Vor fünfhundert Jahren
Bastian hatte den dritten Schlüssel auf sein Notizbuch gelegt und zeichnete die Umrisse mit einer dünnen Feder exakt nach. Neben stöhnte Wernhart auf, er litt immer noch unter Bauchkrämpfen. Das Rizinusöl, welches Josef ihm als Abführmittel verordnet hatte, tat ganze Arbeit und wirkte stärker als vermutet. Wernhart tat ihm furchtbar leid. Er sah ganz grün im Gesicht aus. Andererseits wären sie ohne das Rizinusöl niemals an den Schlüssel gekommen, den Wernhart in seiner Verzweiflung einfach hinuntergeschluckt hatte. Es war wirklich eine glorreiche Idee des Arztes gewesen, einfach so lange abzuwarten, bis der Schlüssel mit Wernharts Verdauung ausgeschieden wurde. Einen anderen Weg gab es nicht, schließlich hätten sie den Freund nicht aufschneiden können.
Josef trat in die kleine Kammer und brachte Wernhart einen großen Krug mit Wasser.
»Hier, trinkt das, mein Freund. Es tut dem Leib nicht gut, auszutrocknen. Wir sind nicht anders als all die Pflanzen um uns herum, ohne Wasser verdorren wir.«
Wernhart trank hastig das erfrischende Nass. Dann wischte er sich über die Lippen und für einen Moment verschwand die grüne Farbe aus seinem Gesicht. Erschöpft ließ er sich zurück auf sein Lager fallen.
»Bastian, bevor du dich auf den Weg zu Pfarrer Johannes begibst, muss ich dir noch etwas berichten.«
Josef wollte sich zum Gehen wenden, um die beiden nicht in ihrem Gespräch zu stören, doch Bastian hielt ihn am Ärmel fest.
»Bleibt, Josef. Ich vertraue auf Eure Verschwiegenheit und Treue.«
Josef nickte und setzte sich zu Bastian. Wernhart begann, mit zittriger Stimme zu sprechen:
»Als ich im Schlafgemach von Huppertz stand, kurz bevor er aufgewacht ist und mich überrumpelt hat, habe ich ein Gefäß mit Goldgulden entdeckt. Ich schätze, es waren mindestens zweihundert Stück.«
»Bist du dir sicher?«
Wernhart nickte und hielt sich den krampfenden Bauch.
»Woher könnte der Bruderälteste so viel Gold haben?«
»Vielleicht hat er seine eigenen Schützenbrüder bestohlen und das Gold aus der Schützentruhe entwendet.«
»Dafür hätte er jedoch die drei Schlüssel gebraucht.«
Josef nickte zustimmend, warf jedoch ein:
»Vielleicht hat er das Gold schon vor längerer Zeit gestohlen.«
Bastian sah Josef erstaunt an und schlug sich auf die Schenkel.
»Das ist möglich! Er hat es gestohlen und Benedict Eschenbach hat es bemerkt. Vielleicht hatte er vor, alle drei Schlüssel an sich zu bringen, damit er die Schützentruhe öffnen und selbst nachsehen konnte. Sicher wollte Huppertz das verhindern und hat ihn sofort aufgehalten, als der erste Schlüssel in Eschenbachs Besitz gelangte.«
Wernhart richtete sich erschrocken auf.
»Du meinst, Huppertz war es, der Benedict umgebracht hat?«
»Es könnte sein.«
Aufgeregt begann Bastian in sein Notizbuch zu schreiben. Er wollte diese Gedanken unbedingt festhalten, um nichts zu vergessen. Bisher hatte er nicht die geringste Spur entdeckt, die ihn zu Benedicts Mörder führen könnte. Das war sehr ärgerlich, denn schließlich war der alte Jacob ja mehr oder weniger Zeuge des Mordverbrechens geworden. Doch leider hatte auch Jacob nicht mehr als einen schwarzen Schatten gesehen. Für Mord gab es immer einen Grund und endlich hatte Bastian ihn gefunden. Deshalb hat er ihn nicht gemeldet! In diesem Moment fiel es Bastian wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich die ganze Zeit gewundert, warum Huppertz den Einbruch von Wernhart in sein Haus nicht einfach der Stadtwache gemeldet hatte. Jetzt war Bastian alles klar. Huppertz wollte nicht, dass der Fall untersucht wurde. Dann würde man die vielen Goldgulden in seinem Haus finden und er müsste eine Menge unangenehmer Fragen beantworten. Bastian stöhnte innerlich auf. Es war ein Wunder, dass er Wernhart nicht sofort getötet hatte.
»Du hast verdammtes Glück gehabt«, sagte Bastian an Wernhart gerichtet.
Dieser nickte und blickte Bastian wissend an.
»Ich weiß, mein Freund. Ich wäre entweder im Juddeturm oder wie Benedict unter der Erde gelandet, wenn ich nicht direkt über das Gold gestolpert wäre.«
Plötzlich öffnete sich die Tür und Margarete, Josefs Eheweib, lief schluchzend und mit rot geweinten Augen auf Josef zu.
»Conrad ist verschwunden! Ich habe mit dem Abt Ludwig von Monheim gesprochen. Seit Tagen ist er nicht mehr im Kloster gesehen worden. Oh, gütiger Gott. Ihm ist etwas Schreckliches zugestoßen!«
Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und versuchte, ihre Tränen vor Bastian und Wernhart zu verbergen. Josef nahm sie in die Arme und blickte Bastian Hilfe suchend an. Bastian erhob sich und trat an Margarete heran.
