XVII.
Gegenwart
Eine ganze Woche war seit ihrem Anrufversuch bei Martin vergangen. Anna hatte sich bisher nicht getraut, Emily davon zu berichten. Sie wäre sicher enttäuscht von ihr gewesen. Emily hielt sie für eine starke und konsequente Frau und Anna fühlte sich in dieser Rolle auch sehr wohl. Aber tief in ihrem Innersten wusste Anna, dass sie längst nicht so willensstark war, wie alle von ihr glaubten. Tatsächlich hatte sie es nicht lassen können, es täglich auf Martins Handy zu versuchen. Auf der einen Seite schämte sie sich mächtig dafür, auf der anderen Seite machte sie sich zunehmend Sorgen. Das war gar nicht Martins Art. Er konnte es eigentlich keine Sekunde ohne sein Handy aushalten und jetzt war es schon seit über einer Woche ausgeschaltet. Anfangs glaubte Anna noch, er wäre in einem Funkloch und deshalb nicht erreichbar, aber nach ihren sieben Anrufversuchen verwarf sie diesen Gedanken. So einen Zufall konnte es nicht geben, dass sie jedes Mal anrief, wenn er in einem Funkloch steckte.
Anna schaute auf die Uhr. Es war kurz nach acht Uhr. Sie checkte ihre Terminlage auf ihrem Blackberry und stellte fest, dass ihr erster Termin heute um zehn Uhr begann. Da blieb noch genug Zeit für einen Abstecher zu Martins alter Wohnung!
...
Fünfzehn Minuten später parkte sie am Stadtpark in Neuss und ging auf eines der großen, alten Wohnhäuser zu. Der Neusser Stadtpark gehörte zu den beliebtesten Wohngegenden der Stadt und Anna hatte diese herrliche, grüne Wohnlage immer sehr genossen, wenn sie bei Martin zu Besuch war. Sie blickte zu Martins Wohnung hinauf. Es brannte kein Licht. Sie ging zur Haustür und wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als sich quietschend die Haustür öffnete. Herr Hengsteberg, Martins Vermieter, stand müde und mit tiefen Augenringen vor ihr.
»Guten Morgen, Herr Hengsteberg!«, grüßte Anna überrascht.
»Guten Morgen, Frau Winterfeld, wie geht es Ihnen? Ich habe Sie ja eine ganze Ewigkeit nicht mehr gesehen!«
»Stimmt. Ich hatte viel zu tun in den letzten Monaten«, wich Anna aus.
»Ich bin eigentlich ganz froh, dass ich Sie hier treffe«, gestand ihr Herr Hengsteberg ein. Er schob seine randlose Brille auf seiner Nase nach oben und holte aus:
»Ich habe Ihren Freund seit Monaten nicht mehr gesehen. Ehrlich gesagt bin ich mittlerweile ziemlich sauer, da er mir auch die letzte Monatsmiete nicht mehr gezahlt hat. Ich wollte ihm gerade eben einen Besuch abstatten, doch er öffnet die Wohnungstür nicht. Offen gestanden gehe ich auch nicht davon aus, dass er überhaupt zu Hause ist. Ich habe es in den letzten Wochen immer mal wieder versucht, aber auch sein Nachbar hat ihn ewig nicht mehr gesehen.«
»Nun, um ganz ehrlich zu sein. Wir sind nicht mehr zusammen und ich hatte auch länger keinen Kontakt mehr zu Martin. Allerdings konnte ich ihn auch über sein Handy nicht erreichen.«
»Oh, das tut mir aber leid, Frau Winterfeld. Sie waren doch so ein schönes Paar! Wie ist das denn nur passiert?«
Anna schlug die Augen nieder und blieb stumm.
»Tut mir leid, Frau Winterfeld. Ich wollte Ihnen mit meinen Fragen nicht zu nahe treten. Aber ich möchte schon gerne herausfinden, wo ihr Ex-Freund sich aufhält. Wissen Sie, ich kann es mir nicht leisten, auf die Mietzahlung zu verzichten.«
»Das verstehe ich gut!«, erwiderte Anna leise.
