XI.
Gegenwart
Emily rieb sich müde die Augen. Der helle Mond schien in ihr Zimmer hinein. Er sah schon sehr rund aus, aber erst in zwei Tagen würde wieder Vollmond sein. Sie schaute auf die Uhr. »Mist, schon wieder so spät«, dachte sie. Es war kurz nach Mitternacht und sie hatte den ersten Teil ihrer Reportage für die Rheinische Post immer noch nicht fertig; dabei war in zwei Tagen Abgabetermin. Wie sollte sie das nur schaffen? In der letzten Woche hatte sie fast nichts tun können, weil eine schwere Grippe sie ans Bett gefesselt hatte. Fiebernd und schwitzend hatte sie die letzten Tage mit Antibiotika im Schlafzimmer verbracht. Ihr Kopf hatte sich angefühlt, als würde er so groß wie der ganze Raum sein und von einer Seite der Wand bis zu anderen reichen. Heute war der erste Tag, an dem es ihr besser ging. In ein paar Tagen war Weihnachten und vorher musste sie unbedingt mit dem Artikel fertig werden. Der Redakteur von der Rheinischen Post hatte ihr gesagt, dass das Lektorat mindestens einen Tag benötigen würde, um ihren Artikel Korrektur zu lesen. Also konnte sie sich keine weiteren Verzögerungen mehr leisten. Anna hatte sich rührend um sie gekümmert und sie jeden Tag mit Hühnerbrühe und heißem Tee versorgt. Die recherchierten Unterlagen waren von ihr ordentlich vervollständigt und sortiert worden und lagen nun ausgebreitet um Emilys Wohnzimmercouch herum. Den ersten Mord hatte Emily fast fertig beschrieben und auch Anna war nach einigen Korrekturen begeistert. Doch die Lösung für das Puzzle bereitete ihr noch einige Schwierigkeiten. Zwar führte damals der Ermittler der historischen Stadtwache, Bastian Mühlenberg, sehr viele Einzelheiten in seinem Notizbuch auf, aber sie verstand nicht, wie das Rätsel um die einzelnen Ziffern und Buchstaben zu lösen war. Bastian Mühlenberg beschrieb die Lösung genau, aber ihr fehlte dummerweise der historische Stadtplan von Zons, um das Puzzle nachvollziehen zu können. »Wo sollte sie um diese Uhrzeit noch einen historischen Stadtplan herbekommen?« Sie googelte im Internet. Nichts zu finden! Mit einem Blick auf die Uhr sah sie, dass es bereits ein Uhr nachts war. Verdammt, sie würde wohl bis morgen warten müssen! Gleich morgen früh würde sie zu diesem merkwürdigen, humpelnden Typen ins Kreisarchiv fahren. »Vielleicht hat Anna ja Zeit und kann mich morgen früh begleiten«, überlegte sie, während eine schwere Müdigkeit sie überwältigte und sie kurze Zeit später in einen tiefen Schlaf verfiel.
...
Es war acht Uhr morgens. Annas Handy klingelte, doch sie konnte nicht rangehen, da sie bereits in einem Meeting saß. »Verdammt«, dachte Emily und legte auf, »dann muss ich wohl alleine los.«
Eine halbe Stunde später stand sie wieder im Kreisarchiv. Es roch genauso muffig wie bei ihrem letzten Besuch und es dauerte nicht lange und der widerliche Archivar kam mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht auf sie zu gehumpelt.
»Junge Dame«, sagte er, während er ihr auf ihre Oberweite starrte, »kann ich Ihnen beim Zonser Puzzlemörder noch weiter behilflich sein?«
»Ja, ich benötige noch einen historischen Stadtplan, um das Puzzle zusammenfügen zu können«, erwiderte Emily und ging dabei einen halben Schritt zurück, um den schlechten Atmen des Archivars nicht länger riechen zu müssen. Es war fast unerträglich, aber sie brauchte diese Unterlagen dringend.
»Na dann kommen Sie doch einfach mit mir nach hinten und ich mache Ihnen eine Kopie. Vorher zeige ich Ihnen den Originalstadtplan. Die Kopien sind meistens von so schlechter Qualität, dass Sie nicht mehr alles erkennen können.«
»Kann ich nicht lieber hier vorne warten?«, fragte Emily zögerlich.
