X.
Vor fünfhundert Jahren
Bastian drehte den zierlichen Silberring und betrachtete die kaum lesbare Inschrift. Ein großes M wie Martha war der einzige Buchstabe, der noch deutlich erkennbar war. Der Ring gehörte also der ermordeten Martha Hatzfeld, der Stiefmutter der Zwillingsbrüder Christan und August. Dankbar lächelte er dem alten Pfarrer zu, der gerade dabei war, das kostbare Sonntagsgewand abzulegen. Ohne seine Hilfe hätte er lange nach der Besitzerin des Ringes suchen können. Als Johannes Bastians Blick bemerkte, zwinkerte er ihm zu.
»Ich weiß, dieses Gewand sieht edel aus, aber es ist mir viel zu unbequem und zu heiß darunter.«
Bastian registrierte die glühendroten Wangen des Pfarrers und nickte versonnen. Er musste herausfinden, wer der Mann mit dem zertrümmerten Kopf war. Zu schade, dass sein Gesicht durch die Pferdetritte bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Das Einzige, was er bisher von ihm wusste, war, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit Marthas Mörder war. Wie sonst hätte er in den Besitz ihres Ringes kommen können? Und dieser Mann war vermutlich auch der Bote, von dem August ständig sprach. Doch was genau überbrachte er bei seinen Botengängen und warum hatte er Martha getötet? Hatte sie ihn vielleicht beobachtet und ein Geheimnis herausgefunden, für das sie mit dem Leben bezahlen musste? Bastian kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Das wäre zumindest eine denkbare Erklärung.
»Johannes, seid Ihr eigentlich alleine hier?« Bastian schoss plötzlich die Erinnerung an Hugo von Spanheim durch den Kopf. Hatte von Spanheim, der ihm am Fundort der Leiche entgegenkam, nicht erwähnt, dass er auf dem Weg zu Pfarrer Johannes war, um ihm bei der Sonntagsmesse behilflich zu sein? Bastian konnte ihn nirgendwo entdecken. Johannes‘ Blick sprach Bände. Er wusste offensichtlich nicht, worauf Bastian hinaus wollte. Deshalb ergänzte er seine Frage. »Hugo von Spanheim. Ist er nicht hier?«
Erstaunt schüttelte Johannes den Kopf.
»Er ist im Kloster Knechtsteden und ich erwarte ihn nicht vor Mitte nächster Woche zurück.«
In Bastians Kopf schrillte eine Alarmglocke. Hatte er es doch geahnt, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmte. Das vor Erschöpfung schweißnasse Pferd, die zögerlichen Antworten und die Tatsache, dass er an einem Sonntagmorgen unterwegs war, das alles passte nicht ins Bild. Hugo von Spanheim verschwieg etwas.
»Ich habe ihn heute Morgen an der Weggabelung nach Stürzelberg getroffen. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zu Euch sei. Er wollte Euch bei der Morgenmesse unterstützen.«
Pfarrer Johannes blickte Bastian aus großen Augen an. Nach einer Weile sagte er: »Dann lasst uns doch in seinem Zimmer nachsehen.«
»Das ist eine gute Idee«, erwiderte Bastian.
Die Unterkunft befand sich in einem Nebenhaus der St. Martinus Kirche. Durch einen niedrigen Gang an der Westseite gelangte man über eine schmale hölzerne Wendeltreppe, die bei jedem Schritt heftig knarrte, dorthin.
Bastians Herz schlug bis zum Hals, je näher sie der Unterkunft kamen. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, welches noch verstärkt wurde, als er die Tür auftrat und einen leeren Raum vorfand. Hugo von Spanheim war nicht da. Sein Bett war unberührt und die Wäsche lag fein säuberlich gefaltet auf der dicken Bettdecke. Angestrengt dachte Bastian nach. Er hatte die Nacht also nicht hier verbracht. Genauso hatte Hugo es auch erzählt und Pfarrer Johannes bestätigte diese Aussage. Vielleicht war er also tatsächlich im Kloster Knechtsteden gewesen. Doch warum war er früher als geplant zurückgekommen? Und noch viel wichtiger war die Frage: Wo war er jetzt?
...
