II.

Gegenwart

 

 

Olivers Herz klopfte wie verrückt. Seine Hände waren von einer leichten, kühlen Schweißschicht bedeckt und klebten an dem Papier fest, in das ein Strauß wunderschöner, dunkelroter, langstieliger Rosen eingewickelt war. Er leckte sich nervös über die trockenen Lippen. Ob Emily wohl kommen würde? Das letzte Mal war er viel zu spät zu ihrer Verabredung erschienen. Der gemeinsame Abend war daraufhin in gereizter Stimmung verlaufen, und Oliver hatte gespürt, wie ihre Enttäuschung sie von ihm wegtrieb. Auf keinen Fall wollte er, dass sie sich von ihm entfernte. Nicht jetzt, wo er es endlich geschafft hatte, Nähe zu ihr aufzubauen.

Deshalb hatte er sich für den Sonntagnachmittag etwas ganz besonders Romantisches ausgedacht. Zumindest glaubte er, dass Frauen es romantisch finden würden. Er hatte Emily in den Stadtpark von Neuss eingeladen und sie gebeten, ihn an der großen, alten Kastanie am Ende des Parks zu treffen. Genau dort, wo sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Noch immer lief ein prickelnder Schauer über seinen Rücken, wenn er sich daran erinnerte, wie er ihre wunderschönen Lippen berührt hatte. Sie waren weich und voll, und nach der ersten vorsichtigen Annäherung war aus einem sanften Kuss ein leidenschaftlicher schier ewig dauernder Zungenkuss geworden, der ein Verlangen in ihm weckte, das er noch nie zuvor für eine Frau empfunden hatte. Doch so leidenschaftlich, wie ihre Liebe sein konnte, so intensiv war auch ihre Wut auf ihn gewesen, als er sie fast zwei Stunden warten ließ, weil sein Chef ihn nicht eher aus dem Dienst entlassen wollte.

Hans Steuermark war der Leiter des Kriminalkommissariats der Kreispolizeibehörde im Rhein-Kreis Neuss, und er war dafür bekannt, dass er hartnäckig bei der Sache blieb. Er ordnete stets alles der Lösung eines Falls unter. Dies galt sowohl für sein eigenes Privatleben als auch für das seiner Mitarbeiter. Oliver, der noch relativ neu im Kriminalkommissariat war, hatte das schon mehrfach zu spüren bekommen.

Aber heute wollte er alles wiedergutmachen. Er hatte eine große Decke unter der Kastanie ausgebreitet. Im Schatten unter ihrer Krone stand ein riesiger, aus dunklen Weidenzweigen geflochtener Picknickkorb, an dessen Seite der Korken einer Champagnerflasche hervorragte. Alles war perfekt vorbereitet. Es fehlte nur noch Emily.

Unruhig blickte Oliver auf seine Armbanduhr. Sie war schon seit zehn Minuten überfällig. Vielleicht kommt sie aus der anderen Richtung? Als er sich gerade umdrehen wollte, sah er aus dem Augenwinkel eine zierliche Gestalt auf sich zukommen. Sein Herz machte einen Satz. Er spürte, wie bei Emilys Anblick Unmengen an Adrenalin und Endorphinen durch seinen Organismus schossen. Das berauschende Gefühl machte ihn sprachlos. Und so stand Oliver stumm da, unfähig, auch nur ein simples Hi über die Lippen zu bringen, und starrte Emily einfach nur mit einem verzückten Grinsen an. Zum Glück schien sie seine Aufregung nicht zu bemerken. Mit kleinen, schnellen Schritten kam sie auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang sanft ihre Arme um seinen Hals und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange. „Tut mir leid, ich stand im Stau“, hauchte sie sanft.

Olivers Gehirn war unfähig, auch nur einen einzigen Satz hervorzubringen, dafür reagierte sein Körper in diesem Moment prompt. Seine Arme umfassten Emilys schmale Taille und hielten sie mit sanftem Druck an seinen Körper gepresst fest. Er sah ihr tief in die Augen, spürte ihr Einverständnis und begann, sie leidenschaftlich zu küssen.

 

 

 

 

Keine zwanzig Kilometer von Oliver und Emily entfernt traf sich zur selben Zeit ein weiteres Liebespärchen an diesem herrlichen Sommertag in den Rheinauen von Zons. Nina und Tobias hatten sich an dem herrlichen Sommertag in den Rheinauen von Zons auf einer großen Picknickdecke niedergelassen und wälzten sich ungestüm hin und her. Um sie herum wuchs hohes Gras, sodass die beiden für Spaziergänger, die auf einem schmalen Trampelpfad zehn Meter entfernt den Blick auf den Rhein genossen, nahezu unsichtbar waren. Nur ein paar Hunde auf der Suche nach einer interessanten Geruchsspur störten sie gelegentlich. Als sich Tobias auf Nina legen wollte, stöhnte sie unvermittelt auf und stieß ihn von sich. Sie setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und rieb sich den Rücken.

