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Marcus von Daeniken kehrte kurz nach elf in sein Haus zurück. Unter dem Arm trug er zwei langstielige, in Papier eingewickelte Rosen. Er durchquerte die dunklen Flure bis zur Küche, in der eine einsame Lampe über dem Tisch brannte. Dort legte er die Blumen ab und warf seine Waffe und sein Portemonnaie auf den Küchentresen. Ein Gähnen unterdrückend öffnete er den Kühlschrank und holte eine Flasche Bier heraus. Im mittleren Fach lagen ein Schinkensandwich, ein Teller mit Kartoffelsalat und ein Zitronenkuchen. Alles war ordentlich in Frischhaltefolie eingewickelt. Auf einem Zettel erinnerte ihn seine Haushälterin daran, die Reste wieder zurück in den Kühlschrank zu legen. Er hängte seine Jacke über eine der Stuhllehnen, krempelte die Ärmel hoch und wusch sich am Spülbecken die Hände. Nachdem er das Sandwich gegessen hatte, stellte er den Kartoffelsalat und den Zitronenkuchen, die er beide nicht angerührt hatte, pflichtbewusst in den Kühlschrank zurück.
Von Daeniken lebte allein in einem riesigen Chalet, am Fuße der Berge außerhalb von Bern. Für einen Junggesellen war das Haus viel zu groß. Es hatte seinem Vater, Großvater und so weiter gehört und war schon seit dem neunzehnten Jahrhundert in Familienbesitz. Er hasste es, allein zu leben, aber er hasste die Vorstellung umzuziehen noch viel mehr. Und so hatte er sich im Laufe der Jahre an die hallenden Flure, die bedrückende Stille und die unbeleuchteten Räume gewöhnt.
Er drehte sich wieder zum Tisch um und wickelte die Rosen aus dem Papier. Sorgfältig schnitt er die Stiele zurecht und stellte sie in eine mundgeblasene Glasvase, eine der beiden, die er in seinen Flitterwochen in der berühmten Fabrik von Murano gekauft hatte. Ja, er war mal verheiratet gewesen. Er hatte eine Tochter gehabt, und seine Frau war mit ihrem zweiten Kind - wieder einem Mädchen - schwanger gewesen. Damals war ihm das Haus noch nicht zu groß vorgekommen. Und doch hatte seine Frau ihn nach ihrer Hochzeit darum gebeten, es zu verkaufen. Sie war Anwältin in Genf gewesen, hochmotiviert, ungestüm und brillant auf ihrem Gebiet. In ihren Augen war das Haus ein Relikt, genauso uninspiriert und altmodisch wie die Zeit, in der es erbaut worden war. Er war anderer Meinung gewesen. Sie hatten nie die Gelegenheit gehabt, ihre Meinungsverschiedenheit beizulegen.
Von Daeniken schaltete das Licht im Wohnzimmer an. Über dem Kamin stand ein Foto. Es zeigte seine Frau und seine Tochter. Zwei Blondinen, Marie-France und Stephanie - zwei Menschen, die er vor fünfzehn Jahren bei einem Flugzeugunglück verloren hatte. Er tauschte die Rosen vom gestrigen Tag gegen die frischen aus, setzte sich in einen alten Lehnstuhl und trank einen Schluck Bier. Dann nahm er die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher ein. Zum Glück wurde der gescheiterte Zugriff nicht in den Spätnachrichten erwähnt. Er zappte weiter und verweilte einige Zeit beim französischen Literaturprogramm. Er machte sich nichts aus Literatur, weder aus französischer noch aus anderssprachiger, aber er liebte die Moderatorin, eine umwerfende Brünette mittleren Alters. Er schaltete den Ton ab und betrachtete sie eine Weile. Perfekt. Jetzt fühlte er sich nicht mehr allein.
Das Fernsehen war nicht so unberechenbar wie das wahre Leben. Im Laufe der Jahre hatte er viele erste Dates gehabt, deutlich weniger zweite und nur zwei Beziehungen, die länger als sechs Monate gedauert hatten. Beide Frauen waren attraktiv, intelligent und recht gut im Bett gewesen. Doch keine hatte dem Vergleich mit seiner Frau standhalten können. Sobald ihm das klar geworden war, hatten die Beziehungen darunter gelitten. Anrufe blieben unbeantwortet, die Treffen wurden seltener. Immer häufiger sagte er Verabredungen in letzter Minute wegen eines Falles ab. Beide Frauen hatten nicht lange gebraucht, um die unterschwellige Botschaft zu verstehen. Seltsamerweise waren die Trennungen bitterer für ihn gewesen, als er gedacht hatte.