»Junge Dame, keine Angst. Ich werde Sie nicht im dunklen Archiv vergessen, sondern auf Schritt und Tritt neben Ihnen sein. Darauf können Sie sich verlassen!« Er grinste sie mit seiner Zahnlücke an und hielt ihr auffordernd den Arm hin. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube folgte Emily ihm. »Hoffentlich war das kein Fehler!«, dachte sie, während sie verkrampft versuchte, den Abstand zu ihm so groß wie möglich zu halten.
Er führte sie in einen der hinteren Räume. Die Decke war sehr niedrig, doch der Raum selbst war viel größer als sie zunächst vermutet hatte. Riesige alte und staubige Regale standen gleichmäßig angeordnet in ungefähr zehn Reihen zu ihrer rechten und linken Hand. Sie schaute - soweit sie konnte - nach hinten, doch das Ende des Raumes war mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen. Es roch staubig und irgendwie auch faulig. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele tote Mäuse oder Spinnen sich hier unter den Regalen und womöglich noch zwischen den ganzen Unterlagen verbergen könnten. Die Regale selbst waren voll beladen mit den verschiedensten Papieren, Urkunden und Büchern. Auf den ersten Blick sah es nicht besonders ordentlich aus. Auf dem Fußboden konnte sie auf der dicken Staubschicht die Fußspuren des alten Archivars erkennen. Immer einen sauberen Fußabdruck rechts und eine Schleifspur vom hinterher gezogenen Bein links. »Warten Sie kurz hier vorne«, forderte er sie auf und sie setzte sich auf einen kleinen Stuhl, welcher vor einer der langen Regalreihen stand. Er verschwand humpelnd zwischen den Regalen und kam Sekunden später mit einer großen Papierrolle wieder.
»Hier haben wir den Stadtplan von Zons aus dem 15. Jahrhundert!« Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen, rollte dabei den Plan vorsichtig aus und legte ihn vor Emily auf den Tisch. »Lassen Sie uns mal schauen, mein junges Fräulein!«, er beugte sich wieder nach vorne und kroch dicht an Emily heran, die sich im selben Augenblick unmerklich zurückbeugte. »Hier sehen Sie die alte Stadtmauer. Manche sagen sie wäre rechteckig aufgebaut, aber das ist falsch.« Emily blickte auf den Plan. Die Mauern waren zwar gerade gebaut, aber die Länge der vier großen Seiten war unterschiedlich. Die kürzeste Mauer befand sich im Süden. Dort stand auf der linken Seite der Mauer die Zonser Mühle und rechter Hand befand sich die Burg Friedestrom. Die daran angrenzende Mauer auf der östlichen Stadtgrenze war die längste Stadtmauer. Im Westen befand sich der zweitlängste und im Norden der drittlängste Abschnitt der Mauer. Früher hatte es vier große Stadttore gegeben, von denen heute nur noch der Zollturm, von manchen auch Rheintor genannt, erhalten war. Das Feldtor auf der Westseite, das Südtor und das östliche Tor an der Burg Friedstrom gab es heute nicht mehr. Aber im 15. Jahrhundert waren diese vier Tore der einzige Zugang zur Stadt Zons. Emily schloss daraus, dass Zons eigentlich eine besonders sichere Stadt gewesen sein müsste, jedenfalls nach den damaligen Maßstäben.
Der alte Archivar erklärte ihr, dass die unterschiedlichen Längen der Stadtmauer im Verhältnis 6 zu 7 zu 8 zu 9 gebaut wurden und somit geometrisch betrachtet kein Rechteck, sondern ein Trapez ergaben. Genauer gesagt ein rechtwinkliges Trapez. »Was bedeutet die umgekehrte Waage hier unten auf dem Plan?«, fragte Emily den alten Archivar. Er runzelte die Stirn und rückte seine Brille zurecht.
»Die umgekehrte Waage steht für das Umgedrehte.« Mit diesen Worten drehte er den Stadtplan auf den Kopf. »Sehen Sie, jetzt liegt der Norden im Süden.« »Ja«, antwortete Emily.
»Doch welche Bedeutung soll das haben?«
»Es wird vermutet, dass der Baumeister der Stadt Zons die Grundrisse der Mauern nach dem Sternbild des Raben oder Corvus errichtet hat. Dieses Sternbild ist eines der ursprünglichen Sternbilder aus der Liste von Ptolemäus. Der Rabe soll nach der griechischen Mythologie mit dem Becher des Apollo in Verbindung stehen. Sehen Sie mal hier«, erklärte ihr der Alte und holte eine zweite Karte heraus, auf der Sterne verzeichnet waren.