»Ich versichere Euch, dass wir so bald wie möglich nach Conrad suchen werden. Bestimmt ist ihm nichts geschehen und er taucht unversehrt wieder auf.«
»Aber die Frau vom alten Jacob ist auch seit drei Tagen verschwunden. Findet Ihr das nicht merkwürdig? Fast ist es, als würde Dietrich Hellenbroich wieder sein Unwesen treiben.«
Bastian zuckte bei dem Namen zusammen. Das konnte nicht sein. Der Puzzlemörder würde nicht nach Zons zurückkehren. Selbst wenn, und das schloss Bastian vollkommen aus, würde er seine Aufmerksamkeit nur auf junge Mädchen richten. Dies traf weder auf Conrad noch auf das Eheweib vom alten Jacob zu.
»Hört zu, Margarete«, erwiderte Bastian, »der alte Jacob war noch nicht einmal bei mir. Sein Weib ist schon des Öfteren heimlich zu ihrer Tochter verschwunden. Ihr selbst wisst doch am besten, dass es um die Ehe der beiden nicht gut bestellt ist. Wenn Jacob der Überzeugung wäre, dass ihr etwas zugestoßen sei, hätte er mich längst aufgesucht.«
Margarete schluchzte noch lauter und sah Bastian verärgert an.
»Er wollte nur noch heute abwarten. Glaubt mir, Bastian, hier stimmt etwas nicht.«
»Wenn er morgen zu mir kommt, werde ich mich darum kümmern. Ihr habt mein Wort!«
…
Huppertz war außer sich. Dieser Trottel von Wilhelm war auch wirklich zu nichts zu gebrauchen. Da sollte er nur für ein paar Stunden auf den gefangenen Wernhart aufpassen und ließ sich dann selbst überrumpeln. Wilhelm saß geknebelt und gefesselt an seinem Küchentisch und weinte wie ein kleines Mädchen. Was war er doch nur für ein Schwächling.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Huppertz wütend. Seine Stimme überschlug sich fast und Wilhelm starrte ihn mit angsterfüllten Augen an. Huppertz riss Wilhelm unsanft den Knebel aus dem Mund.
»War das Wernhart?«
»Nein, es war der Teufel«, wimmerte Wilhelm kleinlaut.
Huppertz reichte es endgültig mit diesem Jammerlappen.
»Kannst du nicht einmal ein paar Stunden achtgeben? Wo ist Katharina?«
»Er hat sie mitgenommen!«
Die Tränen liefen in Strömen über Wilhelms Gesicht.
»Wie meinst du das?«
Huppertz platzte fast vor Wut und schüttelte den hilflosen Wilhelm, während er die Fesseln löste, mit denen dessen Arme und Beine am Stuhl festgebunden waren. Wilhelm rieb sich die Arme. Die Haut war dort, wo er gefesselt gewesen war, blutunterlaufen. Offenbar hatte Wilhelm immerhin versucht, sich zu befreien, wenn auch erfolglos.
Laut schluchzend antwortete er: »Erst hat er uns beide gefesselt und dann hat er Wernhart entkommen lassen.« Wilhelm schüttelte den Kopf und wurde erneut von einem Weinkrampf ergriffen. Kaum hörbar fuhr er fort: »Am Ende hat er Katharina gepackt und sie fortgeschleppt. Ich konnte nichts tun. Wirklich nicht! Es tut mir leid!«
Wilhelm winselte in lauten, lang gezogenen Tönen, er klang wie ein Hund. Seine Mundwinkel waren weit nach unten verzerrt und Tränen liefen ununterbrochen seine Wangen. Huppertz konnte diesen jämmerlichen Anblick nur noch mit Mühe ertragen und musste sich beherrschen. Am liebsten hätte er Wilhelm verprügelt. Verdammt, dieser Trottel sollte doch aufpassen! Stattdessen war Wernhart entkommen, und was noch viel schlimmer war, Katharina war ebenfalls fort.
Wutentbrannt holte Huppertz sein schärfstes Schwert aus dem Schrank. Er würde direkt zu Bastian Mühlenberg gehen. Es reichte ihm! Dieser Wernhart sollte seine Katharina wieder herausrücken. Wenn er sie nicht zurückbekam, wäre er zu allem fähig! Mit langen Reden würde er sich nicht aufhalten. Entweder er bekam Katharina wieder oder er würde jeden einzelnen Soldaten der Stadtwache niedermetzeln! Mit hochrotem Kopf und schnellen Schritten verließ Huppertz das Haus in Richtung Mühlenturm, neben dem Bastian wohnte.
Mitten auf der Zehntgasse blieb Huppertz unvermittelt stehen. Ein Satz von Wilhelm kam ihm in den Sinn: Es war der Teufel!
Verdammt! Was, wenn Bastian Mühlenberg von Wernharts Treiben gar nichts wusste? Wenn Wilhelm recht behielt und Katharina gar nicht von Wernhart, sondern von einem Unbekannten entführt worden war, dann befand er sich auf der völlig falschen Fährte. Er musste zurück und noch einmal mit Wilhelm reden. Dieser Trottel sollte ihm genau beschreiben, wie dieser Teufel aussah!
…
Er fuhr mit seinen klobigen, schwieligen Fingern über eine Seite in der Bibel. Er hatte diese Textstelle schon so oft gelesen, dass das Papier von der ständigen Berührung ganz dünn war. An manchen Stellen zogen sich Schlieren unter den Textzeilen entlang. Teilweise waren die Buchstaben bereits ausgeblichen, sodass der Text nicht mehr lesbar war. Aber das störte ihn nicht. Er konnte ihn sowieso in- und auswendig. In seinem Kopf ertönte die bekannte Melodie, welche ihn seit seiner Kindheit begleitete. Bist du mir böse, Gott? Er war sich nicht sicher, das Richtige getan zu haben. Er griff unter den Tisch und zog eine Geißel hervor. Die Enden der Riemenpeitsche waren mit spitzen Nägeln besetzt. Er fing an, die Melodie aus seinem Kopf laut zu summen, und schlug sich mit aller Kraft auf den Rücken. Die Peitsche knallte in hohem Schwung und mit bösartigem Pfeifen auf seine nackte Haut.