Hugo hatte sich hinter einem Mauervorsprung geduckt. Nachdem er Bastian Mühlenberg am Morgen begegnet war, hatte er keine Zeit verloren. In Windeseile war er nach Zons hineingeritten, hatte sein schwarzes Ross versorgt und sich dann sofort zum Haus des Arztes begeben. Er musste unbedingt herausfinden, was Josef Hesemann an der Leiche des toten Boten gefunden hatte. Die Hälfte des Elixiers war verschwunden. Er musste die fehlenden Fläschchen unbedingt wiederfinden und jegliche Spur zu sich selbst verwischen. Niemand durfte erfahren, dass er dieses Rauschmittel herstellte und Geschäfte im ganzen Land damit machte. Es war zu ärgerlich, dass der Bote außer Kontrolle geraten war.
Es bereitete Hugo keine Schwierigkeiten, unentdeckt bis zur Grünwaldstraße vorzudringen. Die Gassen waren um diese Uhrzeit menschenleer, weil sich fast ganz Zons in der St. Martinus Kirche zur Morgenmesse eingefunden hatte. Hugo war sich allerdings nicht sicher, ob sich auch der Arzt im Gotteshaus befand. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aus dem Haus des Arztes drangen merkwürdige Geräusche an sein Ohr. Er konnte die Töne zunächst nicht zuordnen. Schleifgeräusche wurden von dumpfem Stöhnen unterbrochen. Dann herrschte für einen Moment Stille, bis alles wieder von vorne losging.
Vorsichtig pirschte sich Hugo an die Hintertür des Hauses heran. Er trug eine schwarze Kutte und hatte die Kapuze für alle Fälle tief ins Gesicht gezogen. Sollte ihn jemand beobachten, würde er nicht mehr als einen neugierigen Mönch sehen, der seine Ohren an die Tür eines fremden Hauses presste. Wenn Josefs Behausung der üblichen Bauweise entsprach, musste sich hinter der Pforte ein Innenhof befinden. Ganz deutlich drangen jetzt die Geräusche an Hugos Ohr. Das Holz war an einigen Stellen morsch und bedurfte einer dringenden Reparatur. Hugo machte sich diesen Umstand zunutze und kratzte vorsichtig die morschen Holzreste heraus. Er hatte Glück und entdeckte ein kleines Astloch, welches ihm einen Blick ins Innere des Hofes gestattete.
Was er dort sah, ließ ihn für einen Moment erstarren. Der Arzt hievte gerade mit Wernharts Hilfe den toten Körper des Boten auf einen groben Holztisch, der in der Mitte etliche Vertiefungen aufwies. Die beiden wollten den Leichnam offensichtlich unversehrt lassen und stöhnten vor Anstrengung, als sie den Toten Stück für Stück mit Hilfe eines schrägen Brettes und einer Seilwinde nach oben zogen. Das erklärte die merkwürdigen Geräusche, die Hugo zunächst nicht hatte zuordnen können. Hugo trieb der Anblick des fahlen und zermarterten Körpers Schweißperlen auf die Stirn. Ein Blick in das blasse und leicht grünliche Gesicht Wernharts verriet Hugo, dass es ihm ebenso erging. Er legte kurz den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Der frische Sauerstoff vertrieb das beklemmende Gefühl. Jemanden vom hohen Bock einer Kutsche aus zu töten war doch etwas anderes als aus nächster Nähe dem Tod gegenüberzustehen. Als Hugo wieder durch das Astloch spähte, war Wernhart verschwunden. Josef Hesemann hatte den Leichnam vollständig von der Kleidung befreit. Geschickt goss er nun Flüssigkeit über die Haut, die erst in die Vertiefungen des Tisches und anschließend durch Löcher in einen großen Holztrog floss, der unter dem Tisch stand. Während die Flüssigkeit anfangs klar wie Wasser war, nahm sie am Ende, wenn sie vom Tisch in den Trog floss, eine rötlich bräunliche Verfärbung an.
Hugo drückte sein Auge dicht an das Guckloch, um den Rest des Hofes besser betrachten zu können. Die Tür gab unmerklich nach und er bemerkte erstaunt, dass sie nicht verschlossen war. Vorsichtig drückte er weiter gegen das Holz, welches lautlos nachgab. Als der Spalt breit genug war, schlüpfte er mit angehaltenem Atem und eingezogenem Bauch hindurch. Josef war so auf seine Arbeit konzentriert, dass er ihn nicht bemerkte. Lautlos wie ein Schatten schlich Hugo sich zu den Kleiderresten. Gleich daneben lag die Ledertasche, die er dem Boten für seine Dienste zur Verfügung gestellt hatte. Behutsam ergriff er den Riemen und zog sie langsam zu sich heran. Das Leder schleifte über den Boden und für einen Moment befürchtete Hugo, der Arzt könnte ihn bemerken. Doch Josef stand immer noch mit dem Rücken zu ihm vor dem Leichnam, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu rühren.