»Ich habe noch einen zweiten Wohnungsschlüssel. Warum schauen wir nicht einfach nach?«
»Da würde mir ein Stein vom Herzen fallen, Frau Winterfeld. Sie wissen, als Vermieter darf ich keinen Zweitschlüssel besitzen. Aber bei Ihnen ist das ja etwas anderes.«
Mit diesen Worten schob Martins Vermieter die Haustür wieder auf und winkte Anna in den Hausflur hinein. Martin wohnte in der dritten Etage. Wortlos stiegen sie die Stufen bis zu seiner Wohnungstür hinauf. Anna hatte ein flaues Gefühl im Magen. Klar, Martin war mit Christopher zusammen nach Berlin gezogen. Doch warum hatte er seine Wohnung nicht gekündigt? Außerdem würde er nie die Miete schuldig bleiben. Dafür war Martin viel zu pflichtbewusst.
Oben angekommen kramte Anna den Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche hervor und steckte ihn ins Schloss. Mit einer Drehung hatte sie die Tür geöffnet. Langsam schob sie die Wohnungstür auf. Ein Schwall stickiger und verbrauchter Luft kam ihnen entgegen. Es roch leicht nach Verwesung. Annas Magen meldete sich zu Wort. Sie hatte bis auf einen Kaffee noch nichts gefrühstückt und bei diesem Geruch wurde ihr auf der Stelle übel. Sie wand sich ab und ging wieder auf den Flur hinaus.
Herrn Hengsteberg schien der Geruch nichts auszumachen. Zielstrebig ging er in Martins Wohnung hinein. Anna konnte hören, wie er die Fenster öffnete.
»Warten Sie eine Minute, dann ist dieser üble Geruch verflogen. Ich denke, dass ein voller Mülleimer diesen Gestank verbreitet!« Anna wartete ab, bis ein kühler und frischer Luftzug ihre Wangen streifte. Dann folgte sie Herrn Hengsteberg in Martins Wohnung. Alles sah so aus, als würde Martin jeden Augenblick zur Tür hereinspazieren. Sein Portemonnaie lag auf der Kommode im Flur und auf dem Küchentisch fand Anna Martins Handy. Kein Wunder, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Das Handy war ausgeschaltet. Wahrscheinlich war der Akku längst leer. Martins Vermieter hantierte mit einer großen Mülltüte herum und leerte darin den stinkenden Mülleimer in der Küche aus. »So, damit haben wir den Gestank erst einmal besiegt!«, erklärte er stolz, während er die Mülltüte sorgsam verknotete.
Anna setzte sich kreidebleich auf einen der Küchenstühle. Das mulmige Gefühl, das sie jetzt seit einer Woche mit sich herumtrug, nahm immer mehr traurige Gestalt an.
»Irgendetwas stimmt hier nicht, Herr Hengsteberg! Martin würde doch nie ohne Portemonnaie und Handy fortgehen.«
...
Oliver Bergmann und sein Partner Klaus standen im Kreisarchiv und betrachteten regungslos den heruntergekommenen Zustand des Gebäudes. Der Archivar schlürfte humpelnd zu einem Regal auf der linken Seite des Vorraums und begann in einem Kasten mit Karteikarten zu wühlen.
»Hier haben wir es!«, sagte er in ehrfurchtsvollem Ton mit Blick auf die beiden Kriminalpolizisten. Die beiden hatten ihm ihre Dienstmarken gezeigt und er fühlte sich plötzlich sehr wichtig. In letzter Zeit wollten immer mehr Menschen Auskunft über den Puzzlemörder von Zons haben. Mit diesen Gedanken im Kopf humpelte er zu den beiden Männern zurück und legte ihnen fünf Karteikarten mit den Ausleihdaten zu den Unterlagen über den Zonser Puzzlemörder vor.