Der Schlag schmerzte nicht mehr als sonst. Also habe ich alles richtig gemacht! Er war sich noch nicht sicher, ob er Gottes Antwort richtig verstanden hatte, also holte er abermals aus und ließ die Geißel auf seine nackte Haut niedersausen. Jetzt war er sich sicher, dass der Schmerz sich nicht verstärkt hatte. Dann war alles gut! Mit einem zufriedenen Seufzer legte er die Riemenpeitsche zurück und las erneut in der Bibel. Von draußen konnte er einen Glockenschlag vernehmen. Er stand auf und blickte durch das Fenster. Es war an der Zeit!
Am helllichten Tag war es am ungefährlichsten, zu seinem geheimen Ort zu gelangen. Zu dem Ort, an dem er Gottes Urteil vollstreckte! Dort, wo er den Sündern beibrachte, das Lügen und Ablassbriefe nicht gottgefällig waren. Für ihn war es eine Todsünde, mit dem Kauf eines Ablassbriefes dem Fegefeuer entrinnen zu wollen. Ein Narr, wer glaubte, dass Gott sich kaufen ließe!
Er erinnerte sich deutlich an den Besuch des Ablasspredigers Johann Tetzel vor etlichen Jahren. Seit diesem Zeitpunkt hatte er ihn glücklicherweise nie wieder getroffen. Aber er sah den hochmütigen Tetzel noch heute vor sich, wie er seine Ablasspredigt hielt und sich dabei in seiner maßlosen Selbstgefälligkeit sonnte. Das war reine Blasphemie. Doch der Abt Ludwig von Monheim war begeistert von Tetzels Predigt gewesen. Nie würde er den Schmerz vergessen, der durch sein Herz fuhr, als der Abt dem jungen Johann Tetzel anerkennend auf die Schulter klopfte. Wie er ganz rot im Gesicht wurde, als er die vielen Gulden sah, die Tetzel mit dem Verkauf der Ablassbriefe an einem einzigen Tag eingenommen hatte. Auch wenn anschließend das Kloster von dem vielen Geld wieder zu neuem Leben erwachte, hätte es sicher einen segensreicheren Weg gegeben, das Überleben zu sichern.
Er dachte an die letzte Nacht. Gut, wenn er es recht bedachte, waren die beiden Weiber nicht halb so schlimm, wie dieser Hurensohn Johann Tetzel. Aber trotzdem hatten sie gesündigt und mussten bestraft werden. Es war nicht falsch gewesen, dass er es genossen hatte, die beiden Sünderinnen gemeinsam zu läutern.
Bist du dir sicher? Eine zweifelnde Stimme meldete sich in seinem Inneren.
Doch er wollte sie nicht hören. Wenn es falsch gewesen wäre, hätte Gott mich mit Schmerzen gestraft. Aber das hat er nicht!
Aber du hast es doch genossen, die beiden Weibsbilder leiden zu sehen? Die Stimme wollte einfach nicht aufhören, ihn zu ärgern.
Natürlich hatte er es genossen. Was war falsch daran, sich zu erfreuen, wenn man Gottes Werk tat?
Aber es hat dir nicht nur auf diese Weise gefallen? Die Stimme nervte ihn weiter.
Er hatte es nicht gewollt. Zumindest nicht geplant. Aber die Härte zwischen seinen Beinen erinnerte ihn nur allzu deutlich an die Wollust, die er empfunden hatte, als er mit seiner Peitsche auf ihre nackten Brüste eingeschlagen hatte. Ihr schmerzvolles Stöhnen hatte ihn nur noch weiter angetrieben und am Ende waren die schönen Brüste zerstört. Doch das hatte er nur für einen kurzen Moment bereut. Ihn traf keine Schuld! Verunsichert blätterte er schnell eine neue Seite in der Bibel auf und begann, laut aus dem ersten Timotheus Brief zu lesen.
»Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot.«
Sie waren beide selbst verantwortlich für das, was geschehen war. Im Grunde konnten sie ihm dankbar sein, denn nur ihm war es zuzuschreiben, dass sie dem Fegefeuer entgingen und direkt zu Gott in den Himmel gelangten! Egal. Wütend schlug er die Bibel zu. Es war schon spät. Die Glocke würde bald wieder erklingen. Er musste los. Der nächste Sünder sollte pünktlich in die Hölle fahren!
…
In der Kirche roch es nach frischem Weihrauch. Bastian atmete den Geruch tief ein und genoss das vertraute Gefühl, welches sich dabei in ihm ausbreitete. Bilder aus seiner Kindheit gingen ihm durch den Kopf, und lächelnd erinnerte er sich daran, wie Pfarrer Johannes ihm das Lesen und Schreiben beibrachte. Er sah die kleinen Holzbuchstaben vor sich, welche er auf Geheiß des Pfarrers immer wieder zu neuen Worten formte. Es war ein aufregendes Spiel gewesen, und Bastian hatte es geliebt, die Worte in immer schnellerem Tempo zusammenzusetzen. Noch heute spürte er den Stolz in sich aufsteigen, den er empfunden hatte, als er zum ersten Mal Tinte und Feder benutzen und auf echtem Papier schreiben durfte. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, denn damals hatte er wahnsinnige Angst davor gehabt, auf das Papier zu klecksen.
Eine klobige Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Aus seinen Gedanken gerissen, fuhr Bastian zusammen und drehte sich um. Es war Bruder Ignatius.
