Gegenwart
Er hatte nur eine kurze Strecke mit dem Wagen zurücklegen müssen. Der Schrottplatz war stets nur die erste Station für seine Mission. Jetzt stand das Fahrzeug an einem anderen Ort. Er selbst befand sich in einem Nebenraum und konnte das Geschehen über Kameras verfolgen. Er steckte den dritten Schlüssel vorsichtig in das kaum sichtbare Schloss. Es war so kunstvoll unter der Verzierung verborgen, dass ein ungeübtes Auge das Schloss mit Sicherheit übersehen würde. Klack. Der Schlüssel war eingerastet. Mit einer Vierteldrehung löste er ein weiteres Klacken aus. Die Truhe war entriegelt. Endlich war es so weit. Die Zeit war gekommen, sein Werk zu vollenden!
Mit vor Erregung zitternden Händen nahm er die goldene Sichel aus der Truhe. Das leuchtende Gold blendete ihn. Voller Ehrfurcht betrachtete er seinen Schatz. Die Lautsprecherboxen hinter ihm fingen an zu knarzen. Sofort drehte er den Kopf zum Monitor und betrachtete den alten Wagen, der – umflutet von grellem Licht – in einem weiß gefliesten Raum stand. Der Mann in dem offenen Kofferraum kam langsam wieder zu sich. Die Falle hatte zugeschnappt!
…
Peter atmete. Einfach nur atmen. Ruhig bleiben und überlegen, wie er am besten hier wegkam. Sein Herz klopfte laut. Er konnte es in seinen Ohren hören. Wie Buschtrommeln schlug es und pumpte sein heißes Blut durch die Adern. Peter hielt die Augen immer noch geschlossen. Seine Schläfe schmerzte und er zuckte bei der Erinnerung an den Schlag zusammen. Wenn er hier fortwollte, musste er als Erstes die Augen öffnen und sich orientieren. Immerhin, diese verdammte Kofferraumklappe hatte er aufbekommen. Vorsichtig öffnete er die Lider einen winzigen Spalt. Besser! Das Licht war immer noch gleißend hell, doch es traf ihn nicht mehr so hart wie beim ersten Mal. Er wartete ein paar Sekunden und hob dann die Augenlider Stück für Stück weiter an. Das Bild, was sich ihm bot, war harmlos. Er erblickte eine verrostete Kofferraumklappe, die halb geöffnet war und ihm einen Eindruck von der Welt jenseits des Kofferraums gewährte. Er sah weiße Fliesen, umrandet von grauen Fugen. War er sich denn nicht sicher gewesen, sich auf einem Schrottplatz zu befinden? – Egal!
Behutsam hob er den Kopf und riskierte einen weiteren Blick. Er befand sich definitiv in einem weiß gefliesten Raum. Am Ende des Raumes konnte er ein Tor erkennen. Es war geschlossen. Peter setzte sich auf und betrachtete sein zerschundenes Äußeres. Er war komplett nackt, seine Haut von der feuchten Hitze aufgedunsen. Nur an den Stellen, an denen die Fesseln saßen, wies sie rote Striemen auf, die ein gleichmäßiges Zopfmuster tief in seiner Haut bildeten. Als Nächstes musste er die Fesseln loswerden, sonst würde er keine drei Meter weit kommen! Er hatte diesen Satz noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sein Blick auf eine metallische Spitze fiel. Das gab es doch gar nicht. Dort in der Ecke des Kofferraumes lag ein Teppichmesser. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie viele Tage hatte er zusammen mit diesem Messer im Kofferraum verbracht? Warum war er nicht eher darauf gestoßen?
Zitternd richtete er sich auf, kam auf die Knie und drehte sich nach vorne, um an das Messer heranzukommen. Es steckte in der Ecke fest. Peter hatte einige Mühe, es mit seinen gefesselten Händen loszubekommen. Nach ein paar Fehlversuchen hielt er das rettende Teppichmesser in seinen schwitzenden Händen. Die Handschellen würde er damit nicht öffnen können, aber dafür die Stricke an seinen Beinen und das ekelhaft stinkende Tuch, welches den Knebel in seinem Mund fixierte. Er machte sich an die Arbeit. Es war anstrengend und er brauchte eine Ewigkeit, bis er seine Beine endlich befreit hatte. Seine Hände bluteten. Er hatte sich mehrmals mit der scharfen Klinge geschnitten, doch den Schmerz spürte er nicht. Sein ganzer Verstand war darauf fokussiert, sich von den Fesseln zu befreien und von diesem unheimlichen Ort fortzukommen. So schnell wie möglich, bevor sein Peiniger wieder auftauchen würde. Eine Welle der Angst durchströmte seinen zermarterten Körper. Du musst dich beeilen, Peter! Es gibt keine zweite Chance!
…
Die Kamera zoomte weiter an den geknebelten Mann heran. Seit zwanzig Minuten fummelte er schon an den Stricken herum. Sein Vorgänger war wesentlich schneller gewesen. Mit diesem hier würde er wohl kaum Schwierigkeiten haben. Was für ein elender Schwächling! Er erinnerte sich an den Gestank, der jedes Mal aufgestiegen war, wenn er die Kofferraumklappe öffnete. Ein Gestank voller Angst, wie sie nur ein gottloser Sünder verbreiten konnte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es in der Hölle mehr stank!
