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Jonathan hangelte sich von Schatten zu Schatten und flüchtete sich von dunklen Ecken und Kellereingängen in abgelegene Gassen und menschenleere Durchgänge. Sein Kopf schmerzte von der Explosion, und er war sich sicher, dass er sich ein paar Rippenprellungen zugezogen hatte. Aber er war entwischt, und das Gefühl von Freiheit wirkte auf ihn wie lindernder Balsam. Er hatte nur ein Ziel vor Augen: Die Stadt auf schnellstem Wege zu verlassen.
Er beschloss, eine Seitenstraße hinunterzugehen, die mit schwarz glänzendem Eis überzogen war. Er wollte so schnell wie möglich aus dem Zentrum heraus. Inzwischen patrouillierten auf den Gehwegen sogar noch mehr Polizisten als bei seiner Ankunft in Davos, falls das überhaupt möglich war. Und so verging keine Minute, ohne dass ein Soldat oder Polizist aus dem Nichts auftauchte und an ihm vorbei den Hügel hinaufeilte. Die schwarze Rauchsäule zog sie an wie das Licht die Motten. Die Sicherheitsmannschaften strömten in die rote Zone wie in der Schlacht am Little Bighorn im Jahr 1876.
Er kam an mehreren Häusern, einer Autowerkstatt und einem Elektroladen vorbei. Es fiel ihm schwer, sich unauffällig zu verhalten. Einerseits wollte er rennen, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, andererseits wollte er sich am liebsten in einem Kellerloch verkriechen und vor aller Welt verstecken. Am schlimmsten war der übermächtige Drang, sich dauernd nach Verfolgern umzudrehen. Etliche Male war er fest davon überzeugt, dass ihm jemand auf den Fersen war, doch jedes Mal, wenn er einen prüfenden Blick über die Schulter warf, konnte er niemanden dort entdecken.
Er überquerte die Straße und schlug einen Wanderweg ein, der an mehreren Chalets vorbeiführte. Am Fuße des Hügels wurde der Pfad breiter. Auf der linken Seite befand sich ein Eishockeystadion, zu seiner Rechten führte eine Trasse zum Bahnhof. Etliche Polizeiautos parkten neben den Schienen. Er konnte Davos nicht mit dem Zug verlassen.
Welchen Weg sollte er nehmen? Je größer die Straße, desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit, auf Polizisten zu stoßen. Er brauchte mehr Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Er sprang über einen niedrigen Zaun, der an einen breiten Verschlag grenzte. Durch die Wände drang der Gestank von Dung zu ihm durch. Während er zur Rückseite des Stalls lief, lauschte er auf die Geräusche der Kühe, die darin standen.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Da war es wieder. Dieses unangenehme Gefühl im Nacken. Er war fest davon überzeugt, dass ihn jemand beobachtete.
Er presste sich mit dem Rücken an die Wand, lugte um die Ecke und starrte auf den Weg, den er gerade entlanggekommen war. Wieder konnte er niemanden entdecken.
Er lehnte den Kopf zurück und versuchte, sich zu beruhigen. Dann holte er den USB-Stick aus seiner Tasche. Hier war es: sein Ticket in die Freiheit. Doch eine Frage blieb unbeantwortet: Wer konnte ihm das Ticket ausstellen?
Er riss sich zusammen und plante seine nächsten Schritte. Er musste einen Unterschlupf finden, in dem er bis zum Abend warten konnte, und anschließend würde er den Berg besteigen. Die meisten Vorträge waren auf die Zeit nach sechs Uhr festgelegt. Viele der Besucher wären im Kongresshaus; die Stadt würde ruhiger werden und hoffentlich mit weit weniger Polizisten bevölkert sein. Wenn er erst einmal die Promenade hinter sich gelassen hätte, würde er leichter vorankommen. Der Zaun, der um die Stadt herum errichtet worden war, war nicht einmal zwei Meter hoch. Er hätte ihn in wenigen Sekunden überwunden. Indem er sich durch die Berge schlug, könnte er das Tal meiden. Gegen Morgen wäre er in Landquart, wo alles angefangen hatte. Von dort aus könnte er einen Zug nehmen oder per Anhalter nach Zürich fahren.
Er erstarrte. Dieses Mal war er sich absolut sicher, dass ihn jemand beobachtete.