»Ich habe mit Eurem Bruder Albrecht gesprochen. Er ist von den Klosterarbeiten sehr in Anspruch genommen, aber er wird trotzdem noch in dieser Woche den kranken Heinrich aufsuchen. Ich war übrigens vorhin bei ihm. Es geht ihm viel besser.«
»Wirklich? Das sind ja gute Neuigkeiten, die Ihr mir da überbringt«, antwortete Bastian erfreut. Er hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er Heinrich noch nicht wieder besucht hatte. Doch jetzt breitete sich ein Gefühl der Erleichterung in ihm aus. Er wusste doch, dass sein großer Bruder unverwüstlich war. Seine Sorgen waren umsonst. Es ging ihm besser, und das bedeutete, dass Bastian Heinrichs Wunsch nicht sobald erfüllen musste. Dass Heinrich auch ausgerechnet im Kloster Knechtsteden seine letzte Ruhe finden wollte. Das würde er wohl nie verstehen. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf bei diesem Gedanken.
Pfarrer Johannes kam mit rauschenden Gewändern auf ihn zu. Er hatte sich nach dem Gottesdienst noch nicht umgezogen und trug ein kostbares, mit goldenen Verzierungen besticktes Gewand. Herzlich nahm er Bastian in die Arme, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm zu:
»Folgt mir in den Nebenraum, mein lieber Junge.«
Bastian tat, wie ihm geheißen. Er nickte Bruder Ignatius, der in seinem einfachen, dunkelbraunen Mönchsgewand neben Johannes recht unscheinbar wirkte, noch einmal dankbar zu und lief dann schnurstracks hinter Pfarrer Johannes her. Dieser lief so schnell, dass Bastian Mühe hatte, Schritt zu halten. Im Nebenraum angekommen, schloss Pfarrer Johannes die Tür und fragte ihn aufgeregt:
»O Bastian. Ich sehe es Euch an. Ihr habt den dritten Schlüssel, nicht wahr?«
»Ihr seid ein guter Beobachter, Pfarrer Johannes!«
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht zog Bastian den Schlüssel hervor und überreichte ihn dem Pfarrer.
»Ihr habt es tatsächlich geschafft. Ich bin so stolz auf Euch, mein Junge!«
Pfarrer Johannes nahm den Schlüssel ehrfürchtig entgegen. Vorsichtig hielt er ihn hoch und drehte ihn hin und her. Dann legte er ihn auf den Tisch und schob den schweren Eichenschrank beiseite. Bastian half ihm, ruckend schrammte der Schrank über den steinernen Kirchenboden. Pfarrer Johannes tastete an der Wand entlang, bis er den kleinen Hebel fand. Mit leisem Klicken öffnete sich ein Spalt in der dicken Kirchenwand. Pfarrer Johannes griff nach dem Leinentuch und schlug es auf dem Tisch auseinander. Er ordnete alle drei Schlüssel nebeneinander an und betrachtete sie überwältigt.
»Wisst Ihr, Bastian, seit diese Schlüssel vor über einhundert Jahren voneinander getrennt wurden, haben sie nie wieder beieinandergelegen!«
Bastian runzelte die Stirn und dachte an Josefs Worte von heute Morgen.
»Pfarrer Johannes, ich möchte Euch nicht beunruhigen, aber ich glaube, dass die Schützentruhe bereits geöffnet wurde.«
Der alte Pfarrer starrte Bastian ungläubig an und wurde blass im Gesicht. Er griff sich an die Brust und atmete schwer.
»Bastian, Ihr solltet einem alten Mann keinen Schrecken einjagen! Was meint Ihr damit, dass die Truhe geöffnet wurde?«
»Wir haben den Schlüssel aus Huppertz’ Haus gestohlen. Genauer gesagt war es Wernhart. Im Haus von Huppertz befinden sich mindestens zweihundert Goldgulden, über die Wernhart fast gestolpert wäre. Außerdem hat Huppertz meinen Freund Wernhart erwischt und trotzdem nicht bei der Stadtwache gemeldet. Hätte er ein reines Gewissen, hätte er Wernhart sofort in den Juddeturm sperren lassen.«
»Ihr habt den Schlüssel aus Huppertz’ Haus gestohlen?«
Schuldbewusst senkte Bastian den Kopf.
»Pfarrer Johannes, es gab keine andere Möglichkeit. Wie sonst hätte ich Euch den dritten Schlüssel bringen können?«
Johannes bekreuzigte sich.
»Nun gut, Junge, darüber reden wir später! Zuerst müssen wir herausfinden, ob die Schützentruhe geöffnet wurde. Hoffentlich wurde das Vermächtnis des Erzbischofs von Saarwerden nicht entwendet!«
Pfarrer Johannes wickelte die drei Schlüssel in das alte Leinentuch und verbarg das Bündel unter seinem Gewand. Anschließend bat er Bastian, den schweren Eichenschrank wieder an die ursprüngliche Stelle zu schieben. Leise öffnete Pfarrer Johannes die Tür des kleinen Nebenraumes und lugte hinaus. Sein Bruder Ignatius war nicht mehr zu sehen. Erleichtert schob Johannes die Tür ganz auf und trat hinaus. Bastian folgte ihm.
»Wo ist Bruder Ignatius?«
»Er hatte es sehr eilig nach dem Gottesdienst. Er hat heute viele Aufgaben für das Kloster zu erledigen. Ich bin froh, dass er nicht mehr hier ist, denn für seine Augen ist das, was ich Euch gleich zeigen werde, nicht bestimmt. Folgt mir!«
Mit schnellen, kleinen Schritten durchquerte Pfarrer Johannes die Kirche und stieg die Treppe zur Krypta hinab. Ein kalter, muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, als Johannes die schwere Tür zum Kellergewölbe öffnete. Bastian begann zu frösteln. Er mochte diesen Ort nicht. Schon als ganz kleiner Junge hatte er sich in diesen Räumen gegruselt. Hier unten war es nicht nur kalt und dunkel, sondern auch feucht. An den Wänden hatten sich Tausende Wassertropfen gesammelt, die in kleinen Rinnsalen die Felswand hinabliefen. Das Tropfen des Wassers hallte rhythmisch in der Krypta wider. Fast so, als summte das Wasser eine Melodie.