Hugo ergriff die Tasche und öffnete sie. Sie war leer. Entmutigt ließ er das Leder fallen und machte sich über die Kleidungsreste her. Nichts. Nirgendwo konnte er das Elixier oder wenigstens einen Hinweis darauf entdecken. Verdammt, wo sollte er nur danach suchen? Er war sich sicher, dass Josef etwas sehr Wichtiges bei dem Leichnam gefunden hatte. Sonst hätte Bastian Mühlenberg ihm nicht den Mund verboten. Was, wenn nicht das Elixier, konnte der Arzt schon gefunden haben? Für Hugo gab es keine andere Erklärung. Er schloss die Augen und dachte nach. Vielleicht hatte der Arzt das Elixier irgendwo anders aufbewahrt? Er musste es herausfinden.
Rasch zog er die Kapuze tiefer ins Gesicht und zückte einen scharfen Dolch, den er im Schaft seines Stiefels aufbewahrte. Er war nur wenige Schritte von Josef Hesemann entfernt, der immer noch völlig vertieft in seine Arbeit war. Hugo schlich sich vorsichtig an. Gerade als er zum Angriff ansetzen wollte, erregte eine offene Tür, die direkt ins Haus führte, seine Aufmerksamkeit. Er maß den Abstand mit den Augen ab. Mit fünf großen Schritten könnte er dort sein und das Innere des Hauses nach dem Elixier durchsuchen. Der Arzt war immer noch ganz in seinem Element und hatte die Welt um sich herum ausgeblendet. Hugo traf eine Entscheidung und lief auf Zehenspitzen quer über den Hof. Flink wie ein Wiesel schlüpfte er durch die Tür.
Im Inneren des Hauses war es dunkel und seine Augen mussten sich zunächst an die neue Umgebung gewöhnen. Blind lief er ein paar Schritte, bis sein Fuß auf einen festen Gegenstand stieß und er stehenblieb. Noch bevor er das Hindernis erfassen konnte, spürte Hugo eine scharfe Klinge an seiner Kehle. Sein Herz setzte für einen Moment aus und eisige Kälte fuhr in seine Knochen. Die heisere Stimme, die dicht an seinem Ohr flüsterte, konnte er nur schwer verstehen.
»Was habt Ihr hier zu suchen?«
...
August genoss die Arbeit des Arztes. Er hatte schon immer viel von Josef Hesemann gehalten. Die Präzision, mit der er die Schnitte im Bauchraum setzte und die einzelnen Organe unversehrt herausschnitt - sofern sie das Überrollen der Kutsche und die Hufschläge überstanden hatten - war für August wahre Kunst. Nichts auf der Welt erregte ihn so sehr wie die Macht über Leben und Tod. Natürlich war es im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Christan eher die dunkle Seite des Todes, die ihn magisch anzog. Leben war zunächst jedem gegeben, doch den Zeitpunkt des Todes konnten sich die meisten nicht aussuchen. Es sei denn, sie beherrschten die Kunst des Tötens. Er bewunderte den Arzt, weil er mit den Funktionen des menschlichen Körpers vertraut war. Er wusste genau, welcher Grad der Zerstörung lediglich Schmerzen verursachte und ab wann der Tod eintrat.
