Vor fünfhundert Jahren
Bastian eilte durch die dunklen, engen Gassen von Zons. Trotz der späten Stunde war es noch warm und ein angenehmes laues Lüftchen wehte durch die Straßen. Die drückende Hitze des Tages, welche sich in den engen Gässlein angestaut hatte, stieg langsam nach oben in den klaren Nachthimmel. Tausende Sterne schienen hinab auf Zons und hüllten das Städtchen in ein Spiel aus tanzenden Lichtern und Schatten ein. Bastian hatte es nicht weit bis zu seinem kleinen Häuschen, in dem er mit Marie lebte. Es befand sich in der Nähe des Zonser Mühlenturms. Als er nach rechts in die Zehntgasse einbog, sah er am Ende der Gasse eine dunkle Gestalt über die Straße huschen. Kurz darauf ging ein Licht an. Bastian erkannte den Nachtwächter, der auf seiner üblichen Runde durch das Städtchen lief und für Ruhe, Ordnung und Sicherheit in Zons sorgte. Der Nachtwächter blies in sein Horn und begann zu singen:
»Hört, ihr Leut’, und lasst euch sagen: Unsre Glock’ hat zehn geschlagen! Zehn Gebote setzt Gott ein, dass wir soll’n gehorsam sein! Menschenwachen kann nichts nützen, Gott muss wachen, Gott muss schützen. Herr, durch deine Güt’ und Macht, schenk uns eine gute Nacht!«
Der Nachtwächter war in einen dunklen Mantel gehüllt und trug einen schwarzen Filzhut, der jedoch, anders als die Hüte der Sebastianus-Bruderschaft, oben nicht spitz zulief. In seiner rechten Hand trug er eine Laterne und in der linken hielt er seine Lanze.
»Seid gegrüßt, Bechtolt!«
Bechtolt blickte Bastian freundlich aus seinem rechten Auge an. Über dem linken Auge befand sich eine schwarze Klappe. Bechtolt war eigentlich Seefahrer, aber durch das Navigieren auf dem endlosen Meer im Laufe der Jahre erblindet. Das ständige Peilen des Sonnenstandes und der schutzlose Blick in die strahlende, goldgelbe Sonne hatte sein linkes Auge so lange geblendet, bis es vollständig erblindet war. Als sein Alter die Seefahrt nicht mehr zuließ, kam er nach Zons und hielt sich nun mit seinem bescheidenen Nachtwächterlohn mühsam über Wasser. Als Raubein bekannt, eignete er sich hervorragend für diese Aufgabe. Trunkenbolde, die er auf seiner nächtlichen Runde zu fassen bekam, wagten kaum, ihm Widerworte zu geben. Seine trotz des Alters mächtige Gestalt verhalf ihm zu einer hünenhaften Erscheinung.
»Seid gegrüßt, Bastian!«
Der Nachtwächter betrachtete Bastian Mühlenbergs hochgewachsene Gestalt. Er erinnerte sich noch an den kleinen Jungen, der wissbegierig jeden Tag bei Pfarrer Johannes Lesen und Schreiben lernte. Damals war er klein und schmächtig gewesen. Bastians Vater, der Zonser Müller, hatte schon mit dem Gedanken gespielt, den kleinen hellen Kopf ins Kloster zu schicken, damit wenigstens ein Gelehrter aus ihm würde. Denn für den Beruf des Müllers schien er sich nicht zu eignen. Doch dann war Bastian im wahrsten Sinne des Wortes in den Himmel geschossen. Innerhalb eines Jahres überragte er plötzlich die anderen Burschen seines Alters und hatte zudem noch stattlich an Muskeln zugelegt. Spätestens seit seiner Jagd nach dem Puzzlemörder war er zu einer hiesigen Berühmtheit geworden und sein Großmut und seine Tapferkeit ließen die Herzen vieler Frauen höher schlagen. Die Nachricht von seiner Heirat mit Marie hatte sich wie ein Lauffeuer in der Gegend verbreitet, und es gab nicht wenige, die sich wünschten, sie würde bei einer Schwangerschaft im Kindbett sterben, damit der attraktive Bastian Mühlenberg von der Zonser Stadtwache wieder zu haben wäre. Doch Bechtolt war sich sicher, dass auch das nichts nützen würde, denn Bastian neigte nicht zur Wankelmütigkeit und war ein treuer Geist.