Johannes blieb stehen und nahm eine große Kerze in die Hand. Er entzündete sie an einer kleinen Flamme, die hier unten stets brannte, damit man sich im Dunkeln zurechtfinden konnte.
»Wir müssen hier entlang!« Er winkte Bastian hinter sich her. »Hier ist es. Wir befinden uns direkt unter dem St.-Sebastianus-Altar. Seht Ihr den Bogen? Mit diesem hier wurde der heilige Sebastianus von numidischen Bogenschützen beschossen. Dieser Pfeil hier hat seine Haut und sein Fleisch durchbohrt.«
Beeindruckt berührte Bastian den schweren, alten Holzbogen. Das Holz fühlte sich spröde unter seinen Fingern an. Pfarrer Johannes schob eine dicke Steinplatte auf dem Boden der Krypta beiseite. Vor ihren Augen öffnete sich ein dunkler Abgrund. Johannes leuchtete mit der Kerze hinein und Bastian konnte in Stein gehauene, ungleichmäßige Treppenstufen erkennen. Pfarrer Johannes stieg hinab und Bastian folgte ihm mit Unbehagen. Die Stufen waren feucht und rutschig. Vorsichtig stiegen die beiden die scheinbar endlose Treppe hinab. Das flackernde Licht der Kerze erhellte die Umgebung um Pfarrer Johannes’ Kopf und gab die in den Stein gehauene Gewölbewand preis. Die Decke war so niedrig, dass Bastian den Kopf einziehen musste, während Pfarrer Johannes bedenkenlos aufrecht stehen konnte.
Am Ende der Treppe gelangten sie in einen winzigen Raum. Johannes leuchtete die Wände ab. Im Schein der Kerze blitzten die Felsbrocken auf, aus denen die ganze Krypta samt Treppe und Gewölbe bestand. Schwarzes Getier verkroch sich – getrieben vom plötzlichen Licht – blitzschnell in den Ritzen der Wände. Dann fiel der Lichtschein auf eine große, verzierte Truhe.
»Das ist sie!«
Pfarrer Johannes kramte das Leinentuch unter seinem Gewand hervor und zog die drei Schlüssel heraus. Vorsichtig steckte er jeden Schlüssel in das dafür vorgesehene Schloss. Dann kratzte er sich am Kopf und dachte nach.
»Es gibt eine bestimmte Reihenfolge, in der die Schlüssel gedreht werden müssen. Wählt man die falsche Reihenfolge, öffnen sich die Säurekammern und zerstören den gesamten Inhalt der Truhe. Ich bin mir nicht mehr sicher, wie es geht!«
Die Verzweiflung stand Johannes für einen kurzen Moment ins Gesicht geschrieben, doch dann durchzuckte ein Erinnerungsblitz seine Gedanken. Er lächelte. Wahrscheinlich war er wirklich schon zu alt. Wie hatte er das nur vergessen können! Johannes nahm die Kerze und ging zurück zur Treppe. Er stieg drei Stufen hinauf und blieb stehen.
»Bastian, ich bin zu klein und mein Augenlicht ist zu schwach. Ihr müsst mir helfen.«
Bastian nahm Pfarrer Johannes die Kerze aus der Hand und leuchtete die Felswand ab. Zuerst sah er gar nichts. Doch dann entdeckte er eine in den Stein geritzte Zeichnung. Die Symbole waren so schwach, dass sie kaum zu entziffern waren. Doch nach längerem Hinsehen gaben sie die Reihenfolge der Schlüssel preis. Der Schlüssel an der linken Seite der Truhe musste zuerst gedreht werden. Dann folgte der Schlüssel auf der gegenüberliegenden Seite und erst zuletzt musste das Schloss an der Vorderseite geöffnet werden.
»Erst links, dann rechts und dann die Mitte«, stieß Bastian hervor und Pfarrer Johannes sprang flink wie ein Wiesel in die Dunkelheit des Gewölbes zurück. Bastian folgte ihm mit der Kerze. Im Nu hatten sie die Truhe geöffnet und blickten mit klopfenden Herzen hinein. Nichts! Vollkommene Schwärze starrte Ihnen entgegen. Bastian blieb vor Aufregung die Luft weg. O nein! Er hatte recht behalten, Huppertz hatte die Truhe geleert!
Doch Pfarrer Johannes zeigte sich von dem schwarzen Nichts unbeeindruckt. Mit geschickten Fingern fuhr er am Rand der Truhe entlang, griff hinein und zog unversehens ein schwarzes Tuch heraus. Bastian traute seinen Augen nicht. Es war eine Täuschung. Die Truhe war gar nicht leer. Doch bevor sich die Erleichterung in Bastian breitmachen konnte, stöhnte Pfarrer Johannes entsetzt auf:
»Das Gold ist weg!«
Er bekreuzigte sich. Dann zog er ein weiteres schwarzes Tuch heraus und öffnete den Holzboden, der sich darunter verbarg.
»Gott sei Dank! Die Karte hat er nicht gefunden! Das Geheimnis ist immer noch gewahrt.«
Erleichtert schnaufte Johannes auf und hielt eine Hand an sein Herz. Die ganze Aufregung machte ihm arg zu schaffen. Er atmete tief durch und griff erneut in die Truhe. Geschickt zog er eine alte, gelbliche Pergamentrolle hervor. Die Rolle war mit einem dicken roten Siegel versehen. Zufrieden setzte sich Pfarrer Johannes auf den Rand der Kiste und überreichte Bastian das Pergament.
»Was ist das?«
»Das ist die Karte vom Labyrinth.«
»Was für ein Labyrinth?«
»Unter Zons befindet sich ein verwinkeltes Labyrinth. Als der Erzbischof von Saarwerden die Zollrechte von Neuss nach Zons verlegte, lag dies nicht nur an der günstigeren Rheinlage von Zons. Der Erzbischof wollte die Kontrolle über das Labyrinth haben.«
»Es gibt ein Labyrinth unter Zons?« Bastian konnte es nicht fassen. Davon hatte er noch nie gehört.
