87

Der Strom.

Von Daeniken lag im Schnee, ohne die Kälte zu spüren, ohne überhaupt noch etwas zu spüren. Aus seiner Unterredung mit General Chabert vor zwei Tagen war ihm in Erinnerung geblieben, dass die Steuerungszentrale für die Drohne eine enorme Menge Strom benötigte. Wenn er die Energiezufuhr zum Haus unterbrechen könnte, wäre die Drohne manövrierunfähig. Sie könnte vielleicht weiterfliegen, aber sie wäre nicht mehr steuerbar. Früher oder später würde ihr der Sprit ausgehen. Es gab eine gewisse Chance, dass sie einfach abstürzen und irgendwo auf dem Gelände explodieren würde. Doch egal, wo der Absturz stattfand, er würde keine fünfhundertfünfzig Menschenleben fordern.

Er rollte sich auf den Bauch, hob den Kopf und suchte mit den Augen den Hügel ab. Direkt neben ihm schlugen Schüsse in den Boden ein, Dreck und Eis flogen ihm in die Augen. Er duckte sich wieder und bekam eine Hand voll Schnee in den Mund, aber er hatte trotzdem einen Blick auf den rechteckigen Metallkasten erhaschen können, über den das Wohngebiet mit Elektrizität versorgt wurde.

Der Stromverteiler stand ein paar Meter von ihm entfernt auf einer eingeebneten Stelle am Hang. Direkt darüber ragten die Ruinen der uralten Zitadelle in den Himmel. Die großen Steinblöcke würden ihn vor den Kugeln seiner Gegner schützen.

Tief geduckt kämpfte er sich durch den Schnee den Hügel hinauf. Er zitterte am ganzen Körper. Nach ein paar Metern hielt er inne und hob den Kopf, jederzeit bereit, ihn sofort wieder einzuziehen. Das Sperrfeuer hatte kaum nachgelassen, aber die Schüsse galten nicht länger ihm. Sie drangen von der anderen Seite des Hügels zu ihm herüber. Es schien sich auch um ein anderes Kaliber zu handeln. Sie kamen von Ransom und seiner Frau.

Das Motorengeräusch eines Flugzeugs drang an seine Ohren. Er konnte kaum glauben, dass ein kleines Fluggerät so einen ohrenbetäubenden Lärm verursachen konnte. Das Geräusch wurde schriller und langgezogener. Die Drohne war im Begriff abzuheben. Er drehte sich auf die Seite und blickte zum Himmel. Einen Augenblick lang konnte er einen silbernen Blitz über den Baumwipfeln erkennen.

Von Daeniken kam auf die Knie und kroch, so schnell es ging, den Hügel hinauf. Er scherte sich nicht länger um seine Sicherheit. Er wusste, dass er ein leichtes Ziel abgab, doch die Verlagerung des Schusswechsels auf die andere Seite des Hügels weckte in ihm eine fast unangemessene Beherztheit. Das Haus erhob sich über ihm wie ein Betonbunker. Und dann fand er sich plötzlich neben dem Stromverteilerkasten wieder.

Er lehnte sich schwer atmend dagegen. Der Kasten war mit einem Sicherheitsschloss verriegelt. Er kroch ein paar Schritte zurück, zielte mit seiner Pistole und drückte ab. Das Schloss sprang entzwei. Der Stromverteilerkasten öffnete sich wie eine Baggerschaufel. Er sah hinein. Ein Sicherheitsaufkleber warnte davor, irgendetwas anzufassen, da ein Stromschlag lebensgefährlich sein könnte. Die Warnung wurde von einem Totenkopf unterstrichen. Von Daeniken sah sich einem Wirrwarr von Drähten gegenüber, von denen einige zu dicken, bunten Strängen zusammengewickelt und andere mit isolierender Gummiverkleidung ummantelt waren. Das Ganze sah furchtbar kompliziert aus. Er hatte naiverweise erwartet, eine Art Kippschalter vorzufinden, den er einfach umlegen konnte. Er schob den Kopf nach vorne, um besser sehen zu können.

Eine Kugel traf ihn in die Schulter und riss ihn zurück. Bevor er überhaupt begriffen hatte, was geschehen war, fand er sich mit dem Gesicht im Schnee vergraben wieder. Verwundert, atemlos und orientierungslos drehte er sich auf den Rücken. So blieb er ein paar Sekunden liegen und versuchte zu begreifen, was passiert war.

Dann rappelte er sich mühsam auf ein Knie, zielte mit seiner Pistole auf das Haus und feuerte blindlings drauflos. Der Rückschlag seiner Waffe verlieh ihm ein Gefühl von Macht und Zuversicht. Er zielte auf den Stromverteilerkasten und verfeuerte sein ganzes Magazin. Nichts geschah.