»Der Siebener Ausschuss der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft trifft sich gerade in der Schenke ›Zur alten Henne‹. Habt Ihr sie kommen sehen?«
»Nein, aber ich habe gerade einen von ihnen nur einen Katzensprung von Euch entfernt eilig die Gasse hinunterlaufen sehen. Habt Ihr denn nicht gemeinsam die Wirtschaft verlassen?«
»Nein«, antwortete Bastian verwundert. »Sie saßen eben noch alle an einem Tisch und tuschelten geheimnisvoll miteinander.«
»Vielleicht habe ich ihn auch verwechselt. Ich wünsche Euch jedenfalls eine geruhsame Nacht, Bastian Mühlenberg.«
Mit diesen Worten setzte der Nachtwächter seinen Rundgang durch Zons fort. Bastian lief weiter in Richtung Schlossstraße. Hin und wieder verdunkelte eine Wolke das Sternenlicht am Himmel, so dass die Schatten auf der Erde aussahen, als würden sie sich bewegen. Einige Male glaubte Bastian, eine lebende Gestalt vor sich zu sehen, aber immer wieder stellte er fest, dass die unheimlichen Schatten der Nacht nur ihren Schabernack mit ihm trieben. Doch kurz vor der Schlossstraße nahm Bastian ein gurgelndes Geräusch aus einer Häusernische wahr. Er war sich nicht sicher, ob seine Sinne ihm einen Streich spielten, dennoch hielt er inne und lauschte.
Da war es wieder! Er war sich ganz sicher, etwas gehört zu haben. Langsam bewegte Bastian sich auf das Geräusch zu. Es war stockfinster. Er konnte nicht einmal seine eigenen Hände vor Augen erkennen.
Stille.
Er lauschte weiter.
Immer noch Stille.
Dann erklang abermals das gurgelnde Geräusch. Im selben Moment trat Bastian auf etwas Weiches und blieb augenblicklich stehen. Mit klopfendem Herzen horchte er weiter in die Dunkelheit hinein, beugte sich vorsichtig hinunter und tastete nach dem weichen Gegenstand. Seine Finger berührten etwas, das sich anfühlte wie grober Stoff.
Wieder das gurgelnde Geräusch! Bastian fuhr zurück.
Oh, mein Gott, dachte er, da liegt jemand!
Bastian zerrte seinen Fund mühsam aus der Häusernische in die Mitte der schmalen Gasse, wo es ein wenig heller war. Er konnte nicht viel erkennen, nur eine schwarze Kutte und einen ebenso schwarzen Filzhut. Die zusammengekrümmte Gestalt hob schwach den Kopf und versuchte, zu sprechen. Doch aus ihrer Kehle drang nichts als ein heiseres, gurgelndes Flüstern. Bastian beugte sich über die Gestalt und versuchte, sie zu verstehen. Mit letzter Kraft hob der Verletzte erneut an und röchelte kaum verständlich:
»Rettet die Karte!«
Dann fiel sein Kopf schlaff auf den Boden und jedes Leben wich aus seinem Körper. Bastian berührte den Hals des Toten und konnte eine warme Flüssigkeit fühlen.
Blut.
Er ertastete einen langen grässlichen Schnitt und dachte: Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten!
Plötzlich fiel ein Lichtschein auf das Gesicht des Toten und im selben Augenblick erkannte Bastian ihn. Es war Benedict, der Fahnenträger der Sebastianus-Bruderschaft. Er drehte sich um und blickte in die Laterne, die unerwartet hinter seinem Rücken aufgetaucht war.
»Was treibt Ihr hier in der Dunkelheit, Bastian?«
Jacob, der arme Tagelöhner, dessen Haus ein reiner Flickenteppich war, beugte sich über ihn. Die Haustür hinter ihm stand offen.
Jacob hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil seine Sorgen ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Er hatte mehrere nächtliche Geräusche wahrgenommen. Ein Schleifen hatte ihn endgültig wach gemacht und die schmalen Treppen seines Hauses hinunter auf die Straße getrieben. Er traute seinen Augen nicht, als er direkt vor seiner Haustür den blonden Schopf von Bastian Mühlenberg über etwas gebeugt erblickte.
Erschrocken und zugleich ängstlich betrachtete Jacob den Toten.