Abermals blickte er prüfend auf seinen Bildschirm. Der Mann mühte sich immer noch ab. Er überzeugte sich anhand der Bilder, dass er noch genügend Zeit für ein Gebet hatte. Danach stand er auf und summte seine Melodie vor sich hin, während er die dicken, weißen Kerzen vor dem kleinen Altar anzündete. In wenigen Momenten würde er die Welt von einem weiteren Sünder befreit haben. Jemandem, der eine Todsünde begangen hatte. Reichtum ohne Arbeit. Das war mindestens genauso schlimm wie der käufliche Erwerb eines Ablassbriefes! Die Menschen hatten vergessen, dass es Gottes Hüter immer noch gab. Keine Sünde blieb ungestraft, auch wenn die moderne Welt den Menschen heute etwas anderes vorgaukelte.
…
Endlich! Peter hatte es geschafft, sich von den Stricken und dem Knebel zu befreien. Seine Schleimhäute waren völlig ausgetrocknet. Verzweifelt versuchte er zu schlucken, um wenigstens ein bisschen Feuchtigkeit auf seine lederne Zunge zu bringen. Doch es war zwecklos. Egal, darum würde er sich später kümmern. Jetzt musste er erst einmal einen Ausweg aus dieser Hölle finden. Mit letzter Kraft hievte er seine steifen Beine aus dem Kofferraum und schlug unsanft auf dem Fliesenboden auf. Seine Knie fingen sofort an zu bluten. Heftig pochte der Schmerz in seinen Kniescheiben. Peter biss sich auf die Unterlippe und versuchte, das Pochen zu ignorieren. Aufstehen und weglaufen! Er hielt sich am Kofferraum des rostigen Wagens fest und kam mühsam auf die Beine. Fast geschafft. Er richtete sich auf und schaute über das Auto. Er befand sich in einer Waschanlage.
Die Waschanlage war geschlossen. Unbeholfen stakste er auf seinen steifen Beinen um das Auto herum und blieb stehen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es war ein leises Summen. Dann startete die Waschanlage. Peter stand mitten unter einer großen Bürste, die über seinem Kopf zu rotieren begann. Schnell sprang er drei Schritte nach vorne und stolperte dabei über eine Bodenschiene. Er versuchte sich aufzufangen, doch seine Gliedmaßen waren von der Tortur im Kofferraum so ungelenk, dass er auf den glitschigen Fliesen ausrutschte und mit der Stirn auf dem Boden aufschlug. Um ihn herum wurde es augenblicklich schwarz. Jetzt nicht ohnmächtig werden, dachte er und versuchte hartnäckig, bei Bewusstsein zu bleiben. Er lag mit einer Gesichtshälfte auf den Fliesen und versuchte, den Kopf zu heben. Die Waschanlage verspritzte Unmengen an Flüssigkeit und Peter war bereits über und über nass. Er hob den Kopf und erblickte etwas auf dem Boden. Etwas Gummiartiges klebte dort, wo eben noch seine Wange die Fliesen berührt hatte. Plötzlich spürte er am ganzen Körper wahnsinnige Schmerzen. Er blickte auf seine Hände. Die Haut schien sich abzulösen. Mit den Fingern griff er nach dem gummiartigen Fetzen. O Gott, das war ein Teil seines Gesichts. Seine Haut löste sich ab! Panik packte ihn. Aus dieser Anlage kam kein Wasser. Es musste Säure sein. Auf allen vieren kroch er seitlich aus der Anlage heraus und bemühte sich, zu dem verschlossenen Tor zu kommen. Alles war so grell, dass er kaum noch etwas sehen konnte. Die Waschanlage hielt mit einem Mal an. Ein weißer Engel löste sich von den Fliesen und kam auf ihn zugeschwebt. Der Engel trug eine Sonne in der Hand. Golden glitzerte sie zwischen seinen Armen und reflektierte die Lichtstrahlen der Lampen. Nein, es war keine Sonne. Es war ein goldener Sichelmond. Der Mond raste auf Peter zu und ein scharfer Schnitt trennte seinen Hals auf. Blut vermischte sich mit den weißen und goldenen Lichtern. Hellrot lief es über die weißen Bodenfliesen. Peter hörte noch, wie der Engel in einer fremden Sprache sang. Es war Latein. Dann waren die Schmerzen schlagartig vorüber. Er fiel schwer zu Boden und war auf der Stelle tot.
