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Vor den Toren Wiens brannte Licht in den Fenstern von Flimelen, einer alten österreichischen Jagdresidenz in der Nähe eines von Wald umgebenen Kaffs namens Sebastiansdorf. Der ehemalige Rückzugsort von Kaiser Franz Josef inmitten eines weitläufigen Anwesens war nach dem Tode seines Besitzers kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges in Vergessenheit geraten. Vierzig Jahre lang blieb er ungenutzt und verfiel. Die Fenster zerbrachen, die Türen wurden auf der Suche nach Feuerholz herausgerissen, die Steine aus den Grundmauern geschlagen, um andere, weniger majestätische Häuser damit zu bauen, und der Wald schien die restlichen Trümmer unter sich begraben zu wollen.

Im Jahre 1965 jedoch erwachte Flimelen aus seinem Dornröschenschlaf. Von einem auf den anderen Tag waren plötzlich Arbeiter erschienen und hatten mit der Restaurierung des verfallenen Gebäudes begonnen. Neue Fenster wurden eingesetzt. Robuste Türen eingebaut. Weiter unten an der Zufahrtsstraße wurde ein Wachtposten errichtet. Auf der Suche nach einem abgeschiedenen Ort, an dem streng vertrauliche Angelegenheiten besprochen werden konnten, war Flimelen von einer Interessenvertretung gekauft worden. Dabei handelte es sich nicht um eine Regierungsbehörde, sondern um eine zwischenstaatliche Organisation, deren Ziel es war, humanitäre Katastrophen und Kriege zu verhindern.

Vier Männer und eine Frau saßen an dem langen Tisch in der großen Halle. Am Kopfende thronte ein ernst blickender älterer Herr mit einem angegrauten Haarkranz und einem ordentlich gestutzten Schnurrbart. Er trug eine kleine, runde Hornbrille. Der Mann war Ägypter und hatte an der Universität zu Kairo einen Bachelor in Rechtswissenschaften erworben. Nach einer Zeit der Tätigkeit als Diplomat hatte er an der New York University School of Law promoviert und war einige Jahre als Berater im ägyptischen Außenministerium tätig gewesen.

Obwohl es bereits auf Mitternacht zuging und die anderen Anwesenden schon längst die Krawatten gelockert und den obersten Hemdenknopf geöffnet hatten, saß er noch immer im Jackett da, und auch sein Schlips war nach wie vor korrekt gebunden. Er füllte seine Position mit dem denkbar größten Ernst aus. Für seine Leistungen war er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Nur wenige Menschen konnten von sich behaupten, das Schicksal der Welt läge in ihren Händen, ohne dafür als bornierte, schamlose Lügner abgestempelt zu werden. Dieser Mann indes zählte zu diesem ausgewählten Kreis.

Der Mann hieß Mohammed el-Baradei, und er war der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO, die im Rahmen ihrer Tätigkeit regelmäßig an die Generalversammlung und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berichtete.

»Das muss ein Irrtum sein«, sagte el-Baradei, während er den Bericht überflog.

»Ich fürchte, der Bericht ist zutreffend«, sagte der Mann neben ihm - ein Russe mit Pokerface namens Yuri Kulikov, der in der IAEO die Abteilung für Kernenergie leitete.

»Aber wie ist das möglich?« El-Baradei warf einen prüfenden Blick auf die Gesichter der am Tisch Versammelten. »Wenn das wirklich stimmt, haben wir bei der Erfüllung unserer Pflichten auf ganzer Linie versagt.«

»Es handelt sich um ein großangelegtes Täuschungsprogramm«, sagte Kulikov. »Ein Hütchenspiel gewissermaßen. Jahrelang haben sich unsere Inspektionen auf eine Region konzentriert, während insgeheim an einem ganz anderen Ort gearbeitet wurde.«

Die Männer und die Frau, die mit el-Baradei am Konferenztisch saßen, gehörten zur Führungsriege des IAEO. Es waren der gebürtige Japaner Oniguchi, Vizedirektor des Ressorts für angewandte Nuklearwissenschaft, die Österreicherin Brandt, die das Ressort Technische Zusammenarbeit leitete, der Russe Kulikov und schließlich Pekkonen, der schwerblütige Finne, seines Zeichens Vizedirektor der IAEO-Abteilung Verifikation, die weltweit die Verwendung und den Verbleib von Kernmaterial überwachte.