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht, Jacob. Aber seid so gütig und helft mir, ihn von der Straße zu schaffen.«
…
Bastian hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen. Im Traum lief er immer wieder die Zehntgasse entlang und versuchte, den Schatten, den er kurz vor dem Auftauchen des Nachtwächters wahrgenommen hatte, zu erkennen. Er hatte die Schenke alleine verlassen. Niemand war ihm gefolgt. Wie konnte der Fahnenträger Benedict Eschenbach ihn da überholt haben? Warum ist ihm die Kehle durchgeschnitten worden, und was meinte er mit seinen letzten Worten, dass Bastian die Karte retten sollte? Welche Karte konnte Benedict gemeint haben?
Müde rieb Bastian sich die Augen und blickte nach rechts. Marie lag schlafend neben ihm. Liebevoll betrachtete er ihr hübsches Gesicht und ihr blondes Haar, welches im Morgenlicht durch die ersten Sonnenstrahlen golden glänzte. Dann schlüpfte er vorsichtig aus dem Bett, bemüht sie nicht zu wecken.
Eine halbe Stunde später stand Bastian gemeinsam mit Josef Hesemann in dem kleinen Innenhof des Arztes in der Grünwaldstraße über den toten Benedict Eschenbach gebeugt, der auf einem Holztisch lag. Angestrengt betrachteten sie den Schnitt, der durch die Kehle des Opfers von einem Ohr bis zum anderen reichte. Der Kopf war beinahe abgetrennt. Nur noch die Halswirbelsäule und ein paar Muskelstränge hielten Körper und Kopf zusammen. Das Blut war mittlerweile dunkel und hart verkrustet. Josef kratze am Rand der Wunde und ein trockener, fast schwarzer Blutklumpen löste sich und fiel lautlos zu Boden.
»Bastian, Ihr habt mich ganz schön erschreckt, als Ihr mir von dem Toten berichtet habt. Eine furchtbare Sekunde lang habe ich wirklich befürchtet, Ihr hättet meinen Vetter Conrad gefunden. Ich habe immer noch nichts von ihm gehört. Aber wahrscheinlich hat er unsere Verabredung einfach vergessen und ist tief im Gebet versunken in seinem Kloster geblieben.«
Während dieser Worte löste sich ein weiterer Teil der Blutkruste. Josef beugte sich noch etwas tiefer über die Verletzung.
»Wir müssen den Wundrand säubern, damit ich erkennen kann, welche Waffe der Mörder benutzt haben könnte.«
Bastian nickte und begab sich wortlos ins Haus. Wenige Minuten später tauchte er mit einem ledernen, wassergefüllten Eimer und Leinentüchern wieder auf. Vorsichtig begannen die beiden, die Halswunde an den Rändern zu säubern. Josef betrachtete den Schnitt nachdenklich. Er hatte schon viele Wunden gesehen. Diese hier sah jedoch völlig anders aus, als jene, die er aus seiner langen Zeit als Zonser Arzt kannte. Sie konnte weder von einem Messer noch von einem Schwert oder gar einer Lanze stammen. Josef kannte die Muster, welche die verschiedenen Waffen hinterließen in- und auswendig. Dieser Schnitt hier war sehr tief und extrem schmal, ohne Quetschungen am Wundrand. Ein Schwert beispielsweise hinterließ solche tiefen Wunden, doch war der Schnitt viel breiter. Diese Wunde hier war kaum einen halben Zentimeter breit und zudem verlief sie exakt waagerecht. Nur ein geübter Schwertkämpfer hätte die Kraft und die Technik einen so exakten Schnitt zu setzen. Da sich das Opfer sicher bewegt und nicht still vor seinem Henker gestanden hat, war dies sehr unwahrscheinlich.
Josef fiel keine Waffe ein, die zu diesem Schnittverlauf passte. Auf der linken Halsseite setzte der Schnitt tiefer an als auf der rechten. Der Arzt griff nach einem vom Säubern der Wunde blutigen Leinentuch und klappte den Kopf des Toten so weit es ging nach links. Entsetzt von dem Anblick wandte Bastian sich ab. Er konnte spüren, wie sich sein Magen zusammenkrampfte und das Frühstück sich seinen Weg hinauf in die Speiseröhre bahnen wollte. Ihm war speiübel. Vorsichtig blickte er sich wieder um und betrachtete den Arzt. Josef schien der Anblick nichts auszumachen. Mit geübten Handgriffen fuhr er an den glatten Wundrändern entlang. Der Kehlkopf war in der Mitte zertrennt worden und hing schief im unteren Halsstück. Die Sehnen, Muskeln und Blutgefäße waren so glatt durchtrennt, dass man glauben konnte, sie würden nahtlos wieder zusammenwachsen, sobald man den Kopf nur ordentlich am Hals befestigte.