»Das Sternbild des Raben grenzt südlich an das Sternbild der Wasserschlange, östlich an das Sternbild des Bechers und westlich an die Jungfrau.« Er strich mit den Fingern über die Karte. »Aufgrund der Gegebenheiten am Rhein konnte man die Stadtmauern jedoch nicht ganz eins zu eins wie das Sternbild des Raben errichten, sondern man musste das Ganze um 180 Grad drehen. Also den Norden in den Süden. Dafür steht die umgekehrte Waage, hier am unteren Rand des Stadtplans.«
»Das ist ja sehr beeindruckend!«, staunte Emily und der Alte strahlte über das ganze Gesicht. Er beugte sich noch ein wenig weiter zu Emily vor und fuhr fort:
»Der alten griechischen Mythologie zufolge, schickte Apollo für eine Opfergabe an seinen Vater Zeus den Raben mit seinem Becher los, um von einer Quelle Wasser zu holen. Der Rabe kehrte allerdings nicht pünktlich zurück, sondern fraß sich unterwegs an einem Feigenbaum satt, bevor er Apollo das Wasser brachte. Um nicht bestraft zu werden, ergriff der Rabe an der Quelle eine Wasserschlange und brachte sie mit dem Wasserbecher zurück zu Apollo. Er belog Apollo, indem er behauptete, die Wasserschlange hätte ihm den Weg zur Quelle versperrt und deshalb hätte er so lange gebraucht. Apollo jedoch durchschaute diese Lüge und verbannte den Raben samt Becher und Wasserschlange an den Sternenhimmel. Warum er ihn neben das Sternbild der Jungfrau in den Himmel verbannte, ist nicht so ganz klar. Dazu gibt es viele Geschichten.«
Emily war sichtlich beeindruckt vom Vortrag des Archivars und dieser rollte nun mit stolz geschwellter Brust die beiden Karten wieder zusammen. Er drehte sich um und ging in den Gang zurück, aus dem er die Karten hervor geholt hatte. Emily spürte plötzlich einen kühlen Luftzug und mit einem lauten Knall fiel die Tür des Archivs hinter ihr zu. Für einen Moment glaubte sie, vor Schreck einen Herzanfall zu bekommen. Erschrocken drehte sie sich um. Doch es war nichts zu sehen. Mit einem Mal spürte sie seinen feuchten Atem in ihrem Nacken. Panisch drehte sie sich wieder zurück und das hässliche Gesicht des alten Archivars war nun nur noch wenige Zentimeter von ihrem eigenen Gesicht entfernt.
»Keine Angst, junge Dame. Wir haben neue Besucher bekommen, da fällt diese Tür schon einmal zu«, flüsterte ihr der alte Archivar fast sabbernd ins Ohr. Er hatte sich offenbar blitzschnell von hinten an sie herangeschlichen und ihr Herz schlug ihr nun bis zum Hals. Schnell sprang sie von ihrem Stuhl auf und ging in Richtung Tür. Der Alte lachte amüsiert und blickte sie aus lüsternen Augen an.
»Vergesst Eure Kopien nicht, junge Dame.« Mit diesen Worten hielt er Emily zwei Blätter hin. Unsicher ging sie einen Schritt auf ihn zu und streckte ihre rechte Hand aus. Er gab ihr die Blätter und legte im letzten Augenblick, bevor sie ihre Hand wieder zurückziehen konnte, seine Hände auf die ihren. Emily zuckte zurück. Er grinste und kam einen Schritt näher.
»Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können Sie gerne wieder vorbeikommen!«
»Danke, das reicht mir erst einmal«, sagte Emily schnell und drehte sich zügig zur Tür um. Mit einem Ruck zog sie kräftig an der Tür und spürte, wie eine Welle der Dankbarkeit durch ihren Körper strömte, als die Tür ohne Probleme aufsprang. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Ausgang und achtete nicht auf den jungen Mann, der mit dem Rücken zu ihr, wartend am Tresen stand.
