I.

Gegenwart

 

 

»Wenn du traurig bist, dann sieh hinauf zu den Sternen, schließ die Augen und sie werden dir eine Geschichte erzählen. Sie werden dich trösten, dich mit ihrem Schimmer sanft in die Arme nehmen und dir einen Weg zeigen, auf dem du gefahrlos ans Ziel gelangst.« Lächelnd erinnerte sich Anna an die Worte ihres Großvaters. Es war ein kalter Winterabend und sie spazierte fröstelnd durch die Straßen des kleinen mittelalterlichen Städtchens Zons. Trotz der Eiseskälte setzte sie sich auf eine der vielen leeren Parkbänke direkt am Rhein und folgte dem Rat ihres Großvaters. Tränen stiegen ihr in die Augen und ihr Schmerz übermannte sie für einen kurzen Augenblick. Nein, sie wollte ihre Gedanken nicht mehr in die Vergangenheit schweifen lassen, nicht mehr ständig an all den Kummer erinnert werden, der ihr die letzten Monate zu einer wahren Hölle werden ließ. Sie wollte endlich vorwärts blicken und wieder zu sich selbst finden. Seit Wochen schon quälte sie sich mit ihrem Selbstmitleid und dem ständigen Gedankenstrom, der einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden wollte. Wann endlich würde sie die Vergangenheit hinter sich lassen können und die nötige Gelassenheit aufbringen, mit der sie sonst ihr Leben so perfekt gemeistert hatte? Sie hatte nie zu der Sorte von Menschen gehört, denen das Glück auf Schritt und Tritt folgt. Andererseits konnte sie sich auch nicht über dauerhaftes Pech beklagen, wenn man von den letzten Monaten einmal absieht. Von dem, was noch vor kurzer Zeit die größte Bedeutung in ihrem Leben hatte, war plötzlich fast nichts mehr da. Was war ihr denn geblieben, von ihrem einst so bewundernswerten Leben?

Die Nacht war klar und die Sterne strahlten so hell, dass ihr Schein sie fast blendete. Minutenlang starrte sie hinauf und ihre Gedanken verblassten allmählich in der gleißenden Lichtflut. Schwerelos stieg sie hinauf. Ihr Körper wurde so leicht wie eine Feder und die Welt um sie herum hörte für einen Moment auf, zu existieren. Wie von einer Vision angezogen, glitt sie, umgeben von hellem Schimmer, in die Nacht hinein. Nichts denkend und nichts fühlend. Die Tränen in ihren Augen brachen das Licht tausendfach und führten sie in einen glänzenden Palast aus hellen Strahlen. Vollkommene Gleichgültigkeit durchströmte sie. Wenn es doch nie enden würde!

 

 

...

 

 

Der eiskalte Wind brachte Annas zitternden Körper zur Besinnung. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und umhüllten sie mit einem weißen Schleier. Sie musste eingeschlafen sein. Schnell wollte sie sich erheben, doch ihre Glieder waren fast steif und schmerzten bei der kleinsten Bewegung. Trotzdem zwang sie sich, aufzustehen. Sie hatte es nicht weit bis zu ihrem kleinen Appartement. In höchstens zehn Minuten würde sie in ihrem warmen Zimmer sitzen und nichts mehr von dieser grausamen Kälte verspüren. Langsam schleppte sie sich die menschenleere Straße entlang. Es schneite so stark, dass sie kaum ihre Fußspitzen erkennen konnte. Plötzlich nahm sie eine Gestalt direkt vor sich wahr. Abrupt blieb sie stehen und starrte dem fremden Mann mitten ins Gesicht. Dunkelbraune Augen blickten sie an. Unter seiner Kapuze lugte blondes Haar hervor. Er sah gut aus. »Kann ich Ihnen behilflich sein? Zu so später Stund ist es gefährlich für eine edle Dame, alleine unterwegs zu sein.« Was für eine altmodische Sprache wunderte sie sich für einen kurzen Moment, doch sie antwortete: »Oh, danke. Ich bin gleich zu Hause. Es ist nicht mehr weit.« Er bot ihr an, sie trotzdem nach Hause zu geleiten und obwohl sie sich eigentlich nie von fremden Männern begleiten ließ, willigte sie kurzerhand ein. Zügig schritten sie durch die Rheinstraße und waren in wenigen Minuten vor ihrem Haus angelangt. Er verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihr und verschwand in der Dunkelheit.

 

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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