…
Emily drückte aufs Gaspedal. Es war schon spät. Die Landstraße war stockdunkel. Ihre Gedanken kreisten um Oliver Bergmann. Immer noch konnte sie seinen warmen Körper spüren, wenn sie die gemeinsame Mittagspause vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich jemals in einen Polizisten verlieben würde. Sie kannte Kriminalkommissare nur aus dem Fernsehen und da erschienen sie ihr meist als bindungsunfähig. Sie hielt Polizisten eigentlich für ungebildete Machos, die nicht schnell genug mit einer Frau im Bett landen konnten und sich dann von Bett zu Bett weiterhangelten. Lebhaft konnte sie sich vorstellen, wie dumm sie sich fühlen würde, wenn auch sie am Ende nur das Ergebnis einer Männerwette wäre. Doch bei Oliver hatte sie trotz aller Vorurteile nicht das Gefühl, nur eine Eroberung auf einer langen Liste von Liebschaften zu sein. Seine blauen Augen wirkten ehrlich, und wenn sie ihn anblickte, fühlte sie sich auf eine unbeschreibliche Art geborgen. Alleine der Gedanke an ihn zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
Emily sehnte sich nach einer glücklichen und festen Beziehung. Bisher hatte sie bei ihren Versuchen mit den unterschiedlichsten Männern wenig Glück gehabt. Das schmerzhafteste Erlebnis war ihre Beziehung zu einem verheirateten Professor an der Universität gewesen. Wie ein kleines, dummes Mädchen hatte sie sich stürmisch innerhalb kürzester Zeit in ihren Professor verliebt. Ihr italienisches Temperament hatte jede Warnung unbedacht in den Wind geschossen. Am Ende hatte er sich, entgegen aller vorher gemachten Versprechungen, für seine Frau und die beiden Kinder entschieden. Es hatte Emily das Herz gebrochen. Doch so etwas würde ihr nicht noch einmal passieren. Seitdem war sie sehr vorsichtig damit, ihr Herz zu verschenken und Gefühle zu entwickeln.
Sie blickte auf die Uhr. Es war bereits kurz nach elf. Anna hatte lange in einer Kundenveranstaltung festgesteckt und ihre schon längere Zeit geplante Verabredung auf einen anderen Abend verschieben wollen, doch Emily war sehr erpicht darauf gewesen, sich noch heute mit ihr zu treffen. Sie brauchte unbedingt jemanden zum Reden und außerdem war sie morgen Abend mit Oliver verabredet.
Also gab sie weiter Gas. Um diese Uhrzeit würde sicherlich niemand mehr die Geschwindigkeit kontrollieren, und wenn, dann verfügte sie ja jetzt über hervorragende Kontakte zur Polizei. In der Ferne sah sie Lichter blinken. Ob dort eine Ampel ausgefallen war? Nein, es waren zwei Lichter, die abwechselnd aufblinkten, ein weißes und ein grünes. Als Emily näher kam, sah sie, dass es die Signallichter einer Waschanlage waren. Merkwürdig, eigentlich ist es doch schon viel zu spät, dachte sie.
Die Tankstelle, zu welcher die Waschstraße gehörte, war jedenfalls geschlossen. Selbst die Benzinpreistafeln leuchteten nicht mehr. Die Tankstelle lag still neben der Straße, wie in dunklen Tüll gehüllt, während ihre kleine Nachbarin, die Waschanlage, munter in weiß-grünem Lichtspiel blinkte.
Wahrscheinlich ein technischer Defekt, fuhr es Emily durch den Kopf. Der Tankstellenbesitzer wird über seine Stromrechnung wohl nicht sonderlich erfreut sein, wenn das Ding jede Nacht ein Eigenleben entwickelt.
Ohne einen weiteren Gedanken an das Blinklicht zu verschwenden, fuhr Emily weiter die Landstraße in Richtung Zons entlang. In fünf Minuten würde sie bei Anna sein und in ihrem Appartement warteten sicherlich ein leckeres Glas Rotwein und ein wunderbarer Mitternachtsplausch mit ihrer besten Freundin über ihre neue Reportage auf sie.
…
Gewaltige Behälter aus Stahl ragten in den blauen Sommerhimmel. Das waren echte Giganten. Oliver schluckte beeindruckt. Ein bisschen kam ihm die Umgebung vor, als sei er auf einen fremden Planeten entführt worden. Das Gelände wirkte künstlich und steril. Nur das vertrocknete, rotbraune Gras und ein paar verkümmerte Bäumchen erinnerten ihn daran, dass er sich nach wie vor auf dem Planeten Erde befand. Klaus stand direkt neben ihm und kaute auf seinen Fingernägeln herum. Das tat er immer, wenn er nervös oder mit einer Situation überfordert war. Kein Wunder, dass dieses Projekt hier Hunderte Millionen Euro verschlungen hatte, dachte Oliver. Obwohl er die riesigen Salzsäuretanks schon gestern bei ihrem ersten Besuch im Chemiepark bestaunt hatte, konnte er seinen Blick nicht abwenden. Jetzt, wo er direkt davor stand und nur noch die Hand ausstrecken musste, um den kalten Stahlmantel eines der Riesentanks zu berühren, war ihm eines sonnenklar: Hier könnte man definitiv mehr als eine Leiche verschwinden lassen.