»Ja. Früher hat es jeder gewusst, doch der Erzbischof ließ es absichtlich in Vergessenheit geraten.«
»Warum? Was wollte er mit einem Labyrinth? Der Reichtum der Stadt Zons rührt doch aus den vortrefflichen Zolleinnahmen, oder etwa nicht?«
»Mein lieber, kluger Bastian, manchmal ist es nicht das Gold alleine, das uns Heil bringt. Der Erzbischof musste ein Geheimnis verstecken, was mit Gold alleine nicht aufzuwiegen ist!«
»Was für ein Geheimnis? So erzählt es mir doch oder wollt Ihr mich auf die Folter spannen?«
Der alte Pfarrer lachte über Bastians Ungeduld.
»Lasst uns wieder nach oben gehen, Bastian. Im Hellen kann ich Euch die Karte besser erklären, und dann erfahrt Ihr auch, was unter der Stadt Zons verborgen ist!«
Mit diesen Worten erhob sich Johannes und stieg die alte Felstreppe wieder nach oben. Er war sichtlich überanstrengt und ächzte bei jeder Stufe. Bastian folgte ihm und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ein Labyrinth unter Zons, direkt unter ihren Füßen! Er konnte es kaum glauben. Am liebsten hätte er Johannes die Treppe wie einen Mehlsack hinaufgetragen, denn die Ungeduld nagte an ihm wie eine hungrige Ratte. Doch Bastian beließ es bei dem Gedanken und schlich langsam hinter dem schnaufenden Pfarrer her.
Endlich hatten sie die Kirchenhalle erreicht und liefen mit der Karte zurück in den kleinen Nebenraum hinter dem Altar. Erschöpft ließ sich Johannes auf einen Stuhl sinken.
»Darf ich das Siegel aufbrechen und einen Blick auf die Karte werfen?«
»Nur zu, mein junger Freund. Lasst Eurem Wissensdurst freien Lauf. Prägt Euch die Gänge gut ein, denn Ihr werdet etwas für mich holen müssen!«
»Das Geheimnis des Bischofs?«
Der Pfarrer nickte und wischte sich mit einem Tuch die Schweißperlen von der Stirn. Bastian betrachtete beeindruckt das schwere rote Siegel des Erzbischofs von Köln. Er erkannte in der Mitte des Siegels den sitzenden Erzbischof. Auf der linken Seite befand sich das Wappen von Saarwerden, auf dem ein doppelköpfiger Adler dargestellt war. Auf der rechten Hälfte sah er das Wappen des Erzbistums Köln, versehen mit dem großen Kreuz. Ehrfürchtig brach Bastian das Siegel auf und rollte das Pergament auseinander. Vor seinen Augen erschien eine Karte, die unzählige, ineinander verschlungene Pfade zeigte. Das Labyrinth ragte am südlichen Teil weit über die Stadtmauern hinaus. Bastian erstarrte. War das etwa ein Geheimgang, mit dem man mühelos die dicken Stadtmauern von Zons umgehen konnte?
»Macht Euch keine Sorgen, Bastian. Niemand kennt diesen Zugang. Selbst ich sehe dies zum ersten Mal.«
»Wie könnt Ihr da so sicher sein?«
»Zons ist eine uneinnehmbare Stadt. Der Erzbischof hätte niemals eine Lücke in der Festung zugelassen. Die besten Burgarchitekten haben die Anlage geplant und seit über einhundert Jahren ist es noch keinem Feind gelungen, hier einzudringen. Ich habe felsenfestes Vertrauen in diese Mauern, Bastian.«
Bastian runzelte die Stirn und merkte sich diesen Punkt für später. Im Augenblick interessierte ihn viel mehr der Schatz, den der Erzbischof von Saarwerden unter der Stadt Zons versteckt hatte. Mit den Fingern fuhr er auf dem Pergament über die verschiedenen Wege, die durch das Labyrinth führten. Es mussten hunderte Gänge sein, die kreuz und quer unter Zons verliefen. Südlich des Juddeturms entdeckte er ein winziges Abbild des doppelköpfigen Adlers. Das musste es sein! Aufgeregt zeigte er auf den Adler.
»Liegt dort der Schatz, Pfarrer Johannes?«
»Ihr seid ein kluger Junge, Bastian. Vermutlich habt Ihr recht, aber ich muss zugeben, dass es mir nicht überliefert wurde. Ich weiß lediglich, dass diese Karte hier existiert, und ich habe den Auftrag, den Schatz in Sicherheit zu bringen, sobald mehr als ein Schlüssel gleichzeitig am selben Ort auftaucht. Es gibt drei Schlüsselträger, zwei in der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft …«
Der Pfarrer hielt inne und sah Bastian verwirrt an. Dieser hatte begonnen, die Worte von Johannes eifrig in sein Notizbuch niederzuschreiben, doch mit einer einzigen raschen Geste gebot der Pfarrer ihm Einhalt.
