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Um ein Uhr Mittags verließ Sepp Steiner, der Leiter der Davos Rettungsstation, sein Büro auf dem Gipfel des 2590 Meter hohen Jakobshorn und trat ins Freie. Die Wetterstation hatte ein vom Süden aufziehendes Hochdruckgebiet prognostiziert, doch im Moment war der Himmel noch bedeckt und so unheilverkündend wie zuvor.

Er ging zum äußeren Ende der Station und warf einen prüfenden Blick auf das Barometer. Der Zeiger verharrte unbeweglich auf 880 Millibar. Temperatur: -4° Celsius. Er klopfte mit dem Finger auf das Glas, und der Zeiger sprang auf 950.

Steiner blickte auf und betrachtete die Wolken. Seit drei Tagen ähnelte der Himmel einer ruhiger gewordenen See. Heute Morgen war jedoch eine Veränderung zu erkennen. Statt des durchgehenden Grautons konnte er einzelne Wolken ausmachen. Die Luft war deutlich trockener. Der Wind hatte aufgefrischt, wehte aber aus einer anderen Richtung. Er kam von Süden.

Eilig ging Steiner zurück ins Büro und schnappte sich sein Fernglas - ein Nikon 8 x 50 -, mit dem er, wie seine Kollegen scherzhaft behaupteten, wie ein Panzerkommandant aussah. Mit dem Fernglas betrachtete er die Berge vom Osten bis zum Westen. Zum ersten Mal seit einer Woche konnte er die Gipfel über Frauenkirch erkennen. Beim Furka hielt er inne und betrachtete die Romansschanze, jene beinahe senkrechte Abfahrtsschanze, auf der sein älterer Bruder vor so langer Zeit ums Leben gekommen war. Die Engländerin war immer noch dort, tief in der Gletscherspalte vergraben. Steiner hätte nicht gewollt, dass seine eigene Frau auf immer und ewig im Eis liegen bleiben müsste.

In diesem Augenblick ließ der Wind nach. Direkt über seinem Kopf riss die Wolkendecke auf, und ein tiefblauer Himmel lachte herab. Er lief die paar Schritte zur Wetterstation zurück. Das Thermometer zeigte -2°. Die Hochwetterfront schickte ihre Vorboten voraus.

Steiner betrat das Büro, schaltete sein Funkgerät an und alarmierte seine Männer.

Es war an der Zeit, zur Romansschanze zurückzukehren.

Drei Stunden später erreichte Steiners Team die Bergkuppe, an der Emma Ransom zuletzt gesehen worden war. Sie waren auf einer anderen Route zu der Stelle gelangt, die nur bei schönem Wetter von Alpinisten und Eiskletterern genutzt wurde. Es war eine Abkürzung, aber deutlich steiler und mit zwei senkrechten Steilhängen von jeweils zwanzig Metern.

Die letzten Anzeichen des Sturms, der fünf Tage lang über dem ganzen Land gewütet hatte, waren verschwunden. Überall erstrahlte blauer Himmel, und die Nachmittagssonne brannte hernieder. Ein riesiges Schneefeld glitzerte wie ein Meer von tausend ungeschliffenen Diamanten.

Steiner blickte zum Berg hinauf. Von dem Überlebenskampf, der hier noch vor wenigen Tagen stattgefunden hatte, war nichts mehr zu sehen. Und auch auf die Stelle, unter der die Gletscherspalte lag, wies nichts mehr hin.

Er befahl seinen Männern, sich in einer langen Reihe aufzustellen. Jeder von ihnen trug einen zwei Meter langen Stecken, mit dem er den Untergrund vor sich abtastete. Schritt für Schritt suchten sie das Gebiet ab und stießen auf der Suche nach festem Untergrund ihre Stöcke in den Schnee. Es war Steiner selbst, der schließlich die Gletscherspalte wiederfand, als er seinen Stecken in den Schnee rammte und dieser darin versank.

Eine Viertelstunde später hatten seine Männer eine zehn Meter breite Stelle vom Schnee befreit, über die sie auf direktem Wege bis zum Spalt vordringen konnten. Die Ränder der Gletscherspalte wurden mit Flaggen gekennzeichnet, während Steiner das Anbringen der Sicherheitsleinen überwachte. Er selbst würde hinabklettern und den Leichnam bergen. Nachdem er die Gurte und Knoten ein letztes Mal überprüft hatte, schaltete er seine Grubenlampe an und rief: »Fertig zum Abstieg.« Während er das Seil zwischen seinen Fingern hindurchgleiten ließ, kletterte er rückwärts in die Spalte hinab.

In der Gletscherspalte war die Luft deutlich kühler. Während seines Abstiegs verwandelten sich die Eiswände in Felsablagerungen. Das Licht von oben wurde immer schwächer. Bald schon fand er sich in einem düsteren Naturspektakel wieder, das nur vom Schein seiner Halogenleuchte erhellt wurde.

Nachdem er eine Seillänge in die Felsspalte hinuntergelassen worden war - genau vierzig Meter tief -, entdeckte er den Körper. Die Frau lag auf dem Bauch und hatte einen Arm über dem Kopf ausgestreckt, als riefe sie um Hilfe. Die Spalte wurde breiter, und er seilte sich noch schneller ab, wie ein Stein, der gleichmäßig und unaufhaltsam in einem Teich versinkt. Als er den Felsvorsprung erreicht hatte, konnte er das Bergwachtkreuz auf der Jacke und die rotbraune Haarmähne erkennen, die das Gesicht der Frau bedeckte.

Seine Füße landeten auf felsigem Untergrund.

»Ich bin unten«, gab er per Funk an seine Crew durch.

Im dämmrigen Licht wirkte die Frau zerbrechlich und friedvoll. Das Blut hatte um ihre Beine und ihren Kopf Pfützen gebildet. Er griff in seinen Rucksack und holte einen Körpergurt, etliche Karabiner und eine Skimütze für das Gesicht der Frau hervor, um es beim Herausziehen des Körpers aus der Spalte vor Schrammen zu schützen. Danach arrangierte er alles in einer Reihe neben ihrem Körper, kniete sich hin und betete in einem persönlichen Ritual für die Verstorbene.

Schließlich schob er beide Hände unter den Körper der Frau, hob den Leichnam an und drehte ihn auf den Rücken. So war es leichter, den Gurt an ihrem Körper zu befestigen. Im gleichen Moment fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Das lange, lockige Haar fiel herab. Felsen und Schnee rutschten zu Boden. Wie angewurzelt stand er mit der leeren Jacke in der Hand da und starrte auf die Hose, die noch auf dem Boden lag.

Lautlos öffnete Steiner den Mund.

Von einem Leichnam fehlte jede Spur.

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