»Guten Morgen, die Herren Kriminalkommissare!«
Ein aalglatter wohlgepflegter Mittfünfziger stand vor ihnen und streckte ihnen zur Begrüßung eine Hand entgegen. Sein sonnengebräuntes Gesicht war von Unmengen winziger Fältchen durchzogen. Über seiner Oberlippe prangte ein sorgsam zurechtgestutzter Schnäuzer. Aus seiner linken Jacketttasche ragte ein blütenweißes, seidenes Taschentuch, und an der Hand, die er ihnen gerade entgegenhielt, funkelte ein dicker Siegelring. Vor ihnen stand Karl Rotenburg, der Pressesprecher des Dormagener Chemiekonzerns.
Oliver zögerte einen Moment und schüttelte Rotenburg dann höflich die Hand. Er mochte solche Typen nicht! Schon in der Schule hatte er sich von in teure Markenklamotten gehüllten Angebern und Besserwissern abgestoßen gefühlt. Mehr Schein als Sein! Klaus schien dies weniger auszumachen. Er setzte sein strahlendstes Lächeln auf. Fehlte nur noch, dass er diesem Typen auf die Schulter klopfte.
»Wie sind Sie eigentlich alleine bis hierher in unser Gelände vorgedrungen?« Der Pressesprecher runzelte die faltige Stirn und blickte Oliver mit einem aufgesetzten Grinsen an.
»Nun, ganz einfach«, Oliver holte tief Luft, reckte den Brustkorb und antwortete Rotenburg von oben herab. »Ihr junger Kollege hat uns freundlicherweise bis hierher begleitet.«
Oliver versuchte ebenso, ein Lächeln aufzusetzen, stellte jedoch im selben Moment fest, dass es ihm nicht sonderlich gut gelang. Er vollführte eine Kopfbewegung nach hinten, wo der junge Mann bis eben noch gestanden hatte, und drehte sich um. Zu seinem Erstaunen konnte er ihn nirgendwo entdecken. Sie standen zu dritt zwischen den riesigen Salzsäurestahltanks. Der Pförtner war verschwunden.
»Nun gut«, sagte Karl Rotenburg vorwurfsvoll. »Normalerweise dürfen sich nur speziell geschulte Mitarbeiter im roten Bereich bewegen, aber offenbar hatten Sie ja fachkundige Begleitung.« Er räusperte sich und deutete auf die verschiedenen farbigen Markierungen auf dem Weg, die Oliver vorher gar nicht aufgefallen waren. »Die Bereiche der roten Markierungen dürfen nicht betreten werden. Darunter befinden sich die Lüftungsschächte der Chemieanlage. Wissen Sie, bedauerlicherweise hat es vor einigen Jahren ein paar Unfälle gegeben, und wir haben daraufhin unsere Sicherheitsmaßnahmen verstärkt.«
»Ich verstehe. Nachdem Sie uns gestern die Mitarbeiterdetails zu Ihrem verschwundenen Kollegen Markus Heilkamp gegeben haben, könnten Sie uns denn heute zeigen, wo und wie er hier gearbeitet hat?«
»Natürlich, sehr gerne. Herr Heilkamp war für die gesamte Anlage hier verantwortlich. Er war bereits in die Planungen für den Bau der neuen Salzsäuretanks involviert. Wissen Sie, für uns ist die Säure nur ein Nebenprodukt. Wir verarbeiten es nicht weiter. Früher haben wir die Salzsäure einfach neutralisiert und entsorgt, doch bei dem Kostendruck heutzutage haben wir im letzten Jahr beschlossen, sie zu verkaufen. Wir haben einen internationalen Partner gefunden. Sicherlich haben Sie das in der Presse gelesen. Ein finnischer Chemiekonzern hat sich hier direkt neben uns angesiedelt und wird die Salzsäure als Flockungsmittel für die Trinkwasseraufbereitung einsetzen.«
»Wie meinen Sie das? Soll Salzsäure die Trinkwasserqualität verbessern?«, Oliver schüttelte den Kopf. Er konnte sich wirklich nicht vorstellen, was Salzsäure im Trinkwasser zu suchen hatte.
»Nun meine Herren, das ist eine simple chemische Reaktion! Stellen Sie sich einfach vor, dass sich die ganzen Trübstoffe und der Schmutz im Wasser zu Flocken zusammenballen, die man dann einfach ’rausfischen kann.«
Wie ein Oberlehrer fuhr Karl Rotenburg fort und hielt Oliver und Klaus einen geradezu ewig andauernden Vortrag über die Wirkung von Flockungsmitteln im Klärwasser. Olivers Kopf begann bei der Hitze langsam zu schwirren. Er konnte einfach nicht mehr zuhören. Seine Gedanken waren ganz woanders, nämlich bei Emily. Doch Rotenburg ließ sich nicht so einfach abschütteln. Er hatte gemerkt, dass die beiden Kommissare seinen Ausführungen nicht länger interessiert zuhörten, und sprach jetzt lauter:
»Die neue Anlage hier ist viel umweltfreundlicher als die alten Säuretanks dort drüben.«
Er fuchtelte mit seinen Armen vor Oliver und Klaus herum, um so wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Diese neuen Tanks entsprechen den aktuellsten Vorschriften. Jeder Tank ist fünfundzwanzig Meter hoch und hat einen Durchmesser von achtzehn Metern. Sie fassen jeweils ein Volumen von fünftausendfünfhundert Kubikmetern. Die Hülle der Salzsäuretanks besteht aus innovativem gummierten Stahl.«
»Gut, aber wo genau hat Herr Heilkamp denn jetzt gearbeitet?«
»Kommen Sie, hier drüben ist sein Büro.«
Sie gingen ungefähr hundert Meter an grünen, roten und blauen Markierungen vorbei und gelangten schließlich an einen kleinen silbernen Container, der als provisorisches Büro gedacht war.