»Was ist passiert?«, fragte Tobias besorgt.

»Ich weiß auch nicht. Irgendetwas Hartes hat mich in den Rücken gestochen.«

Tobias fuhr mit der flachen Hand über die weiche Picknickdecke und konnte einen harten, scharfkantigen Gegenstand darunter spüren. Er schob die Decke beiseite und griff nach dem Störfaktor, der gerade sein Liebesspiel mit Nina auf jähe Weise beendet hatte. Der Gegenstand steckte fest im Untergrund, und Tobias konnte nicht sofort erkennen, um was es sich bei diesem hellen Gebilde handelte. Er grub mit den Fingern am Rande des Fundstückes und spürte, wie es sich langsam lockerte. Komisch. Was sollte das sein? Zuerst dachte er, es handele sich um einen alten Ast, von dem die Rinde abgesplittert war. Tobias zerrte weiter an dem Gegenstand und mit einem Ruck löste sich das Teil aus der Erde. »Igitt. Was ist das denn?«, schrie Nina auf und rückte gleichzeitig ein Stückchen ab.

»Keine Ahnung. Jedenfalls kein Grund, so zu schreien. Beißen wird es dich in keinem Fall!«

Tobias grinste Nina an und hielt ihr das Teil vor die Nase.

»Keine Angst. Es ist nur irgendein Knochenstück! Hat sicherlich einer von den vielen Kötern hier vergraben, um sich ein Leckerchen für schlechte Zeiten zurückzulegen!«

Tobias schwang ein paar aneinanderhängende Knochenstücke vor Ninas Augen hin und her und wollte sie gerade mit großem Schwung in den Rhein befördern, als Nina seinen Arm ergriff und ihm das Knochengebilde aus der Hand nahm.

»Das sind keine Tierknochen!«

Nina runzelte die Stirn und betrachtete das Fundstück. Es kam ihr bekannt vor. Sie studierte seit zwei Semestern Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hatte gerade den Anatomiekurs mit Bravour hinter sich gebracht. Dieses Fach hatte sie fasziniert, obwohl es furchtbar anstrengend war, sich die über zweihundert Knochen des menschlichen Körpers mit ihren schwer verständlichen lateinischen Namen einzuprägen.

Sie fuhr mit den Fingern über das an einem Ende etwas rundliche Knochenstück. Dies war ein Teil des Fersenbeins. Fest daran hing ein weiterer Knochen. Das Würfelbein oder auch Os cuboideum genannt. Dann folgten die zwei äußeren Mittelfußknochen, Ossa metatarsalia. Die Mittelphalanx und die Endphalanx, die Zehenknochen des kleinsten und des zweitkleinsten Zehs, fehlten. Von den vorderen Fußknochen war fast nichts übrig geblieben. Es fehlten sowohl die Zehenknochen als auch die dazugehörigen Mittelfußknochen und die dahinterliegenden Fußwurzelknochen. Der Größe nach zu urteilen, handelte es sich möglicherweise eher um einen männlichen Fuß. Nina schätzte die Schuhgröße auf dreiundvierzig. Dieselbe Größe, die Tobias trug.

Erschrocken über diese Erkenntnis ließ sie die Knochen fallen.

»Das sind menschliche Fußknochen! Was tun wir jetzt?«

Tobias kratzte sich am Kopf und dachte nach. Die Knochen sahen nicht besonders frisch aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es sich um die Überreste eines Menschen aus der Gegenwart handelt. So vergilbt, wie die waren, sahen sie aus, als wenn sie schon viele Jahrhunderte unter der Erde gelegen hätten. Tobias nahm die Knochen in die Hand. Ein Ende des Fußknochens war leicht biegsam. Seltsam, er hatte sich vorgestellt, dass Knochen im Laufe der Zeit immer mehr austrocknen und anschließend so spröde und porös werden, dass sie schließlich zu Staub zerfallen. Aber dieser Knochen hier war an einem Ende weich.

»Wir gehen zur Polizei!«, sagte er schließlich, stand auf und reichte Nina eine Hand.

 

 

 

 

