kontrast von kaltem Stahl und warmem Blut gefiel ihm außerordentlich. Kevin öffnete die Augen und heftete seinen Blick auf den Schreibtisch. Eine abgemagerte weiße Maus lief dort hektisch in einem kleinen Drahtkäfig hin und her. Zwischendurch blieb sie stehen und reckte witternd ihre Nase empor.

Sie spürte seine Anwesenheit. Er wusste es. Geschmeidig wie ein Tiger erhob er sich von seinem Bett und schlich sich wie ein Jäger an den Käfig heran. Die Maus blieb auf der Stelle sitzen und rührte sich nicht mehr. Ihre kleinen schwarzen Kulleraugen waren weit aufgerissen und starrten ihn an.

Kevin spürte eine Welle der Erregung durch seinen Körper fließen. Er ergriff das Skalpell, welches frisch gesäubert auf der Edelstahlablage neben seinem Schreibtisch lag und öffnete mit einem Ruck den Käfig. Die Maus saß immer noch still da und hatte die Augen weit aufgerissen. Kevin konnte nicht länger ausharren und stach ihr das Skalpell mit einer kräftigen fließenden Bewegung in den Rücken. Die Maus quietschte laut auf und raste mit zuckendem Körper in die andere Ecke des Käfigs. Blut spritzte aus ihrer Wunde empor. Kevin fühlte sich wie im Rausch und stach ein weiteres Mal zu. Diesmal war sein Stoß tödlich. Die Maus blieb zusammengekrümmt in der Ecke ihres Drahtkäfigs liegen. Ihr weißes Fell war rot durchtränkt. Blut. Überall im Käfig haftete ihr Blut. Es war Mäuseblut!

So klar wie nie zuvor in seinem Leben durchfuhr ein Gedanke Kevins vom Rausch benommenes Gehirn: Sie ist so vollkommen anders als ich. Wie kann sie meine Mutter sein?

 

 

...

 

 

»Kommissar Bergmann, ich habe Sie schon erwartet. Kommen Sie, hier entlang.«

Oliver folgte dem Polizisten durch ein enges muffiges Treppenhaus hinauf in die dritte Etage.

»Sie muss schon eine ganze Weile dort gelegen haben. Die Nachbarn haben uns alarmiert, weil es komisch gerochen hat. Vielleicht nehmen Sie ein wenig hiervon?« Mit diesen Worten hielt ihm der Polizist eine Tube mit Spezialsalbe hin. Oliver nahm sie dankbar entgegen und rieb sich ein wenig davon unter die Nase. Er hatte zwar noch nicht gefrühstückt, trotzdem wollte er so wenig wie möglich vom Verwesungsgeruch wahrnehmen. Vor der Wohnungstür streifte er sich Überschuhe aus Plastik über und kramte seine Handschuhe aus der Jackentasche.

Kaum dass er über die Schwelle getreten war, schlug ihm ein süßlicher Verwesungsgeruch entgegen, den auch die Mentholsalbe nicht überdecken konnte. An der weißen Zimmerdecke im Flur hatten sich kleine schwarze Fliegen versammelt, die durch die Polizisten von der Leiche aufgescheucht worden waren.

»Sie liegt im Schlafzimmer, dort hinten rechts.«

Die Bemerkung des Polizisten war überflüssig. Der Gestank nach Verwesung war so stark, dass er Oliver auch ohne diesen Hinweis wie ein Navigationssystem zielsicher zur Leiche führte. Er bog vorsichtig nach rechts ab. Noch war die Spurensicherung nicht eingetroffen und er war, von den Streifenpolizisten einmal abgesehen, der Erste am Tatort. Das Zimmer wirkte unberührt. Es war dämmerig und die Jalousien waren nur halb geöffnet.

Das erste, was Oliver sah, waren ihre Finger. Eine Welle der Übelkeit wogte in seinem leeren Magen. Die Finger hingen wie die Glieder einer Kette an einem durchsichtigen Nylonfaden, der quer vom linken zum rechten Pfosten des Himmelbettes gespannt war. Das Bild, welches sich darunter auf der Matratze bot, war nicht viel besser. Eine junge Frau, nicht viel älter als zwanzig Jahre, lag mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen auf dem Bett, ihr Gesicht war zu einem einzigen Schrei verzerrt. Ihre linke Brust war amputiert, die rechte Brustwarze zu schwarzer Asche verbrannt. Zwischen ihren Schenkeln war das Laken von Blut durchtränkt. Oliver trat näher an die Leiche heran. An ihrem Oberschenkel konnte er deutliche Einschnitte erkennen. Offenbar hatte der Mörder versucht, die Blutgefäße freizulegen.

Angewidert wandte Oliver seinen Blick ab. Mit welchem Wahnsinnigen hatte er es hier zu tun? Was für ein Monster war zu einer solch sadistischen Tat fähig?

»Der Mörder hat sie gefoltert.«

Erschrocken drehte Oliver sich um. Frau Scholten, die Leiterin der Spurensicherung, stand hinter ihm und runzelte die Stirn.