»Dort drüben werden die neuen Büros errichtet«, Karl Rotenburg fuchtelte wieder wild mit den Armen. »Aber das wird noch ein paar Monate dauern und deshalb hat Herr Heilkamp alle Aktivitäten von diesem Bürocontainer aus koordiniert.«
Sie traten in den Container ein. Von innen war er viel größer, als Oliver vermutet hatte. Klaus stieß ihm von hinten an die Schulter und deutete auf einen älteren Mann, der ganz hinten an einem Schreibtisch saß. Oliver verstand und nickte. Nachher würden sie den Mann befragen. Die nahestehenden Kollegen konnten meist viel mehr aussagen als Vorgesetzte oder dieser Pressesprecher, die keine echten persönlichen Kontakte zu dem Verschwundenen pflegten.
»So, schauen Sie sich ruhig um. Und dort sitzt Herr Meyer. Er ist der Stellvertreter von Herrn Heilkamp und hat seit seinem Verschwinden alle seine Aufgaben übernommen.«
»Lassen Sie uns noch einmal zum letzten Arbeitstag von Herrn Heilkamp zurückkehren. Was genau hat er an diesem Tag getan?«
»Wissen Sie, aus meiner Sicht nichts Besonderes. Wie Sie selbst sehen können, war der Aufbau der neuen Salzsäuretanks erfolgreich abgeschlossen, und so gab es nur noch die Distribution der Säure und die Wartung der Tanks zu koordinieren. An diesem Tag wurden mehrere Tausend Liter Salzsäure an verschiedene Kunden ausgeliefert.« Karl Rotenburg griff einen grünen Ordner aus dem Regal und hielt ihn Oliver und Klaus vor die Nase. »Sehen Sie, hier ist alles genau aufgezeichnet. Das sind alle Lieferscheine aus diesem Jahr. Bitte nehmen Sie sich doch Zeit, um die Sachen genau zu studieren. Wissen Sie, auch uns als Arbeitgeber von Herrn Heilkamp, ist sehr an seiner Rückkehr gelegen. Er ist ein hervorragender Mitarbeiter, auf den wir nicht so leicht verzichten können.«
Oliver blätterte durch den Ordner, welcher Unmengen von Lieferscheinen enthielt. Offenbar lohnte sich für den Konzern das Geschäft mit der Salzsäure ordentlich. Er konnte jedoch auf den ersten Blick keine Auffälligkeiten erkennen und notierte sich die Namen der Firmen, die in den letzten zwei Wochen vor Markus Heilkamps Verschwinden Salzsäure abgenommen hatten. Die Liefermengen waren jeweils riesig. Eher unwahrscheinlich, dass der oder die Mörder – sofern Heilkamp tatsächlich nicht mehr am Leben war – hier direkt die Säure bezogen hatten. Vielleicht war es ihnen gelungen, unauffällig einen Teil der Menge abzuzapfen.
»Sagen Sie, Herr Rotenburg, wird die verbliebene Menge in den Tanks regelmäßig kontrolliert?«
»Ja, natürlich. Wir führen Buch über den Verbleib jedes Tröpfchens, wenn man das so sagen darf. Gesetzliche Vorschriften. Wir müssen ja auch sicherstellen, dass die Tanks dicht sind. Sie können sich vorstellen, dass die Säure sehr aggressiv ist und sich schnell durchfressen kann. Wir erfüllen hier zwar die höchsten Sicherheitsstandards, aber gerade an Schnittstellen und Nähten ist die Gefahr für die Bildung von Lecks dennoch immer groß. Deshalb kontrollieren wir die Mengen regelmäßig.«
»Dürften wir kurz mit dem Vertreter von Herrn Heilkamp sprechen? Wie war sein Name noch einmal?«
»Herr Meyer. Selbstverständlich.« Wieder fuchtelte Rotenburg wild mit den Armen in der Luft und winkte Herrn Meyer heran.
»Herr Meyer, darf ich Ihnen unsere Besucher kurz vorstellen? Die Herren Kriminalkommissare Oliver Bergmann und Klaus Gruber. Die beiden Herren untersuchen das Verschwinden unseres geschätzten Kollegen Markus Heilkamp. Bitte geben Sie den Herren alle Informationen, die sie benötigen.«
Herr Meyer wurde rot im Gesicht. Er konnte Olivers Blick nicht standhalten und senkte die Augen zu Boden, während er Oliver eine schlaffe Hand zur Begrüßung reichte.