Er schnalzte mit der Zunge. Das ist absurd, dachte er. Da hatte er seine Waffe zum ersten Mal seit dreißig Jahren abgefeuert … und das auf einen riesigen Metallkasten. Er sank zurück zu Boden. Der Schnee um seine Füße herum war rot gefärbt. Er versuchte, den linken Arm zu bewegen, aber der war vor Kälte so taub, dass er nichts empfand. Beim Anblick des Schnees kam ihm plötzlich ein Gedanke.

Wasser!

Er brauchte keine Waffe, um sein Ziel zu erreichen.

Mit beiden Händen griff er nach den Kabeln in der Box und riss sie heraus. Funken sprühten und erloschen auf dem Boden. Aus einem der Drähte schoss ein konstanter blauer Funkenregen. Mit seiner unverletzten Hand hob er eine Hand voll Schnee auf und stopfte ihn in den Verteilerkasten. Der Draht zischte, doch der Funkenregen hörte nicht auf. Er wusste nicht genau, was eigentlich passieren solle, doch das, was er getan hatte, reichte offensichtlich noch nicht. Er tastete mit der Hand im Kasten herum, bis er ein Kabelbündel von der Größe eines Polizeigummiknüppels fand. Mit aller ihm noch verbliebenen Kraft zog er daran. Schließlich gelang es ihm, das Bündel zu lösen. Ein Fransenwirrwarr von Kupferdrähten kam zum Vorschein.

Während er die Drähte betrachtete, dachte er an die Drohne und das Flugzeug aus Israel. Er wusste, dass die Maschine keine Chance hatte, der fliegenden Bombe auszuweichen, ebenso wenig wie ein Mann eine Chance hatte, einem Haifisch davonzuschwimmen. Vor seinem inneren Auge erschienen die Bilder von Philip Palumbo, wie er im Dunkeln von Schüssen durchsiebt auf dem Boden lag.

Von Daeniken hob so viel Schnee auf, wie er fassen konnte. Dieses Mal presste er ihn auf die entblößten Kupferdrähte. Es gab ein kurzes, knackendes Geräusch und danach nichts mehr.

Einen Moment lang war er sich sicher, dass alles umsonst gewesen war, doch dann spürte er einen Schlag, der durch seine Arme bis in seine Brust schoss. Sein Rücken zuckte schmerzhaft. Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch seine Kehle war taub vom Strom, der durch seinen Körper floss. Mit letzter Kraft zog er seine Hand zurück. Er spürte eine Explosion in seiner Brust und flog mit einem gewaltigen Satz rückwärts durch die Luft.

Jonathan rannte im 90-Grad-Winkel vom Wagen fort und duckte sich von Baum zu Baum. Der Schnee war tief und der Boden uneben, sodass es schwierig war voranzukommen. Zweimal stolperte er, fiel auf die Knie und musste sich wieder aufrappeln. Nach fünfzig Metern bog er nach rechts ab und lief einen Trampelpfad entlang, der parallel zur Straße verlief. Es dauerte nicht lange, bis er die Mauerreste aus der Römerzeit gefunden hatte, die einst einen schützenden Wall um die Stadt gebildet hatten. Er sprang über die Ruinen und kroch auf allen vieren zur Rückseite des Hauses.

Das Haus war so gebaut, dass es zum Teil über den Berghang hinausragte. Zwei im Fels verankerte Stahlpfeiler stützten das Gebäude ab. Als er die Pfeiler erreicht hatte, blieb er stehen und lauschte. Die Schießerei hatte aufgehört. Die Stille, die auf die Schüsse folgte, erschien ihm nicht weniger Unheil verkündend. Oben vom Hügel drangen Motorengeräusche an sein Ohr. Mindestens ein Auto fuhr mit quietschenden Reifen los.

Die Stahlpfeiler waren glitschig, nass und eiskalt. Es war schon schwer genug, sich an ihnen festzuhalten, ganz zu schweigen davon, an ihnen hinaufzuklettern. Als er schließlich oben angelangt war, brannten seine Hände vor Kälte, und seine Kleider waren klitschnass. Er zwängte ein Knie in den Spalt zwischen Terrasse und Pfeiler, richtete sich auf und hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Mit einem Stoßgebet löste er sich vom Pfeiler, umklammerte die Brüstung mit beiden Händen und zog sich nach oben auf die Terrasse.

Die Schiebetür, die ins Haus führte, war verschlossen.

Er trat einen Schritt zurück und schoss auf sie. Die Scheibe zersprang. Ein Splitter traf ihn am Fußgelenk und bohrte sich ins Fleisch. Er stieß einen Schmerzenslaut aus und zog das Ding heraus. Blut floss aus der Wunde in seinen Schuh.

Im Haus war es totenstill. Nirgendwo brannte Licht. Die Männer, die es vielleicht einmal bewacht hatten, waren scheinbar fort. Er nahm nur ein leises Summen wahr, das von irgendeiner Stromquelle auszugehen schien. Er durchquerte den Raum und trat in einen Flur. Am Flurende versperrte ihm eine Tür den Weg. Sie war mit einem Zahlenschloss gesichert. Er schoss auf das Schloss. Ohne Erfolg. Schloss und Tür waren aus Stahl.