Zurück im Auto angelangt, musste sie erst einmal tief durchatmen, bevor sie das Auto starten konnte. »Meine Güte, ich habe wirklich einen Riesenschreck bekommen!«, dachte sie. Wie konnte der Alte nur so plötzlich hinter ihr stehen, wo er doch offensichtlich humpelte und das linke Bein kaum belasten konnte? Sie war jedenfalls froh, dass sie wieder heil aus diesem gruseligen Kreisarchiv herausgekommen war. Jetzt müsste sie eigentlich genügend Informationen zusammenhaben, um die Reportage bis heute Abend zu Ende schreiben zu können. Es fehlte ja an und für sich nur die Auflösung des Puzzles. Bei einer gemütlichen Tasse Tee in ihrem Wohnzimmer würde sie der Lösung sicherlich schnell nahekommen. Mit diesen Gedanken startete Emily den Motor ihres Wagens und gab Gas. Ohne einen weiteren Zwischenstopp einzulegen, fuhr sie direkt nach Hause.
...
Oliver Bergmann hörte das Telefon klingeln. »Oh nein, nicht schon wieder einer dieser Anrufe«, dachte er genervt. Dies war gefühlt der tausendste Anrufer, der in den letzten zwei Monaten einen Ford am Fundort der »Waldleiche« gesehen haben wollte. Er konnte es langsam nicht mehr hören. Spuren zu verfolgen, konnte wirklich zäh und langweilig sein. Irgendwie hatte er sich seinen neuen Job als Kriminalkommissar spannender vorgestellt. Wahrscheinlich hatte er einfach zu viele Profiler- und CSI-Folgen auf »ProSieben« geschaut, in denen in jeder Minute etwas anderes passierte und heldenhafte Aktionen gefordert waren. Stattdessen saß er hier in seinem Büro am Schreibtisch und nahm einen langweiligen Anruf nach dem anderen an, um Informationen über einen noch langweiligeren Ford entgegenzunehmen und dann das Kennzeichen prüfen zu lassen. Anschließend musste er die Werkstätten einzeln abklappern und fragen, ob und wann zuletzt der jeweilige Wagen dort zur Reparatur war. Bisher blieb die Spurensuche völlig erfolglos. Wenn das so weiterging, würde er bald jeden Ford im Rhein-Kreis Neuss persönlich kennen. Aber das war leider das Los des jüngsten Kollegen im Team. Wenigstens konnte sein Partner Klaus Zeugenbefragungen durchführen. Auch wenn bei diesen Befragungen bisher ebenfalls nichts herausgekommen war, stellte sich Oliver diese Tätigkeit allemal spannender vor, als sich um dieses langweilige Fluchtfahrzeug zu kümmern! Trotz intensivster Polizeiarbeit konnten sie die Leiche des 27-jährigen Mannes, der vor einigen Tagen in einem Waldstück von einem Arbeiter an der Autobahn A57 gefunden wurde, nicht identifizieren. Zunächst hatten sie gehofft, dass der junge Mann schnell identifiziert werden konnte, zumal seine Beschreibung perfekt auf eine acht Wochen alte Vermisstenanzeige passte. Doch seit gestern erwies sich auch diese heiße Spur als falsch, denn der vermisste junge Mann war in einer Ausnüchterungszelle der Polizei in Bochum gelandet. Mit einem Alkoholspiegel von 1,8 Promille, aber dafür quicklebendig. Nun tappten sie wieder im Dunkeln. Ob die Suche nach dem Fluchtfahrzeug, das zwei relativ glaubhafte Zeugen zum Tatzeitpunkt auf dem Parkplatz vor dem Waldgrundstück gesehen haben wollen, wirklich zu einem Ergebnis führen würde, war völlig offen. Oliver fühlte sich gelangweilt und frustriert zugleich. Zumal sein Chef, seit dem Auftauchen des tot geglaubten »Vermissten« extrem schlechte Laune hatte und stündlich mit wild funkelnden Augen an seinem Schreibtisch auftauchte, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Er fragte sich, wie leicht es eigentlich möglich war, in Deutschland zu verschwinden. Es müsste ihnen doch längst eine Vermisstenanzeige des jungen Mannes vorliegen. Doch in ganz Deutschland gab es keine einzige weitere Vermisstenanzeige, die auf die Beschreibung der Leiche auch nur annähernd gepasst hätte. Sie hatten mittlerweile alle lokalen Zahnärzte im Rhein-Kreis-Neuss um Mithilfe gebeten, doch niemand hatte einen Treffer bei der Gebissanalyse vorweisen können. Oliver schüttelte verzweifelt den Kopf. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass dies nicht die richtige Vorgehensweise war.