»Kennen Sie Herrn Heilkamp gut? Hatten Sie auch privat Kontakt zu ihm?«
Mit ungewöhnlich hoher und brüchiger Stimme antwortete Herr Meyer:
»Ich war oft bei ihm zu Hause. Er hat einen kleinen Bauernhof in der Nähe von Zons. Seit der Scheidung von seiner Frau fühlte er sich einsam und wir haben öfter zusammengesessen, uns unterhalten und dabei ein paar Bier getrunken. Ich bin schon zwei Jahre länger geschieden als er und deshalb haben wir uns gut verstanden.«
»Wissen Sie, ob er an dem Abend seines Verschwindens etwas Besonderes vorhatte?«
»Nein, er war den ganzen Tag über müde und wollte sich ausruhen. Wissen Sie, am Abend vorher hatte er ein Blind Date mit einer hübschen Brünetten.« Herr Meyer grinste verzückt, und für einen kurzen Moment nahmen seine eingefallenen Wangen, die typisch für einen Kettenraucher waren, eine rosige Farbe an. Dann blickte er verlegen zu Rotenburg hinüber, bevor er seine Augen wieder auf den Boden heftete.
»Wissen Sie, wer die Dame war, mit der er sich getroffen hat?«
»Ja, er hat mir ihr Profil gezeigt. Sie heißt wilde Biene in dem Chat.«
»Ihren richtigen Namen kennen Sie nicht zufällig?«
»Nur den Vornamen: Sabine. Nach dem Nachnamen habe ich ihn nicht gefragt. Es erschien mir damals nicht sonderlich wichtig. Wissen Sie, er hat sich öfter mit Frauen über das Internet verabredet. Er wollte unbedingt einen Neuanfang nach seiner Scheidung.«
»Wollte er diese Sabine wiedersehen?«
»Ja, er hat sich mit allen Kandidatinnen mindestens zweimal getroffen. Er hat immer gesagt, er müsse herausfinden, ob die Frau auch auf den zweiten Blick etwas tauge. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine.«
Oliver nickte. Er hatte fürs Erste genug gehört. Die Informationen waren zwar interessant, jedoch glaubte er nicht, dass eine Frau als Täterin infrage kam, falls Markus Heilkamp überhaupt ein Opfer war. Bisher war er lediglich verschwunden, und ob die gefundenen Fußknochen zu ihm gehörten, stand noch nicht fest.
»Sagen Sie, verwerten Sie eigentlich alle Nebenprodukte oder lagern Sie auch nicht verwertbare Reste auf dem Gelände?«
»Sie meinen unseren Materialfriedhof? Dort wird alles abgelegt, was im Moment nicht verwertet werden kann. Manchmal benutzten wir diesen Friedhof, um Ersatzteile zu finden. Er befindet sich in circa drei Kilometern Entfernung von hier am hinteren Ende des Geländes. Wollen Sie ihn sehen?«
»Vielleicht beim nächsten Termin. Ich denke, für heute haben Sie uns sehr weitergeholfen. Vielen Dank!«
Sie ließen sich vom Pressesprecher zum Ausgang des Chemiewerkes begleiten, verabschiedeten sich knapp und fuhren zurück ins Revier. Als Nächstes würden sie den Bauernhof von Markus Heilkamp ins Visier nehmen. Vielleicht ließen sich dort DNA-Spuren sicherstellen, mit deren Hilfe nachgewiesen werden konnte, ob der Fuß zu Markus Heilkamp gehörte.
…
Er hatte sie gestern kommen sehen, die beiden hochgewachsenen Kriminalkommissare. Der eine sah genauso aus, wie er sich einen Ermittler immer vorstellte. Verwaschene, enge Jeans, braune Boots und ein ausgefranstes T-Shirt, aus dem muskulöse Oberarme ragten. Die schwarzen Haare waren zerzaust und unter den dunklen Augenbrauen blickten stahlblaue wache Augen hervor. Sein Gesicht war braun gebrannt und kantig. Er bewegte sich mit geschmeidiger Kraft, wie ein Tiger auf der Jagd. Den anderen fand er nicht so spannend, er war viel älter und nicht halb so durchtrainiert wie der Erste. Fast hätte er als sein Vater durchgehen können, wären da nicht die völlig anderen Augen gewesen, die mit ihrer graublauen Farbe zwar freundlich, aber auch auf eine unbeschreibliche Weise harmlos wirkten. Das waren nicht die Augen eines Jägers. Soviel hatte er bereits von seinem Meister gelernt!