»Meine Güte, er muss wirklich wütend gewesen sein. Es muss Stunden gedauert haben, bis sie tot war.« Mit diesen Worten ging sie einmal um das Bett herum. Es stand in der Mitte des Raumes. Oliver betrachtete Ingrid Scholten genau. Trotz ihres Alters war sie immer noch eine attraktive Frau. Ihre rotblonden, kurzgeschnittenen Haare waren perfekt frisiert und die tiefen Furchen, die sich im Laufe der Jahre in ihre Stirn gegraben hatten, verliehen ihrem Äußeren eine übernatürliche Autorität. Sie hatte schon viele Grausamkeiten in ihrem Leben gesehen. War an unzähligen Tatorten gewesen, doch hier und jetzt wirkte sie nicht so abgeklärt wie sonst.

Oliver folgte Frau Scholten um das Bett herum. Hinter dem Kopfende entdeckte er eine Nachtkonsole, auf der verschiedene grellbunte Sexspielzeuge aus Plastik lagen. Er griff nach einem Flyer, von dem ihm in großen roten Buchstaben die Zeile »www.KAUFmich.com« entgegensprang. In kleiner schwarzer Schrift stand darunter: »Wir sind vielseitige Amateurmodelle, die sich mit dir vergnügen möchten ...«

»Ich glaube, wir haben es hier mit einer Prostituierten zu tun. Ich hatte mich schon darüber gewundert, dass das Bett mitten im Zimmer steht.«

»Ja, es sieht so aus. Sehen Sie sich mal diesen großen Spiegel an. So etwas findet man nicht oft in deutschen Schlafzimmern.«

Oliver ging hinüber zu einem schmalen Sekretär, der unter dem Fenster stand. In der linken Schublade lag ein lederner Kalender. Interessiert schlug er ihn auf und fuhr mit dem Finger über die verschiedenen Termine. Am heutigen Datum blieb sein Blick hängen. Es war kein Eintrag vorhanden. Dafür wurde er einen Abend zuvor fündig. Ein gewisser Ronny hatte für 22 Uhr eine Verabredung mit Sophia. Oliver fragte sich, ob Sophia die Tote dort auf dem Bett war und Ronny ihr sadistischer Mörder. Er blätterte einige Tage zurück. Der Name Ronny tauchte im regelmäßigen Abstand von ungefähr drei Wochen auf. Offensichtlich war er ein Stammkunde von Sophia. Im Kalender standen aber auch andere Mädchennamen.

Auf den ersten Blick schienen sich fünf Frauen dieses Appartement zu teilen. Das Kalenderbuch war gut gefüllt. Fast an jedem Tag fanden sich ein bis zwei Einträge. Im hinteren Teil entdeckte Oliver Visitenkartenfächer. Komisch, dachte er, wie freigiebig manche Menschen mit ihren Visitenkarten umgingen und sie sogar im Bordell hinterließen. Schnell überflog er die verschiedenen Namen. Vom Rechtsanwalt bis zum Immobilienmakler waren alle Berufsstände vertreten. Gerade wollte er den Kalender beiseitelegen, als ihm ein bekannter Name ins Auge fiel: Klaus Gruber.

Oliver zögerte. Das konnte doch nicht sein! Unauffällig atmete er tief ein. Diesen Namen gab es relativ häufig, versuchte er sich zu beruhigen. Automatisch flogen seine Augen vom Namen zur darunter angegebenen Privatadresse. Nein, es gab keinen Zweifel. Diese Visitenkarte stammte eindeutig von seinem Partner Klaus.

Oliver konnte es nicht fassen. Wie zum Teufel kam diese Karte hierher? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Klaus in diesem Etablissement seiner Lust frönte. Schließlich hatte er doch seit Jahren eine feste Freundin. Nein, es musste sich um einen Irrtum handeln. Vorsichtig blickte Oliver sich zu Frau Scholten um. Sie stand über die Tote gebeugt und zupfte mit ihrer Pinzette an dem blutigen Laken herum.

Einem plötzlichen Instinkt folgend, zog Oliver die Visitenkarte aus der Plastikhülle und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er spürte, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper raste und seine Hände anfingen zu schwitzen. Fast konnte er selbst nicht glauben, was er da gerade getan hatte. Unterdrückung von Beweismitteln! Das könnte ihn den Kopf kosten. Unruhig beobachtete er erneut die Leiterin der Spurensicherung. Sie hatte nichts bemerkt. Konzentriert untersuchte sie die Leiche und würdigte Oliver dabei keines Blickes.

Einen kurzen Moment lang überlegte er, die Karte wieder zurückzulegen. Doch dann wechselte Frau Scholten ihre Position. Während sie vorher mit dem Rücken zu ihm gewandt den Tatort inspiziert hatte, stand sie ihm nun direkt gegenüber. Ein einziger Blick in seine Richtung könnte ihn entlarven. Egal. Oliver würde die Karte nicht zurückstecken. Es konnte sich hier nur um einen Irrtum handeln und er wollte nicht, dass sein Partner in Schwierigkeiten geriet. Schließlich kannte er ihn seit Jahren und der Besuch einer Prostituierten passte ganz und gar nicht in das Weltbild von Klaus.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
COVER.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html
Section0110.html
Section0111.html
impressum-tolino.xhtml