August beobachtete den Arzt seit langem und hatte mittlerweile einiges gelernt. Josef legte nicht viel Wert auf den Zustand seines Hauses und so waren ihm die Veränderungen, die August auf seinem Dachboden vorgenommen hatte, nicht aufgefallen. August hatte sich seit Wochen dort unbemerkt einquartiert. Es machte ihm Spaß, dem Arzt zuzusehen und es befriedigte seine Gelüste. Josefs Frau und die kleine, süße Tochter waren oft ein paar Häuser weiter zu Besuch bei Verwandten. Wahrscheinlich schlug Josefs Beruf den beiden aufs Gemüt und sie nutzten jede Gelegenheit zur Flucht. Das war im Grunde kein Wunder. Denn wenn August den Innenhof betrachtete, konnte er nichts finden, was das weibliche Geschlecht auch nur annähernd angesprochen hätte. Selbst wenn Josef keine Leichenbeschau durchführte, hing der Geruch des Todes in der Luft und die schweren Gerätschaften, die er für seine Arbeit benötigte, konnten schwachen Gemütern wahrlich das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Zunächst war er sehr ärgerlich auf Bastian Mühlenberg gewesen. Mit Mühe hatte August in Erfahrung gebracht, dass der Bote zuletzt mit seiner Stiefmutter gesehen worden war. Er hatte herausfinden wollen, ob der Mann Marthas Mörder kannte oder gar selbst der Täter war. Mühlenberg sollte ihm den Mann beschaffen. August hätte die Wahrheit aus ihm herausgeholt. Ein aufgeregtes Prickeln lief über seine Haut, als er an die Foltermethoden dachte, die er sich für solche Fälle zurechtgelegt hatte. Doch Mühlenberg hatte den Boten für unbedeutsam gehalten und seinen Hinweis missverstanden. Jetzt war der Mann tot und damit für ihn nutzlos. Die Vorstellung, die der Arzt Josef Hesemann ihm gerade bot, entschädigte ihn jedoch für seinen Ärger. Außerdem hatte August bereits eine neue Fährte ausgemacht, auf die er Bastian Mühlenberg locken konnte. Es bereitete ihm Spaß, den Burschen für sich laufen zu lassen. August zog gerne die Fäden im Hintergrund und ließ Menschen für sich agieren, ohne dass diese auch nur das Geringste davon ahnten.
Augusts Augen verfolgten gerade wie gebannt die geschickten Hände des Arztes, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine Mönchsgestalt in einer schwarzen Kutte schlich sich an Josef heran. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, da die Kapuze den ganzen Kopf bedeckte. August stutzte einen Moment, dann fasste er sich und nahm einen Stein in die Hand. Gerade wollte er ihn in den Innenhof hinabwerfen, um den Arzt zu warnen, als die Gestalt innehielt und plötzlich im Haus verschwand.
August beeilte sich, die Treppen hinabzustürzen. Er musste die Gestalt aufhalten.
...
Wernhart presste die Klinge an die Kehle des Unbekannten. Er hatte sich ins Innere des Hauses geflüchtet, weil ihm die Tätigkeit des Arztes einfach zu nahe ging. Sein Magen rebellierte beim Anblick toter und verstümmelter Menschen. Sobald Josef ihn rief, würde er ihm wieder behilflich sein. Bis dahin jedoch verharrte er lieber in der Stube und schonte sein Gemüt. Er starrte gerade Löcher in die Luft, als eine dunkle Gestalt plötzlich in die Stube huschte und mitten im Raum stehenblieb. Wernhart zögerte nicht lange, schlich sich von hinten an und hielt dem Eindringling seinen Dolch an die Kehle.
»Was habt Ihr hier zu suchen?«, stieß er heiser hervor.
Doch noch bevor er die Kapuze des Mannes herunterreißen konnte, legte sich plötzlich eine Schlinge um seinen Hals und schnürte ihm unerbittlich die Luft ab. Was zur Hölle war hier los? Irritiert trat er mit dem Fuß nach hinten aus. Der Schlag ging ins Leere. Dafür zog sich die Schlinge noch enger zusammen und schnitt in die Haut seines Halses. Heißer Atem blies in Wernharts Nacken.
»Lasst ihn laufen und folgt ihm. Wenn ihr ihn jetzt stellt, habt Ihr wenig von seinem Schweigen.«
Die Stimme kam Wernhart irgendwie bekannt vor. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, doch es wollte ihm nicht gelingen. Immer noch presste er seinen Dolch an die Kehle des Unbekannten in der schwarzen Kutte. Der Mann stand wie zur Salzsäule erstarrt vor ihm. Wernharts Gedanken wirbelten wild umher. Sein Verstand versuchte zu begreifen, was der Angreifer hinter ihm gerade gesagt hatte. Die Schlinge lockerte sich etwas.
»Ich sage Euch, lasst ihn laufen und seht, wohin er Euch führt. Ihr könnt ihn später immer noch stellen.« Die Stimme drang jetzt so dicht an sein Ohr, dass er die Lippen des Angreifers auf seiner Ohrmuschel spüren konnte. »Habt Ihr mich verstanden, Wernhart?«
Der Schock durchzuckte seine Glieder. Der Mann mit der Schlinge kannte also seinen Namen. Vielleicht sollte ich tun, was er sagt, fuhr es Wernhart durch den Kopf. Wenn er den Unbekannten verfolgte, führte er ihn vielleicht auf eine vielsagende Spur. Bisher hatten sie weder Marthas Mörder dingfest machen können, noch kannten sie die Identität des Mannes mit dem zerschmetterten Schädel. Wenn Wernhart bei den Ermittlungen einen Schritt vorankäme, wäre Bastian Mühlenberg sicherlich stolz auf ihn. Außerdem hatte er noch immer eine Schlinge um den Hals. Was würde passieren, wenn er nicht von dem Eindringling in der schwarzen Kutte abließ?