Da er oft an der Pforte des Chemieparks aushalf, war es ihm nicht schwergefallen, den beiden unauffällig zu folgen. Sein Meister war sehr stolz auf ihn gewesen, als er ihm gestern im Chat berichtete, dass die beiden heute wiederkommen würden. Sein Herz hatte wie der Donner gedröhnt, als er sich ohne Erlaubnis von seinem Posten entfernt hatte, um die Kommissare so nahe wie möglich an die Salzsäuretanks heranzuführen. Nur einen Katzensprung entfernt waren sie unwissend über die Markierungen der Gefahrenbereiche gelaufen. Wenn sein Meister es ihm nicht ausdrücklich verboten hätte, wäre er der Versuchung sicherlich erlegen, die beiden, oder wenigstens einen von ihnen, in den riesigen unterirdischen Bodentanks verschwinden zu lassen. Was schnüffelten sie auch hier herum? Er hatte nichts verbrochen. Jedenfalls nicht mehr seit seiner letzten Gefängnisstrafe. Und diese war auch nicht gerechtfertigt gewesen. Er hatte dieser Frau schließlich nichts getan. Er wollte sie nur anfassen, nicht schlagen oder gar töten! Das konnte doch nicht verboten sein. Er hatte sie nicht so schlecht behandelt, wie diese Schlampe vor Gericht behauptet hat. Bei der nächsten Gelegenheit würde er mit der Wahl einer Frau vorsichtiger sein.
Doch dafür war jetzt nicht die rechte Zeit. Zunächst musste er sich auf die beiden Kommissare konzentrieren und herausfinden, was sie als Nächstes vorhatten. Wie gut, dass die beiden so von den riesigen Säuretanks beeindruckt gewesen waren, dass sie nicht bemerkt hatten, wie er sich hinter einem kleinen Mauervorsprung versteckte. Fast unsichtbar war er ihnen den ganzen Weg gefolgt und hatte es dann auch noch geschafft, wieder rechtzeitig auf seinem Posten an der Pforte zu sein. Sei unauffällig! Genauso wie sein Meister es ihn gelehrt hatte, war niemand am Ende der Führung mehr auf die Idee gekommen, nach ihm zu fragen.
…
Der Wecker klingelte unerbittlich. Der schrille Ton erzeugte augenblicklich stechende Schmerzen in ihren Nervenbahnen. Blind tastete Anna auf ihrem Nachttisch herum und versuchte, das störende Ding in die Finger zu bekommen. Doch der Wecker schien ihrer suchenden Hand auszuweichen. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr Zeigefinger es endlich schaffte, die erlösende Stummtaste zu drücken. Mit einem tiefen Seufzer ließ Anna sich erschöpft zurück in die Kissen fallen. Nein, die Nacht konnte unmöglich schon vorüber sein. Doch die Sonne, welche verspielt durch die Jalousien strahlte, bewies ihr das Gegenteil. Verdammt, es war helllichter Tag. Trotzig zog sie sich die Bettdecke übers Gesicht und versuchte, das Licht auszusperren. Sie konnte noch nicht aufstehen. Ihr Kopf dröhnte, und ihr ganzer Körper gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass die Nacht für ihn noch nicht beendet war. Anna atmete tief aus und schielte mit einem Auge unter der Bettdecke hervor. Emily lag neben ihr und schnaufte friedlich vor sich hin. Gesegnet sind die Studenten, die immer und überall ungestört schlafen können, egal wie laut ein Wecker auch klingeln mag.
Anna rieb sich müde die Augen. Obwohl sie jetzt schon seit drei Jahren bei der Bank arbeitete, hatte sie sich immer noch nicht an den Rhythmus gewöhnt. Das regelmäßige frühe Aufstehen lag ihr überhaupt nicht. Sie hatte vor Kurzem über eine Schlafstudie einer bekannten Universitätsklinik gelesen, in der endlich nachgewiesen wurde, dass es zwei Typen von Schläfern gab. Die Lerchen, die morgens mit dem ersten Sonnenstrahl munter und hellwach herumspringen, und die Eulen, die erst gegen Mittag richtig in Fahrt kommen und vorher eigentlich nicht wirklich zu gebrauchen sind. Der Schlaftyp sei genetisch bereits im Mutterleib festgelegt, und Anna war sich sicher, dass sie eine Eule war.
Nach den zwei Flaschen Rotwein, die sie gestern Nacht mit Emily getrunken hatte, und stundenlangen Internetrecherchen für die neue Reportage über Zonser Serienmörder im Mittelalter fühlte sich ihr Kopf wie eine matschige Birne an. Wie häufig nach übermäßigem Alkoholgenuss hatte Anna einen sehr realen Traum gehabt. Immer wieder sah sie dieses Gemälde von Bastian Mühlenberg und seiner Frau, Marie, vor sich. Wieder und wieder durchlebte sie die tiefe Irritation, als sie feststellte, dass es Bastian Mühlenberg in der Gegenwart nicht gab. Immer wieder durchträumte sie jede einzelne Begegnung mit ihm, so auch ihre Letzte. Den Abend, an dem er sich mit ihr unbedingt am Mühlenturm in Zons treffen wollte. Den Abend, der um ein Haar der letzte ihres Lebens geworden wäre. Denn Bastian hatte sie davon abgehalten, in ihr Appartement zu gehen, wo der Puzzlemörder auf sie gewartet hatte.
Seit diesem Vorfall hatte sie Bastian Mühlenberg nicht wiedergesehen, doch in der letzten Nacht hatte sie erneut von ihm geträumt. Diesmal war sie sich sicher, dass es ein Traum gewesen war. Sie sah Bastian nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Es war ein wirrer Traum. Schnell, dunkel und gefährlich. Bastian lief durch dunkle Gassen und sammelte silberne Schlüssel, die an einer Kette hingen. Sie sah einen todkranken Mann in einem Bett liegen. Er hatte große Ähnlichkeit mit Bastian. Sie sah Bastian traurig an seinem Bett sitzen. Er hielt seine Hand und schüttelte trotzig seinen blonden Schopf.