Anna schüttelte missmutig den Kopf. Sie hasste diese Montagsmeetings. Einmal im Monat gab es neue Zielvorgaben. Diesmal hatte sich ihr Chef etwas ganz Besonderes ausgedacht. Innerhalb von ein paar Wochen sollten sie neuartige, sogenannte Swapgeschäfte, gekoppelt an den japanischen Yen, an ihre Kunden verkaufen. Anna dachte nach. Eigentlich passte dieses Produkt in kein einziges Kundenportfolio, welches sie zurzeit betreute. Genervt fuhr sie mit dem Finger über die Kundenliste, in der die Bank die potenziellen Zielkunden, also die mit einem bestimmten Kontostand, registriert hatte. Ein Volumen von zehn Millionen Euro sollte innerhalb kürzester Zeit an den Mann gebracht werden. Die Bank brauchte dieses Geschäft dringend, um andere Risikopositionen ausgleichen zu können, die sie eingegangen war. In den letzten Jahren waren immer mehr komplizierte Produkte erfunden worden, um weiterhin profitabel zu sein. Ein Produkt wurde nicht wie früher an nur eine Option gekoppelt, sondern mittlerweile wurden diverse Spekulationsmöglichkeiten in einem einzigen Geschäft gebündelt. Während sich Kunden früher mit einem Swap gegen Währungsrisiken absicherten, weil sie zum Beispiel ihr Exportgeschäft vor Devisenschwankungen schützen wollten, konnten sie heute zusätzlich auch auf bestimmte Zinsverläufe oder auf die Entwicklung verschiedener Indizes spekulieren. Setzte der Kunde auf die richtige Marktentwicklung, konnte er riesige Gewinne einsacken. Allerdings war das Risiko hoch, dass genau das Gegenteil eintrat. Die Finanzmärkte waren längst nicht mehr so stabil und leicht vorhersehbar, wie vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die im Jahr 2008 begonnen hatte.

Anna hatte viele Stammkunden, die allesamt aus dem deutschen Mittelstand stammten und denen ihre Beratung in den letzten Jahren viel Geld eingebracht hatte. Tätigte ein Kunde aufgrund ihrer Beratung ein schlechtes Geschäft und verspekulierte sich, war sie stets bemüht, die entstandenen Verluste durch eine neue Beratung wieder auszugleichen. Natürlich gelang ihr das nicht immer, aber bis auf wenige Ausnahmen waren ihre Kunden mit ihrer Beratung stets zufrieden.

Dieses neue Produkt jedoch erschien ihr sehr spekulativ. Wer sollte ausgerechnet nach der Atomkatastrophe in Fukushima auf einen immer weiter steigenden Yen wetten? Mit welchen Argumenten sollte sie auch nur einen einzigen Kunden auf ihrer Liste überhaupt davon überzeugen, dass dieses Produkt lohnenswert war? Klar, die japanische Währung galt angesichts der Euro-Schuldenkrise weiterhin als vergleichsweise sicherer Hafen. Aber die japanische Regierung hatte in letzter Zeit immer wieder Interventionen am Devisenmarkt angekündigt, um den starken Yen-Wechselkurs zu schwächen.

Grübelnd fuhr Anna sich mit den Händen durch die langen, lockigen Haare. Es war eine Verlegenheitsgeste, die sie sich schon als kleines Mädchen angeeignet hatte. Anna war mit Leib und Seele Bankerin. Aber sie reizte nicht nur der theoretische Umgang mit Geld, vielmehr brauchte sie selbst welches, um sich ihren großen Traum von einem eigenen Garten endlich erfüllen zu können. Sie liebte Blumen, und die wollte sie gerne auf ihrem eigenen Grund und Boden pflanzen, einen Platz haben, der nur ihr gehörte und an dem sie zu Hause war. Spätestens seitdem sie um ein Haar dem Puzzlemörder entkommen war, hatte sie sich das fest vorgenommen. Dieses Jahr musste sie unbedingt ihren Bonus erhalten, um sich ein Appartement mit eigenem Garten leisten zu können. Wie sollte sie das nur anstellen?

Plötzlich spukten ihr wieder Gedanken an Bastian Mühlenberg durch den Kopf. Bis zum heutigen Tage hatte sie sich sein Erscheinen nicht erklären können. Ihre beste Freundin Emily hielt alles für Einbildung, hervorgerufen durch starken psychischen Stress. Aber Anna war sich sicher, dass sie Bastian wirklich kennengelernt hatte. Seit dem Abend, an dem er sich mit ihr vor dem Mühlenturm in Zons treffen wollte, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Sie vermisste ihn oder vielmehr das, was aus ihnen beiden hätte werden können, wenn er bloß dort aufgetaucht wäre.

Ihr Telefon klingelte schrill und Anna fuhr hoch.

»Schätzchen, wie geht’s dir?«, fragte Jimmy mit betont tiefer und verführerischer Stimme.

»Ich habe gerade von Tom gehört, dass ihr die neuen Yen-Swaps an den Mann bringen sollt?«

»Ja, Jimmy, da hast du richtig gehört. Wahrscheinlich habt ihr wieder mal auf das falsche Pferd gesetzt und wir dürfen es jetzt ausbaden!«

»Mal langsam, Schätzchen. Reg dich nicht auf!«, säuselte Jimmy ins Telefon. »Ich habe da einen guten Tipp für dich. Wie wäre es mit einem Lunch heute oder morgen?«

Anna verdrehte die Augen. Typisch Investmentbanker, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Andererseits hatte Jimmy ihr schon oft aus der Klemme geholfen. Er hatte wahnsinnig viele Kontakte, und vielleicht konnte er ihr einen Kunden empfehlen, für den dieser neue Swap sinnvoll war.

 

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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