»Bastian, ich vertraue Euch ein Geheimnis an, welches von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wird. Niemand hat es je aufgeschrieben. Also was tut Ihr da? Wollt Ihr einem unglücklichen Zufall dieses Geheimnis einfach so in die Hände spielen?«
»Ihr habt Recht. Es tut mir leid.«
Bastian hielt inne und klappte sein Notizbuch wieder zu. Dann würde er sich alles merken und vielleicht ein paar verschlüsselte Notizen anfertigen, die nur seinem eigenen Gedächtnis dienen sollten. Der Pfarrer fuhr fort:
»Also, es gibt drei Schlüsselträger: Zwei in der Bruderschaft und einen Schlüssel besitzt stets der Pfarrer. Ich muss den Schatz an einen neuen vorbestimmten Ort bringen. Niemand außer mir wird wissen, wo dieser Ort ist. Das Geheimnis wird nur meinem Nachfolger offenbart, sobald meine Kräfte sich dem unwiederbringlichen Ende entgegen neigen. Aber da ich Euch vertraue und bereits heute aufgrund meiner in die Jahre gekommenen Beine nicht mehr unter dieser Stadt herumkriechen kann, müsst Ihr mir helfen, Bastian. Außerdem fehlt mir noch der rechte Nachfolger.«
»Verratet Ihr mir, um was für einen Schatz es sich handelt?«
»Ich weiß nicht, ob ich Euch diese Bürde auferlegen soll, mein Junge. Manche Geheimnisse belasten die Seele sehr und manchmal kann man das Gewicht des Wissens nicht mehr ertragen. Insbesondere dann, wenn man Opfer bringen muss, die man mithilfe des Geheimnisses abwenden könnte.«
Bastian platzte fast vor Neugier. Warum nur spannte Johannes ihn so lange auf die Folter. Er könnte mit jedem Geheimnis umgehen!
Der alte Pfarrer sah Bastian lange mit prüfendem Blick an, dann seufzte er laut.
»Also gut, ich werde Euch einweihen. Der Erzbischof von Saarwerden hat ein Heilmittel, bestehend aus einem gesegneten Pulver, versteckt. Es ist einzigartig und heilt von der Pest und anderen tödlichen Krankheiten. Da die Festungsmauern um Zons äußerst eng sind und die Stadt im Falle einer Pest wehrlos wäre, hat er dieses Heilmittel im Labyrinth versteckt, um die Stadt in einer solchen Notlage zu retten. Das Pulver wird in einer kostbaren goldenen Marienfigur, besetzt mit wertvollen Edelsteinen, aufbewahrt. Wer diesen Schatz in die Hände bekommt, ist schon alleine der Hülle wegen reich und außerdem für den Rest seines Lebens vor Krankheiten gefeit. Aus diesem Grund muss ich die Marienfigur an einem neuen geheimen Ort verstecken, und Ihr, mein lieber Bastian, müsst sie mir so schnell wie möglich bringen.«
Der Pfarrer lächelte Bastian an und klopfte ihm auf die Schulter. Bastian runzelte die Stirn. Das war wirklich ein kostbarer Schatz. Eine dringende Frage kam ihm in den Sinn.
»Kann das Heilmittel auch Lungenleiden kurieren?«
Johannes sah Bastian entsetzt an und hob drohend den Zeigefinger.
»Bastian, ich habe Euch vor dieser Bürde gewarnt. Das Heilmittel dient nach dem Willen des Erzbischofs nur dem Schutze der Stadt Zons. Es ist nicht dafür gedacht, einzelne Familienmitglieder ihrem vorbestimmten Schicksal zu entreißen. Missbraucht Euer Wissen niemals! Egal wie wertvoll Euch eine Person ist!«
…
Bastian war wütend. Wie konnte Marie nur so dumm sein?
»Bastian, es ist nur Wilhelm! Sonst niemand! Nun regt Euch nicht so auf!«
Bastian blickte durch den Türspalt und sah Wilhelm am Tisch sitzen. Seine Augen hatten rote Ränder und sein gerötetes Gesicht wirkte aufgequollen. Er stützte seinen Kopf auf die Hände und bot einen verzweifelten Anblick. Trotzdem war Bastian aufgebracht. Wie konnte Marie einen fremden Mann einfach in ihr Haus lassen? Sie war alleine, und auch wenn er von der Gefahr einmal absah, schickte es sich einfach nicht für eine verheiratete Frau. Und entgegen aller Vernunft spürte Bastian, wie brennende Eifersucht seinen Verstand und jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf verbannte. Sie gehörte ihm! Der einzige Mann, der alleine mit ihr unter diesem Dach weilen durfte, war er. Bastian atmete tief durch.
Er sah Marie an. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet und ihre Augen funkelten. Bastian sah Widerstand in ihnen aufblitzen. Gut, vielleicht übertrieb er es ein wenig, aber musste sie wirklich jedem dahergelaufenen Trottel einen Platz in ihrer Stube anbieten?
»Also gut Marie, ich versuche ja, Euch zu verstehen. Was will dieser arme Narr hier in unserem Haus?«
»Katharina, die Frau von Huppertz, wurde geholt, vom Teufel persönlich!«
Marie sprach die letzten Worte mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass Bastian nicht anders konnte und losprustete:
»Vom Teufel persönlich? Marie, dieser Wilhelm war schon immer ein Angsthase. Eines kann ich Euch versichern, der Teufel ist es nicht gewesen. Was sollte er auch mit einem Weib wie Katharina anfangen?«
Marie funkelte Bastian verärgert an.
»Ihr versteht es nicht, oder? Jetzt ist auch sie noch verschwunden. Erst hat es Conrad, den Vetter von Josef Hesemann getroffen, dann ist das Weib vom alten Jacob verschwunden und jetzt Katharina. Und bei ihr wissen wir, dass sie nicht freiwillig gegangen ist!«
Bastian erstarrte. Marie hatte absolut Recht, er war so eifersüchtig gewesen, dass er nichts verstanden hatte. Aber jetzt begriff er. Alle drei waren verschwunden. Und Margarete, Josefs Eheweib, hatte er zuvor ebenfalls keinen Glauben geschenkt. Bastian seufzte leise und kratzte sich verlegen am Kinn.
»Ihr habt recht, Marie. Verzeiht mir. Ich war außer mir. Was also hat der weinerliche Wilhelm gesehen?«
Marie lächelte Bastian an und zog ihn in die Stube.
»Wilhelm, seid so gut und erzählt meinem Gatten, was Ihr in Huppertz’ Haus erlebt habt.«
Wilhelm blickte auf und sah Bastian mit großen, angsterfüllten Augen an.