Langsam ließ Wernhart den Dolch sinken und gab dem Mann vor sich einen kräftigen Tritt.
»Verschwindet!«
Die schwarze Gestalt ließ sich das nicht zweimal sagen und stolperte aufgeregt über den Dielenboden. Blindlings lief sie an der Wand entlang und versuchte den Ausgang zu finden. Sie brauchte mehrere Versuche, bis es ihr endlich gelang. Die Tür schlug zu und Wernhart drehte sich um. Der Angreifer hinter ihm war verschwunden. Die lockere Schlinge um seinen Hals war der einzige verbliebene Beweis seiner Existenz. Folgt ihm! Die Dringlichkeit der Worte brachte Wernhart in Schwung. Er musste den Mann in der schwarzen Kutte einholen.
...
Bastians Gedanken kreisten um Hugo von Spanheim. Er hatte halb Zons nach ihm abgesucht, aber ihn nirgendwo entdecken können. Sein schwarzer Gaul stand gut versorgt im Stall. Das war Bastians einziger Anhaltspunkt. Hugo war hier gewesen. Doch wohin war er dann gegangen? Bastian hatte etliche Bürger befragt, doch alle waren bei der Sonntagsmesse in der St. Martinus Kirche gewesen. Niemand hatte Hugo von Spanheim an diesem Morgen gesehen.
Obwohl es nicht seine Art war, gab Bastian seinen Plan vorerst auf. Er verschwendete zu viel Zeit mit dieser Suche. Von Spanheim musste früher oder später von selbst wieder auftauchen, und dann würde er ihn zur Rede stellen. Bastian hatte sich auf einen Mauervorsprung gesetzt und blätterte nun aufmerksam in seinem Notizbuch. Er musste noch einmal ganz von vorne anfangen, wenn er weiterkommen wollte.
Im Geiste ging er zu jener Nacht zurück, in der er auf den Boten gestoßen war. August hatte ihn zur südlichen Stadtmauer geschickt. »Ihr habt den Boten verpasst!« Der Satz fuhr jäh durch Bastians Kopf. Stück für Stück ging er die nächtlichen Ereignisse noch einmal durch. Er erinnerte sich genau, wie er fast über den Betrunkenen gestürzt war. Der Mann hatte mitten auf der Straße gelegen. Bastian sah das grobe Leinengewand vor sich, das ihn von den wohlhabenden Bürgern unterschied. Er hatte unverständliche Worte gelallt und dann war Bastian gegen etwas getreten. Ein klirrender Gegenstand war über die Pflastersteine gerollt und Bastian hatte ihn aus Versehen zertreten.
Hatte der Bote Glas transportiert? Oder war das Glas gar ein Behältnis für irgendetwas gewesen? Josef Hesemann hatte in seinem Magen ein Rauschmittel gefunden. War das vielleicht der Inhalt des Gefäßes gewesen? In Bastians Kopf überstürzten sich die Gedanken und er versuchte, die losen Enden zusammenzufügen. Währenddessen klappte er das Notizbuch versonnen immer wieder auf und zu.
Sein Blick blieb ganz plötzlich an der Zeichnung einer Frau hängen. Er hatte sie vor einigen Monaten aus dem Gedächtnis angefertigt. Große Augen, lange lockige Haare und ein schwanengleicher, schlanker Hals ließen Bastians Kehle vor Sehnsucht austrocknen. Anna. Ihr Name schwebte in der Luft und hüllte ihn sanft ein. Wo bist du nur, dachte er traurig. Die letzten Nächte waren einsam gewesen, ohne ihren Besuch in seinen Träumen. Bastian wusste, dass sie aus zwei verschiedenen Welten stammten und er hatte sich damit zufriedengegeben, sie in seinen Träumen zu besitzen. Doch seit der Geburt seiner Tochter hatten sich die beiden Welten verändert. Es war, als würde sich der Zugang zu Annas Welt immer weiter verschließen und ihm den Weg zu ihr versperren. Bastian seufzte. Ihm wurde schwer ums Herz und eine einzelne Träne lief, ohne dass er es verhindern konnte, über seine Wange. Anna! Er liebkoste ihren Namen, während seine Lippen tonlos jeden einzelnen Buchstaben nachformten. Kurz bevor ihn die Sehnsucht übermannte, schlug er das Buch zu. Er musste seine Fälle lösen. Wenn sein Kopf wieder klar war, dann würden auch seine Träume zurückkommen. Entschlossen sprang Bastian auf und machte sich auf den Weg zur Südmauer. Vielleicht konnte er die Glassplitter finden und rekonstruieren.