»Es besteht kein Zweifel am Wahrheitsgehalt der Daten«, sagte Pekkonen. »Der Sensor war mit dem modernsten Chip ausgestattet. Er kann die Signatur der Gammastrahlenemission mit einer Präzision aufzeichnen, die um ein Zehnfaches genauer ist als die des alten Modells.«

El-Baradei war kein Atomwissenschaftler, doch seine langjährige Erfahrung beim IAEO hatte ihn zu einem Grundwissen über die Prinzipien der Kernphysik verholfen. Die Emissionen radioaktiven Materials wie Uran oder Plutonium trugen eine unverwechselbare Signatur. Bei entsprechender Messung gaben diese Signaturen Auskunft über das Alter und die Anreicherung des radioaktiven Materials und, was noch entscheidender war - zumindest für ihn und die Personen, die mit ihm am Tisch saßen -, auch über seine geplante Nutzung.

Uran im Rohzustand konnte keine nukleare Reaktion hervorrufen. Dazu musste es angereichert werden. Die geläufigste Methode bestand darin, Uranhexafluorid in eine Zentrifuge zu leiten, wodurch die Isotope getrennt wurden. Um den Durchsatz zu erhöhen, wurden die Zentrifugen zu Kaskaden verbunden und parallel geschaltet, sodass das Gas von einem Zylinder in den nächsten geleitet werden konnte. Der Weg zum bestmöglichen Ergebnis war einfach: Je mehr Zentrifugen, desto schneller konnte das Uran angereichert werden.

Für die Nutzung in Atomkraftwerken musste das radioaktive Material auf dreißig Prozent angereichert werden. Um es als Kernspaltungsmaterial zu nutzen - also, um eine nukleare Reaktion auszulösen -, musste es auf dreiundneunzig Prozent angereichert werden. Auf dem Dokument, das el-Baradei vor Augen hatte, war eine Gammastrahlensignatur von unglaublichen sechsundneunzig Prozent verzeichnet.

»Der Schmetterling ist sieben Tage lang über dem Zielgebiet geflogen«, fuhr Pekkonen fort. »Während dieser Zeit hat er uns unzählige atmosphärische Messungen übermittelt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Daten alle falsch gewesen sind.«

»Aber diese Werte sind astronomisch hoch!«, erwiderte el-Baradei. »Wie konnte man das so lange vor uns geheim halten?«

»Die neue Aufbereitungsanlage wurde tief unter der Erde gebaut und als unterirdisches Lager getarnt.«

»Wenn sie so gut getarnt war, wie haben wir sie dann aufgespürt?«

Pekkonen beugte sich vor, seine blonde Stirnlocke bildete einen starken Kontrast zu seinem geröteten Gesicht. »Ein Gerücht über den Standort ist uns von einem Mitglied der amerikanischen Delegation über die Vereinten Nationen zugespielt worden. Es wurde von einer Quelle innerhalb der iranischen Regierung in Umlauf gebracht. Die Amerikaner dachten, wir könnten es vielleicht bestätigen oder widerlegen. Eines unserer Inspektorenteams hielt sich hundertsechzig Kilometer südlich im Land auf. Wir konnten den Schmetterling von dort aus entsenden und lenken, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Und das haben Sie ohne meine Zustimmung und gegen unsere Abmachung, die Aufbereitungsanlagen nur mit der Zustimmung und Kooperation unseres Gastgeberlandes zu inspizieren, in die Wege geleitet?«

Pekkonen nickte.