»Es war der Teufel. Groß und schwarz, mit einer Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass ich nur das breite Kinn darunter erkennen konnte. Seine Hände waren riesig. Er hat uns beide überwältigt, erst Katharina, als ich im Keller war, und dann mich. Lautlos hat er sich an uns herangeschlichen und uns so schnell an die Küchenstühle gefesselt, dass wir beide bewegungsunfähig waren, ehe wir es uns versahen.« Wilhelm fing wieder an zu weinen und fuhr mit zittriger Stimme fort: »Er hat die ganze Zeit kein Wort gesagt und eine Ewigkeit an der Tür gestanden und uns beide angestarrt. Dann kam er zurück, hat Katharina vom Stuhl losgebunden und sie sich wie einen Mehlsack über die Schulter geworfen. Ihr Gewicht schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Er hat nach Weihrauch gestunken, so stark, dass mir immer noch ganz schlecht davon ist. Dann ist er wie ein riesiger schwarzer Schatten mit Katharina aus dem Haus geschlichen. Die Haustür knallte und er war fort. Es war der Teufel persönlich! Ich war ganz alleine und dann kam Huppertz …«
Ein Weinkrampf schüttelte den armen Wilhelm und er schluchzte wie ein kleines Kind.
»Huppertz ist sehr böse auf mich, weil ich nichts tauge. Er wird mich sicher aus der Bruderschaft ausschließen und ich habe doch sonst niemanden auf der Welt.«
Wilhelm weinte hemmungslos und Marie hielt ihm mitfühlend ein Tuch für die vielen Tränen vor die Nase.
»Ihr müsst mir helfen, Bastian Mühlenberg, und Katharina wiederfinden. Bitte!«
»Jetzt beruhigt Euch erst einmal«, sagte Bastian, der es kaum fasste, dass ein Mann in Wilhelms Alter so weinerlich war. Jegliche Eifersucht wich bei dieser Vorführung aus Bastians Herz. Er brauchte sich ganz sicher nicht die geringsten Sorgen um seine Frau zu machen. Bastian dachte nach. Wem würde er die Entführung von drei Menschen in so kurzer Zeit zutrauen? Ihm fiel da nur ein einziger Name ein: Huppertz! Er besaß einen schwarzen Mantel mit einer Kapuze, die man tief ins Gesicht ziehen konnte. Da er oft in die Kirche ging, roch er sicherlich kräftig nach Weihrauch. Allerdings besaßen alle Mitglieder der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft dieselben schwarzen Mäntel und alle waren sie häufig in der Kirche vor dem St.-Sebastianus-Altar anzutreffen. Mehr oder weniger könnte es jeder von ihnen gewesen sein. Aber insbesondere Huppertz würde Bastian es zutrauen. Außerdem hatte er das Gold gestohlen. Bastian überlegte hin und her. Seine Wangen brannten und röteten sich. Doch was trieb Huppertz dazu? Eine Stimme in seinem Inneren warnte ihn: Er hat das Gold doch schon! Warum sollte er sein eigenes Weib verschwinden lassen?
Bastian schüttelte den Kopf. Vielleicht war es auch zu naheliegend. Die schwarze Kleidung deutete zu stark auf die Bruderschaft hin. Er überlegte, wen er noch in einer dunklen Kutte gesehen hatte. Da fiel ihm Conrad ein. Der Mönch trug stets eine dunkle Kutte. Im Kloster roch es ständig nach Weihrauch und vielleicht war Conrad doch gar nicht unfreiwillig, sondern ganz bewusst verschwunden. So konnte er nicht verdächtigt werden, die beiden Frauen entführt zu haben. Vielleicht war er das enthaltsame Klosterleben endgültig satt. Bastian hatte einmal beobachtet, wie er zusammen mit seinem Vetter Josef Hesemann einem Kranken einen schwarz gewordenen Fuß amputierte. Er sah genau die brutalen Sägebewegungen des Mönches vor sich. Sein Mantel hatte sich im Wind aufgeblasen und dieses Sägegeräusch und das Zerbersten des Knochens, begleitet von den unmenschlichen Schreien des Kranken, waren unerträglich gewesen. Selbst Josef hatte blass ausgesehen, doch Conrad hatte es gar nichts ausgemacht. Ruhig und im immer gleichen Rhythmus hatte er gesägt und sich nicht ablenken lassen. In der Tat, Bastian erinnerte sich lebhaft, er hatte ausgesehen wie der Teufel persönlich!
…
Schweißgebadet wachte Bastian auf. Er hatte geträumt. Er erinnerte sich an diesen Traum. Er hatte ihn schon einmal erlebt, und jetzt wusste er, in welchen dunklen Gängen sich das schöne Mädchen mit den grünen Augen verloren hatte. Das war im Labyrinth unter Zons und der schwarze Teufel war hinter ihr her. Bastians Herz raste.
Leise schlich er aus dem Bett, ohne Marie zu wecken. Auf Zehenspitzen stieg er die schmale, steile Holztreppe zur Stube hinab und zündete eine Kerze an. Dann zog er die Karte vom Labyrinth unter dem Tisch hervor. An dieser Stelle hatte Bastian sie vorerst versteckt. Er rollte das alte Pergament auseinander und beleuchtete mit der Kerze die vielen eingezeichneten Gänge. Dann nahm Bastian sein Notizbuch und notierte eine Reihe von Symbolen. Zwar hatte Pfarrer Johannes ihm verboten, das Geheimnis aufzuschreiben, aber ein paar verschlüsselte Notizen konnten wohl nicht schaden. Außerdem müsste erst einmal jemand seinen Geheimtext entziffern, bevor er die Notizen verstehen konnte. Er riss die letzte Seite aus seinem Notizbuch und ordnete den Symbolen die einzelnen Buchstaben zu. Nur mit dieser Seite könnte ein Fremder die Symbole entschlüsseln und dieses Geheimnis würde Bastian gut verstecken.