Als er sich zum Weg umwandte, sah er sich von Angesicht zu Angesicht einem Mann gegenüber, der etliche Zentimeter kleiner war als er. Der Andere trug einen dunklen Skianzug, doch Jonathan war sich sicher, dass er keinen Skifahrer vor sich hatte. Die schwarzen Augen des Mannes studierten ihn prüfend, als wäre Jonathan ihm eine Antwort schuldig geblieben. Jonathan erkannte das Gesicht auf Anhieb. Es war der Mann aus dem Autozug.
Der Arm des Killers schoss nach vorne. Er hielt ein langes Messer in der Hand. Jonathan wich nach rechts aus und stieß den Angreifer heftig zur Seite. Ein Messer. Natürlich, dachte er. Niemand wäre mit einer Schusswaffe durch die Straßensperre gekommen. Durch den Schwung stieß der Killer sein Messer in die Wand und sackte auf die Knie.
Jonathan dachte nicht daran, sich auf einen Zweikampf einzulassen. Genau das hatte er in den letzten Tagen zweimal gemacht, und zweimal war er dabei verletzt worden. Soweit es ihn betraf, stand es zwei zu null für die Anderen.
Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen.
Er ließ den Kuhstall hinter sich und bog zwischen der Hütte und der angrenzenden Scheune ab. Nach etwa hundert Metern erreichte er eine Kreuzung. Er entschied sich für den Weg, der bergauf führte. Vor sich erkannte er Autos und Fußgänger, die sich auf der Davosstraße tummelten. Er warf einen Blick zurück über die Schulter. Die Straße war menschenleer. Der Killer war verschwunden. Jonathan verlangsamte seinen Schritt.
Zwei Streifenwagen parkten am Ende des Wohnblockes. Hinter ihnen befand sich der Sicherheitszaun, der mit Stacheldraht gesichert war. Er war an einem Kontrollpunkt angelangt, der den Übergang von der grünen in die rote Zone markierte.
Jonathan huschte hinter die Garage einer Getränkelieferungsfirma. Hier lagerten reihenweise Bierfässer, immer vier von ihnen übereinandergestapelt. Er duckte sich in das Durcheinander aus Fässern und Kisten, kroch mal hierhin und mal dorthin, bis er sich schließlich in einer Sackgasse wiederfand. Für den Augenblick befand er sich in Sicherheit.
Er zog den Mantel fester um sich und ging im Geiste die Möglichkeiten durch, die ihm noch blieben. Es waren frustrierend wenige. Er konnte nicht länger auf die Dunkelheit warten. Der Killer hatte ihn bereits einmal aufgespürt, es würde ihm wieder gelingen. Sich zu verstecken, war keine Lösung. Zusammengekauert im Schatten sitzend, fing Jonathan an zu frösteln.
Wenn er doch nur bis zum frühen Abend warten könnte … bis die Vorträge …
Sein Freund Paul Noiret sollte heute Abend einen Vortrag über die Ausbeutung der Dritten Welt halten. Und wenn Paul hier war, dann war auch Simone nicht weit.
Mit einem Ruck richtete er sich auf, zog das Handy von Blitz aus der Tasche und wählte.
»Allo?«
»Simone«, sagte er atemlos. »Ich bin’s, Jonathan.«
»Mein Gott, wo bist du?«
»In Davos. Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wo bist du?«
»Ich bin natürlich auch hier. Mit Paul. Bist du in Sicherheit?«
»Im Augenblick schon. Aber ich muss so schnell wie möglich hier weg.«
»Warum? Was ist passiert? Du klingst ziemlich verängstigt.«
»Siehst du die Rauchsäule in der Nähe des Belvedere?«
»Ja, ich kann sie von unserem Hotel aus erkennen. Hast du die Explosion gehört? Paul und ich sind uns einig, dass es eine Bombe gewesen sein muss. Er will nicht, dass ich das Hotel verlasse.«
»Es war wahrscheinlich wirklich eine Bombe.«
Je länger Jonathan darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass der Benzintank des Mercedes explodiert sein sollte. Ein halbvoller Tank hätte niemals eine so gewaltige Explosion verursachen können, die ihn irgendwie an einen Artillerieeinschlag erinnerte. Der Wagen war so manipuliert worden, dass er explodieren musste. Er wusste nicht, was die Detonation letztlich ausgelöst hatte oder warum den Polizisten an der Straßensperre die Sprengladung nicht aufgefallen war. Er wusste nur, dass die Explosion den Motorblock eines gepanzerten Wagens in die Luft gejagt und die Motorhaube so verbeult hatte, dass sie wie ein kaputtes Zelt aussah.