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte el-Baradei. »Wissen die Amerikaner schon von unserem Fund?«

»Nein, Sir.«

»Und so soll es auch bleiben.« El-Baradei betrachtete die Mienen am Tisch. »Vor einem Jahr sind wir zu dem Schluss gelangt, dass der Iran fünfhundert Zentrifugen besitzt und ein halbes Kilo Uran erfolgreich auf sechzig Prozent angereichert hat. Das reichte bei weitem nicht an das heran, was für die Herstellung von Kernwaffen gebraucht wird. Und jetzt das hier! Wie viele Zentrifugen sind denn überhaupt nötig, um zu solchen Messergebnissen zu kommen?«

»Über fünfzigtausend«, sagte Oniguchi.

»Und woher könnten sie eine derart große Menge bezogen haben? Wir reden hier wohlgemerkt nicht über einen Karton nachgemachter iPods. Hier geht’s um eine Flugzeugladung der am strengsten bewachten und regulierten technischen Geräte der Welt.«

»Zweifellos wurden sie eingeschmuggelt«, sagte Pekkonen.

»Zweifellos«, erwiderte el-Baradei. »Aber von wem? Woher? Für mich arbeiten sechshundert Inspektoren, deren Aufgabe es ist, solche Dinge im Auge zu behalten. Bis vor fünf Minuten ging ich davon aus, dass sie zu den kompetentesten Leuten ihres Fachs gehören.« Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Also? Wie viel waffenfähiges Uran besitzen sie unserer Schätzung nach?«

Pekkonen warf seinem Vorgesetzten einen nervösen Blick zu. »Sir, nach unseren Schätzungen besitzt die Republik Iran derzeit nicht weniger als einhundert Kilo angereichertes Uranium-235.«

»Einhundert? Und wie viele Bomben kann man damit bauen?«

Der Finne schluckte. »Vier. Vielleicht auch fünf.«

Mohammed el-Baradei setzte seine Brille wieder auf. Vier. Vielleicht auch fünf. Pekkonen hätte genauso gut tausend sagen können. »Bis uns ein unabhängiges Gutachten vorliegt, verliert niemand aus diesem Raum auch nur ein Wort über unsere Entdeckung.«

»Aber müssen wir das nicht weiterleiten -«, setzte Milli Brandt an.

»Kein Wort«, wiederholte el-Baradei eindringlich. »Nicht an die Amerikaner. Nicht an unsere Kollegen im Wiener Hauptquartier. Ich fordere absolutes Stillschweigen. Das Letzte, was wir brauchen können, ist irgendein … Vorfall, bevor wir die Sache bestätigt haben.«

»Aber, Sir, wir haben eine Verantwortung -«, fuhr sie fort.

»Ich bin mir über unsere Verantwortung vollkommen im Klaren. Habe ich mich unmissverständlich ausgedrückt?«

Milli Brandt nickte, doch ihr Blick verriet, dass sie zu einem anderen Schluss gekommen war.

»Die Sitzung wird vertagt.«

Während el-Baradei auf seinem Platz blieb und darauf wartete, dass die anderen den Raum verließen, lauschte er, den Kopf mit quälenden Gedanken angefüllt, auf den Wind, der an den Fenstern rüttelte. Schließlich fiel die Tür hinter dem Letzten ins Schloss. Die Stimmen verhallten. Er war allein.

Mit verschränkten Fingern starrte er in den Nachthimmel. Er war kein religiöser Mann, und doch faltete er unwillkürlich die Hände zum Gebet. Sollte die Nachricht über diesen Bericht je nach außen dringen, mussten sie mit sofortigen und verheerenden Konsequenzen rechnen.

»Gott hilf einem jeden von uns«, flüsterte er. »Das würde den nächsten Krieg bedeuten.«

Reich, Christopher
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