Sein Handy klingelte. »Ja?«
»Widmer. Zürcher Kantonspolizei. Wir haben da einen Vorfall. Mord in Erlenbach. Goldküste. Profi-Arbeit.«
Von Daeniken schwang sich aus dem Lehnstuhl und schaltete den Fernseher aus. »Und was hab ich damit zu tun? Das hört sich für mich nach einem Fall für die Kriminalpolizei an.«
Doch er war bereits auf dem Sprung. Kurz darauf stand er in der Küche und schüttete das kalte Bier in die Spüle. Dann befestigte er das Pistolenhalfter an seinem Gürtel, zog die Jacke an und steckte das Portemonnaie ein.
»Das Opfer wurde bei ISIS geführt«, erklärte Widmer. »Die Akte trägt den Vermerk ›Streng geheim‹ und enthält lediglich die Information, dass der Mann vor zwanzig Jahren mal verhört worden ist.«
»ISIS« war die Abkürzung für das »Informatisiertes Staatsschutz-Informations-System« - eine Datenbank der Schweizer Bundespolizei, in der über fünfzigtausend Personen erfasst waren, die im Verdacht standen, Terroristen, Extremisten oder Mitglieder eines freundlich oder feindlich gesinnten ausländischen Geheimdienstes zu sein.
»Und wer ist der Glückspilz?«, fragte von Daeniken und nahm seine Autoschlüssel zur Hand.
»Er heißt Lammers. Holländer. Ausländerausweis C. Dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Lebt seit fünfzehn Jahren hier.« Widmer hielt kurz inne, und in seiner Stimme lag ein angespannter Unterton. »Aber da ist noch etwas. Etwas, das Sie sich vielleicht selbst ansehen wollen.«
»Ich bin in neunzig Minuten da.«
Von Daeniken benötigte nur fünfundachtzig Minuten für die hundertzehn Kilometer lange Reise. Er stieg aus dem Wagen, überquerte vorsichtig den vereisten Bürgersteig und duckte sich unter dem im Wind flatternden Polizeiabsperrungsband hindurch. Ein Beamter der Kantonspolizei sah ihn kommen und nahm sofort Haltung an. »Guten Abend, Sir.«
Von Daeniken klopfte ihm auf die Schulter. »Ich suche Hauptmann Widmer.«
»Da oben«, sagte der Beamte und zeigte auf die Garage.
Von Daeniken ging die Auffahrt hinauf und auf eine Reihe mobiler Scheinwerfer zu, die um den Tatort herum aufgestellt worden waren. Das Opfer wurde mit mehreren Tausend-Watt-Birnen bestrahlt, als läge es am Tahiti Beach in Saint-Tropez. Von Daeniken warf einen Blick auf die Leiche und sah gleich wieder weg. »Der hat ganze Arbeit geleistet«, murmelte er.
Der kahlköpfige, breitschultrige Mann, der neben dem Toten kniete, blickte auf. »Drei Schüsse in den Kopf, einen in die Brust«, sagte Walter Widmer, der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen bei der Zürcher Kantonspolizei. »Kleines Kaliber. Dumdum-Geschoss, nach der Verwüstung zu urteilen, die es angerichtet hat. Wer auch immer das getan hat, er ist kein Risiko eingegangen.«
»Denken Sie immer noch, dass hier ein Profi am Werk war?«
»Na ja … Keine Patronenhülsen. Keine Zeugen.« Widmer erhob sich und runzelte die Stirn. »Wir nehmen an, dass der Schütze den automatischen Schaltmechanismus der Garagentür gestört hat, um Lammers dazu zu bewegen, aus dem Wagen zu steigen. Wonach sieht das für Sie aus?«
Von Daeniken verließ mit raumgreifenden Schritten den Tatort. Der Anblick des völlig entstellten Kopfes des Opfers würde ihn noch tagelang verfolgen.
Marcus von Daeniken war kein Beamter der Mordkommission. Tatsächlich hatte er herzlich wenig Erfahrung mit Tötungsdelikten. Er hatte eine andere berufliche Laufbahn eingeschlagen. Nach vierjähriger Tätigkeit als Infanterieoffizier hatte er ins Dezernat für Wirtschaftskriminalität bei der Bundespolizei gewechselt. Er war die Karriereleiter nur langsam emporgeklettert. Dafür hatte er jahrelang Betrugs- und Falschgelddelikte sowie Fälle von Geldwäsche untersucht, die heilige Dreifaltigkeit des Schweizer Bankwesens. Vor zehn Jahren schließlich war ihm der große Durchbruch gelungen, als er sich als Vertreter des Bundes einer Schweizer Sonderkommission anschloss, welche die Schadensersatzforderung von Naziopfern zu bearbeiten hatte.