Oliver und Klaus nahmen die Karteikarten entgegen. »In den letzten zehn Jahren hat sich niemand für diese Unterlagen interessiert. Aber in den letzten neun Monaten haben fünf verschiedene Personen die Unterlagen bei mir ausgeliehen.«
»Vielen Dank, das ist ein sehr guter Ansatzpunkt für uns!«
Oliver notierte sich, wann welche Person die Unterlagen ausgeliehen hatte. Nur ein Name auf seiner Liste war ihm bekannt. Es war Emily Richter. Ein kurzes Lächeln huschte bei dem Gedanken an sie über sein Gesicht. »Ich kann Ihnen auch gerne etwas zur Geschichte des Puzzlemörders erzählen«, der Archivar grinste bei diesen Worten übers ganze Gesicht und reckte stolz seine Brust hervor.
»Nein, danke. Die Liste der Personen, welche die Unterlagen in letzter Zeit ausgeliehen haben, reicht uns fürs Erste.«
»Aber Sie müssen doch die Unterlagen lesen! Sonst können Sie doch gar nicht erkennen, ob es sich um einen Nachahmungstäter handelt oder nicht!«
Oliver und Klaus starrten den Archivar erstaunt an. Wie kommt der Kerl auf einen solchen Gedanken? Das konnte er nicht aus der Presse haben!
»Wie kommen Sie auf einen solchen Zusammenhang?«
Der alte Archivar drehte sich beleidigt um und wollte davon humpeln.
»Hey, warten Sie!«, rief Oliver ihm laut hinterher.
Der Alte drehte sich um und grinste ihn aus kalten Augen hämisch an.
»Wie viele Leichen wurden denn in den letzten tausend Jahren am Wehrturm auf dem Schlossplatz aufgehängt?«, mit diesen Worten atmete der Alte tief aus. Tröpfchen seiner Spucke spritzen dabei durch den Raum und trafen Oliver ins Gesicht. Angewidert wandte dieser sich ab. Klaus trat schützend neben Oliver und übernahm das Gespräch.
»Hören Sie, wir untersuchen hier in einem Mordfall. Sie sind dazu verpflichtet, uns in dieser Sache zu unterstützen! Wie kommen Sie also darauf, dass es sich um einen Nachahmungstäter handeln könnte?«
Der Alte seufzte und hob erneut an.
»Ich habe es doch gerade schon gesagt, dass es nur zwei Frauenleichen seit 1495 gegeben hat, die am Wehrturm aufgehängt wurden. Ich kenne die Historie von Zons in- und auswendig. Liegt es da nicht nahe, dass der heutige Mörder sich vom Puzzlemörder inspirieren ließ?«
Er nahm die Rheinische Post in die Hand und schlug die Reportage von Emily Richter auf. »Hier, sehen Sie doch selbst. Diese junge Dame war als Letzte bei mir und beschreibt doch hier den Mord an Elisabeth Kreuzer in allen Details. Ich wette mit Ihnen, dass auch die Leiche von Michelle Peters den Code auf die Kopfhaut eingeritzt bekommen hat!« Triumphierend blickte der Alte die beiden an und hielt ihnen die Rheinische Post vors Gesicht. Klaus nahm ihm die Zeitung aus der Hand.
»Vielen Dank. Diesen Artikel kennen wir. Halten Sie sich bitte zur Verfügung, falls wir noch weitere Fragen haben!«, mit diesen Worten drehte er sich um, griff Oliver unter den Arm und schob ihn sanft aus dem Kreisarchiv hinaus.
...
Zehn Minuten später saßen Oliver und Klaus im Auto und waren auf dem Weg zurück ins Revier.
»Glaubst du, der Alte könnte der Mörder sein?«, fragte Oliver.
»Er ist jedenfalls nicht unverdächtig!«
»Weißt du, Klaus, ich habe in Emily Richters Reportage gelesen, dass der Mörder von damals Dietrich Hellenbroich hieß.«
»Ja, ich erinnere mich. Worauf willst du hinaus?«
»Der Archivar heißt Dietrich Hellenbruch. Kommt dir das nicht verdächtig vor?«
»Das kann ein Zufall sein. Ist ja kein angenommener Künstlername.«
»Stimmt. Aber auch er humpelt mit dem linken Bein. Genauso wie der historische Mörder Dietrich Hellenbroich.«
»Du hast Recht, Oliver. Das sind ein paar Zufälle zu viel. Wir haben wohl unseren ersten Verdächtigen gefunden. Zusätzlich zu den fünf Namen auf unserer Liste hier!«