»Willst du damit sagen, dass du etwas darüber weißt?«, fragte Simone.
»Ich war nur wenige Sekunden vor der Explosion in dem Wagen. Simone, ich brauche deine Hilfe. Ist Paul mit dem Auto gekommen?«
»Ja, aber …«
»Hör mir einfach nur zu. Wenn du mir nicht helfen kannst oder willst, dann kann ich das verstehen.« Jonathan zwang sich dazu, langsam zu sprechen. »Ich brauche deine Hilfe, um aus der Stadt rauszukommen. Ich muss nach Zürich. Wenn du sofort aufbrichst, kannst du es rechtzeitig zurück zu Pauls Vortrag schaffen.«
»Und was soll ich ihm sagen?«
»Sag ihm die Wahrheit.«
»Aber ich kenne die Wahrheit nicht.«
»Ich werde dir alles im Auto erklären.«
»Jon, du bringst mich in eine schwierige Lage. Ich hatte dir gesagt, dass du das Land verlassen sollst.«
»Ich verlasse die Schweiz, sobald ich beim US-Konsulat war.«
»Beim US-Konsulat? Aber weshalb? Die werden dich nur an die Schweizer Polizei ausliefern.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich habe etwas, womit ich vielleicht etwas Zeit gewinnen kann.«
»Wovon sprichst du? Hast du doch noch deinen Beweis gefunden?«
»Das ist doch jetzt egal«, fuhr er sie ungeduldig an. »Hilfst du mir?«
»Ich kann Paul nichts sagen. Er würde es mir verbieten.«
»Wo ist er gerade?«
»Bei seinen Kollegen. Sie bereiten sich auf seine Rede vor.«
»Tu es für Emma.«
»Wo bist du?«
»Nimm die Davosstraße, bis du an der Touristeninformation vorbeikommst. Biege dann links ab und fahr den Hügel hinunter. Am Ende der Straße findest du auf der linken Seite eine alte Scheune mit einem Trog auf der Vorderseite und einem rostigen Traktor auf der Rückseite. Dort warte ich auf dich.«
Simone zögerte. »In Ordnung. Ich bin in fünf Minuten dort.«
Der silberfarbene Renault hielt pünktlich zur verabredeten Zeit neben der Scheune. Simone ließ das Seitenfenster herunter. »Jon«, rief sie. »Wo bist du?«
Jonathan antwortete nicht sofort, beobachtete stattdessen die Straße, die sie gerade heruntergekommen war. Er wollte sichergehen, dass ihr niemand gefolgt war. Obwohl er weit und breit kein Auto entdecken konnte, verharrte er noch einige Zeit in seinem Versteck. Er war sich sicher, dass der Killer irgendwo auf der Lauer lag.
Schließlich kam er aus der Hütte auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und rannte zum Auto. »Mach den Kofferraum auf«, zischte er, nachdem er an das Seitenfester auf der Beifahrerseite geklopft hatte.
Simone zuckte in ihrem Sitz zusammen.
»Beeil dich«, sagte er. »Jemand ist mir auf den Fersen.«
»Wer? Wo ist er? Kannst du ihn sehen?«
»Ich weiß nicht genau, wo er steckt, aber er ist irgendwo in der Nähe.«
»Ich hab gehört, dass ein iranischer Minister im Auto war, als es explodierte. Parvez Jinn. Er war der wichtigste Redner des heutigen Abends.«
Jonathan nickte. »Den Kofferraum«, sagte er.
»Erzähl mir, auf was ich mich hier gerade einlasse.«
»Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Nun mach schon. Beeil dich!«
Simone dachte einen Moment über Jonathans Worte nach und gab ihm dann zu verstehen, dass sie ihm helfen würde. Einen Moment später hatte sie den Kofferraum geöffnet.
»Du kannst mich in Landquart rauslassen«, sagte er. »Dann erkläre ich dir alles.«
Mit diesen Worten lief er zur Rückseite des Wagens, legte sich in den Kofferraum und zog die Klappe über sich zu.