Jonathan legte ein Ohr an die Tür. Er hörte das leise Summen und spürte eine Vibration an seiner Wange. Plötzlich verstummte das Geräusch, und auch die Vibration war nicht mehr zu fühlen. Das gesamte Gebäude schien zu erstarren, so als ob jemand einen Stecker gezogen hätte.

Jonathans Blick richtete sich auf das Zahlenschloss. Das Lämpchen, das zunächst rot geleuchtet hatte, blinkte nun grün.

Der Strom war abgeschaltet worden.

Er streckte die Hand nach dem Knauf aus und drehte ihn.

Die Tür ließ sich öffnen.

Mit gezückter Pistole betrat Jonathan einen großen Raum, der Ähnlichkeit mit einer Operationszentrale hatte. Links von ihm gab ein großes Fenster den Blick auf den Züricher Flughafen frei. Direkt vor ihm türmten sich vom Boden bis zur Decke die unterschiedlichsten Instrumente und Bildschirme auf. Auf einem Stuhl davor saß ein Mann. Er hatte einen Schalthebel in der Hand, und er hatte Jonathan den Rücken zugekehrt. Das musste John Austen sein.

In einiger Entfernung daneben war ein anderer Mann fieberhaft mit diversen Knöpfen und Hebeln beschäftigt.

»Der Notstrom ist eingeschaltet«, sagte der zweite Mann, der Emma zufolge der Flugtechniker sein musste. »Satellitenverbindung wiederhergestellt. Wir haben wieder Sichtkontakt.« Er blickte auf, sah Jonathan und zielte mit einer Waffe auf ihn. Jonathan feuerte zwei Schüsse auf ihn ab. Der Mann sackte gegen die Wand.

Jonathan trat neben den Piloten. »Lassen Sie die Steuerung los.«

Der Pilot reagierte nicht. Die Hand mit dem Steuerknüppel bewegte sich nach rechts. Auf dem Bildschirm vor ihm war ein unheimlich wirkendes grünes Dämmerlicht zu sehen. Zuerst konnte Jonathan nichts Genaues erkennen. Beim zweiten Hinsehen bemerkte er jedoch in einiger Entfernung einen grauen Schatten. Der unförmige Schemen gewann zunehmend an Form. Jonathan konnte jetzt die Spitze, die Heckflosse und eine Reihe kleiner Lichtpunkte erkennen, die von den Fenstern der Passagiere herrührten. Was er sah, war das Flugzeug aus der Perspektive einer Infrarotkamera.

Jonathans Blicke richteten sich auf den Radarschirm. Die beiden blinkenden Punkte befanden sich beunruhigend nah beieinander. Unter dem einen stand »El Al 8851H«, der andere war nicht gekennzeichnet.

»Ich sagte, lassen Sie die Steuerung los.«

»Sie kommen zu spät«, sagte John Austen.

Er wird nicht eher aufgeben, bis er seine Mission bis zum Ende durchgezogen hat, hatte Emma gesagt. Glaub mir, ich weiß genau, wie er ist.

Jonathan trat dicht an den Piloten heran, drückte ihm die Waffe in den Nacken und schoss.

Der Mann brach über den Instrumenten zusammen.

Jonathan schubste ihn aus dem Stuhl.

Das Flugzeug war jetzt noch deutlicher zu erkennen. Er sah eine Tragfläche, die Umrisse des Rumpfes und die blinkenden Landelichter. Die Maschine war wirklich beängstigend nah.

Jonathan drückte den Steuerknüppel nach vorn.

Das Flugzeug rückte näher und näher. Er war zu spät gekommen. Die Drohne würde mit dem Flugzeug kollidieren. Auf der Konsole blinkte ein rotes Licht. Zündung für bevorstehenden Angriff bereit. Er warf einen Blick auf das Radar. Die beiden blinkenden Punkte verschmolzen zu einem. Er sah auf den Monitor. Die israelische Maschine füllte bereits den gesamten Bildschirm aus.

Jonathan stellte sich innerlich darauf ein, dass die beiden Flugzeuge jede Sekunde explodieren würden.

Plötzlich schoss das Passagierflugzeug davon. Auf dem Bildschirm war nur noch Dunkelheit zu erkennen. Jonathan sah auf das Radargerät. Der blinkende Punkt mit der Bezeichnung »El Al 8851H« war noch immer dort. Kurz darauf erschien auch der zweite Punkt wieder auf dem Schirm. Doch der Abstand zwischen beiden Zielen hatte sich vergrößert.

Jonathan zog am Steuerknüppel, während die Drohne ihren Flug durch die Nacht fortsetzte.

Er entdeckte den Höhenanzeiger auf der Konsole und beobachtete, wie die Zahlen von achthundert Metern auf sechshundert, danach auf dreihundert und schließlich auf null fielen.

Dann war auf dem Bildschirm nur noch ein lautes, grellweißes Störsignal zu sehen.

Reich, Christopher
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