Josef beugte sich tief hinab. So tief, dass er die Halswirbelsäule des Toten von vorne genau betrachten konnte. Die unbekannte Klinge hatte die ersten Millimeter des Knochens angeritzt. Auch der Ritz lag am linken Rand der Wirbelsäule tiefer als am rechten. In jedem Fall war es eine glatte Klinge und keine gezackte gewesen. Plötzlich fiel es Josef ein: Es musste eine Sichel gewesen sein! Als kleiner Junge hatte sein Onkel ihm während der Erntezeit gezeigt, wie man mit einer Sichel Gras oder Getreide schneiden konnte. Man nahm die Sichel in die eine Hand und das Grasbüschel oder die Getreidehalme in die andere. Dann durchtrennte man direkt darunter die Halme mit einer einzigen fließenden, kreisrunden Bewegung. Setzte man nicht richtig an, wurden die Halme am Anfang des Schnittes nicht vollständig gekappt. Tat man es richtig, wurden die Halme durch den Sichelschnitt gleichmäßig und exakt in derselben Höhe durchtrennt. Genau wie der Hals von Benedict Eschenbach.
Die Untersuchung brachte Josef zu zwei wichtigen Erkenntnissen. Die Mordwaffe war eine glattschneidige Sichel und der Täter musste Linkshänder sein. Dies erklärte die unterschiedliche Höhe des Schnittes an den Halsseiten. Der Arzt erklärte Bastian kurz seine Ergebnisse und tastete dabei mit seinen Fingern die Muskulatur des Halses ab. Josef ertastete etwas Hartes. Er stutzte und nahm die andere Hand zu Hilfe. Vorsichtig klappte er die Muskulatur und Sehnen auseinander.
»Seht her, Bastian. Hier ist etwas, das nicht hierher gehört!«
Neugierig kam Bastian näher. Mittlerweile hatte sein Magen sich beruhigt und er konnte den grauenvollen Anblick des fast vom Hals getrennten Kopfes leidlich ertragen. Immer noch blass im Gesicht erkannte er das Ende einer Kette, das in der Speiseröhre hing.
»Greift zu. Ich will nicht, dass sie weiter hinabrutscht und wir den ganzen Schlund öffnen müssen«, sagte der Arzt und Bastian griff von Ekel ergriffen in den Hals des Toten. Mit spitzen Fingern versuchte er, die Kette zu greifen. Doch es war glitschig. Er griff tiefer hinein, während Josef die Wunde auseinanderhielt. Vorsichtig zog Bastian die Kette heraus und hielt sie pendelnd in die Höhe. An der Kette hing ein kleiner Schlüssel.
»Ist das nicht die Kette, die wir gestern Abend in der ›Alten Henne‹ gesehen haben?«
»Das wäre gut möglich! Doch wie kommt sie in Benedicts Hals?«
»Er muss sie verschluckt haben.«
»Ich vermute, dass er sie - kurz bevor er ermordet wurde - verschluckt hat. Sonst wäre sie jetzt entweder vollständig in seinem Magen gelandet oder er hätte sie längst wieder erbrochen«, murmelte Josef nachdenklich vor sich hin. »Nur durch seinen Tod konnte sie so weit oben in der Speiseröhre stecken bleiben.«
Bastian ließ den Schlüssel vor seinem Gesicht langsam hin- und herpendeln. Vor seinem geistigen Auge sah er Benedict wieder vor sich liegen. Röchelnd hatte er versucht, zu ihm zu sprechen.
»Rettet die Karte!«
»Was habt Ihr gesagt, Bastian?«
»Rettet die Karte. Das waren seine letzten Worte. Ich konnte ihn kaum verstehen.«
»Vielleicht wollte er den Schlüssel verschlucken, damit sein Mörder ihn nicht findet!«, entfuhr es Josef plötzlich aufgeregt.
»Das ist möglich! Die Schenke war gestern gut gefüllt. Nicht nur wir haben den Schlüssel gesehen. Der Mörder könnte auch dort gewesen sein!«
»Richtig, Wernhart hat den halben Abend über die drei Schlüssel und die Schützentruhe gesprochen. Er ist sicher nicht der Einzige, der von der Truhe weiß.«
»Und davon, was sie enthält.«
»Das Königssilber!«