Sie erinnerte sich an den Moment, in dem er eine große, alte, verzierte Holztruhe aufschloss. Dann verschwamm dieses Bild und sie erblickte eine Karte mit kryptischen Zeichen. Sekunden später stand sie in einem dunklen Gewölbe. Ihr Herz klopfte laut und die Angst übermannte sie, weil sie sich verlaufen hatte. Es war ein Labyrinth aus tausend dunklen Gängen, feucht und schmutzig. Ungeziefer lief ihr über die Füße, und als sie es fast nicht mehr aushielt, stand Bastian plötzlich mit einer Fackel vor ihr und im nächsten Moment saßen sie bei einem Picknick am sonnigen Rheinufer. Sie erinnerte sich genau an den letzten Moment, als er sie mit seinen braunen Augen ansah. Er beugte sich ganz nahe zu ihr herüber. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. Sie wollte ihn küssen, aber Bastian wollte ihr erst noch etwas zuflüstern. Sie hörte seine Worte, erkannte jedoch keinen Sinn in ihnen. Dann hatte ihr Wecker schrill und unerbittlich geklingelt und sie rücksichtslos aus dem einzig schönen Moment ihres Traums gerissen. Anna hielt sich die Hände an den Kopf. Sie brauchte dringend eine Schmerztablette. Ihr Smartphone klingelte.
Nein! Nicht jetzt! Schon wieder dieser Matthias Kronberg. Wie der nerven konnte! Gequält schlüpfte sie aus dem Bett, eilte in die Küche und nahm ab.
»Hallo.«
»Guten Morgen, Frau Winterfeld. Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich will Sie nicht schon wieder belästigen, aber ich müsste dringend wissen, ob ich den Kredit bekomme.«
Anna dachte kurz nach. Wie war das noch einmal mit diesem Kunden? Ihr Kopf fühlte sich so schwer an, dass sie Mühe hatte, sich zu erinnern. Kronberg. Matthias Kronberg. Was hatte ihr Chef ihr gestern dazu gesagt? Dann fiel es ihr ein.
»Herr Kronberg, machen Sie sich doch bitte keine Sorgen. Alles ist auf dem Weg. Ich muss nur noch das Votum unserer Risikoabteilung abwarten. Aber ich bin sicher, dass alles gut gehen wird. Kann ich mich im Laufe des Tages bei Ihnen melden?«
Mit enttäuschter Stimme antwortete Matthias Kronberg: »Ja gut, aber geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas erfahren. Bitte!«
Anna legte auf und griff nach der Schachtel mit den Tabletten. Sie schluckte eine ohne Wasser hinunter und ging zurück ins Schlafzimmer. Sanft streichelte sie Emily über die Haare.
»He Schlafmützchen, wach kurz auf!«
Emily rieb sich verschlafen die Augen. Ihr Atem roch noch stark nach Rotwein.
»Ich muss los zur Arbeit. In der Küche findest du was zu essen und Kaffee. Die Ausdrucke über die goldene Sichel lege ich dir auf deine Tasche, damit du sie nicht vergisst. Ruf mich an und erzähle mir von deinem Date mit Oliver. Ich bin wirklich brennend daran interessiert!« Sie lächelte. Das war eine schöne Liebesgeschichte zwischen den beiden. Wie gerne hätte sie auch mal so ein Glück. »Falls du Aspirin brauchst. Hier ist welches.«
Anna legte die Aspirin-Schachtel direkt neben Emilys Kopf.
»Meinst du, die Geschichte mit dem Sichelmörder ist eine gute Idee?«, fragte Emily mit schlaftrunkener, heiserer Stimme.
»Klar. Sie wird genauso ein Erfolg werden wie deine Reportage über den Puzzlemörder. Wir haben die Geschichte ja schon fast zusammen. Es fehlen nur noch ein paar Recherchen im Kreisarchiv und dann hast du eine neue aufregende Story in der Tasche. Du schreibst gut, Emily. Ich glaube an dich!«
Und das Gute daran ist, fügte Anna in Gedanken hinzu, dass diese Sichelmorde mit mir diesmal nicht das Geringste zu tun haben!
Wirklich nicht? Ein düsterer Gedankenstrom raste durch Annas Geist und für einen kurzen Moment sah sie in einem finsteren Gang eine goldene Sichel aufblitzen. Diese Vorstellung verpasste ihr eine Gänsehaut, bei der sich die feinen Härchen an ihren Armen schlagartig senkrecht aufstellten und ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Jetzt übertreibe mal nicht, nur weil du schlecht geträumt hast, ermahnte sie sich selbst und griff entschlossen nach ihrem Autoschlüssel. Energisch streifte sie die düsteren Gedanken ab und begab sich auf den Weg nach Düsseldorf zur Arbeit.