...
Wernhart presste sich flach gegen die Stadtmauer. Es war helllichter Tag und ein einziger Blick des Mannes vor ihm würde genügen, um ihn zu entdecken. Nachdem der Unbekannte aus Josefs Haus gestürzt war, hatte er sich bis in die Schloßstraße geflüchtet und anschließend auf einer Holzbank um Atem gerungen. Einen Moment lang war Wernhart sich sicher gewesen, dass der Mann von einem Herzstillstand niedergestreckt werden würde. Aus sicherer Entfernung hatte er beobachtet, wie sich der Brustkorb des Mannes heftig hob und senkte und er dabei immer mehr in sich zusammensank. Erst nach einer schieren Ewigkeit hatte er sich beruhigt und die Atmung nahm ein normales Ausmaß an. Wernhart konnte den Unbekannten noch immer nicht erkennen, da die Kapuze tief ins Gesicht gezogen war. Schwarze Kutten waren in Zons nicht unüblich. Die St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft trug solche Umhänge ebenso wie die vielen Mönche, die oft in der Stadt unterwegs waren. Wernhart musste auf einen geeigneten Augenblick warten, um den Mann zu stellen. Noch immer fragte er sich, wer ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatte. Er spürte, dass er kurz davor war, sich daran zu erinnern, wem die Stimme gehörte, die ihm so bekannt erschienen war. Das heißere Flüstern spukte in seinem Kopf herum, doch noch wollte die Wahrheit nicht an die Oberfläche seines Bewusstseins vordringen.
Der Mann erhob sich und ging weiter in Richtung Süden. Aus der Schloßstraße bog er in Richtung Juddeturm ab. Er überquerte den Zwinger und blieb vor der südlichen Stadtmauer stehen. Fünfzig Meter weiter befand sich das Südtor und Wernhart vermutete, dass der Fremde aus der Stadt flüchten wollte. Doch er irrte sich. Der Mann eilte am Südtor vorbei und blieb vor einem der hölzernen Wehrgänge stehen. Dann blickte er sich unvermittelt um. Wernhart konnte sich gerade noch ducken. Um ein Haar hätte der Fremde ihn entdeckt.
Der Wind blähte die schwarze Kutte des Mannes auf, als er die Stufen zum Wehrgang erklomm. Die ganze Stadtmauer war mit solchen Wehrgängen ausgestattet. Zum Teil waren sie aus Ziegelsteinen gemauert, ansonsten aus stabilem Holz errichtet. Der Mann blickte sich jetzt immer wieder um, als wollte er einen Verfolger abschütteln. Wernharts Herz schlug wild. Er spürte, dass er kurz vor einer wichtigen Entdeckung stand. Am liebsten wäre Wernhart dem Mann die Stufen hinaufgefolgt. Die Angst, im letzten Moment noch entdeckt zu werden, hielt ihn zurück.
Der Mann lief den Wehrgang mehrmals auf und ab. Er ist auf der Suche nach irgendetwas, dachte Wernhart, während er sich unterhalb des Wehrgangs verbarg. Durch die Holzdielen waren nicht viel mehr als die Stiefel des Unbekannten zu erkennen. Die Schritte entfernten sich und Wernhart drückte an der Stadtmauer entlang, den Mann unmittelbar über sich. Sandkörner und anderer Dreck rieselten auf Wernharts Gesicht hinab. Instinktiv schloss er die Augen und schüttelte den Schmutz ab. Als er wieder nach oben blickte, waren die Stiefel nach wie vor über ihm. Der Fremde bewegte sich nicht mehr, aber Wernhart konnte hören, wie er an den Steinen der Stadtmauer kratzte. Wozu sollte das gut sein? Dort gab es nichts als von Tuffstein aufgelockerte Basaltstelen und einige Auslassungen in der Mauer, die als Schießscharten dienten. Wernhart vernahm ein deutliches Klicken. Es hörte sich wie ein Mechanismus an, den er aus dem Glockenturm der Kirche kannte. Er musste näher herankommen, um zu sehen, was der Fremde dort oben trieb.