Zusammen mit den Vorständen der größten Schweizer Banken, ausländischen Diplomaten und unzähligen Opfervertretungen hatte er daran mitgewirkt, Lösungen zu erarbeiten, die für alle Beteiligten akzeptabel waren: für die Schweizer Regierung, die Schweizer Banken, den Jüdischen Weltkongress, das Weiße Haus, die Deutsche Regierung und zu guter Letzt für die Geschädigten selbst. Zur Belohnung hatte er einen Posten beim Dienst für Analyse und Prävention, dem Inlandnachrichtendienst der Schweiz, erhalten.
»Was ist mit der Ehefrau?«, fragte er und wies auf das Panoramafenster, von dem aus die Garage gut zu überblicken war. »Hat sie irgendwas gesehen?«
Widmer schüttelte den Kopf. »Sie ist ‘ne harte Nuss. Kommt ursprünglich von den Molukken. Behauptet, sie hätte zusammen mit den Kindern ferngesehen, als der Mord geschah. Sie sagt, sie hätte zwar mitbekommen, wie der Wagen die Auffahrt hochfuhr, wäre aber erst rausgegangen, um nach ihrem Mann zu sehen, als sie die Garagentür nicht hörte. Sie schwört, dass es nur zwei Minuten später war. Ich hab ihr die üblichen Fragen gestellt. Hatte der Ehemann Feinde? Hat er in letzter Zeit irgendwelche Drohungen erhalten? Ist in den vergangenen Tagen was Ungewöhnliches vorgefallen? Sie beteuert, es wäre alles in Ordnung gewesen.«
»Glauben Sie ihr?«
»Ich glaube niemandem«, sagte Widmer.
»Vielleicht kannte Lammers den Killer? Hat vielleicht deshalb das Garagentor nicht geöffnet? Ein kleines Treffen, das im Voraus vereinbart worden war?«
»Das bezweifle ich. Wir haben Fußspuren hinter dem Holzstapel gefunden. Ich vermute, dass sich der Killer dort versteckt und auf sein Opfer gewartet hat. Haben Sie auf der Fahrt hierher was über Lammers in Erfahrung bringen können?«
»Nur dass die belgische Polizei ihn 1987 wöchentlich überwacht hat. Als Lammers in die Schweiz zog, haben sie uns die Akten zukommen lassen. Wir haben ihn natürlich in die ISIS-Datenbank aufgenommen. Es gibt noch mehr über ihn, aber das befindet sich im Archiv, und da komme ich nicht vor morgen ran. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass er sich seit seinem Umzug nach Zürich vorbildlich und gesetzestreu verhalten hat. Er zahlt seine Steuern. Kam nie mit dem Gesetz in Konflikt. Bei ISIS führen wir haufenweise Leute wie ihn. Sie wissen schon … Leute, die sich offiziell nichts zuschulden haben kommen lassen, bis jetzt jedenfalls.«
»Na ja, irgendwas hat er sich anscheinend doch zuschulden kommen lassen. Kommen Sie mal mit ins Haus.«
Widmer führte von Daeniken die Auffahrt hinauf und ins Haus. Im Foyer bog er unvermittelt ab und stieg mehrere Stufen hinab, die zu einigen Kellerräumen weitab von der Garage führten. »Einer meiner Leute musste zur Toilette. Die Dame des Hauses schickte ihn hier runter, damit er keinen Dreck durchs Haus trägt. Der Kollege hat sich hier unten … na ja, verirrt und ist dabei zufällig im Werkraum gelandet.«
Von Daeniken kam am Badezimmer vorbei. Die Tür stand offen, und der Raum war hell erleuchtet. Er folgte Widmer weiter den Flur hinunter. »Stimmt, hier kann man sich leicht verlaufen …«
Widmer schaltete das Licht im Raum am Ende des Flures ein. Die Werkstatt war ein Traum aus funkelndem Stahl. Eine makellose Werkbank aus Stahl, ein makelloses Werkzeugregal aus Stahl, so blitzblank, als wäre alles gerade erst aus der Fabrik geliefert worden. Und doch war dies kein Raum für einen Sonntagsbastler. Vom typischen Heimwerkerbedarf fehlte jede Spur. Stattdessen fand sich hier eine stattliche Zahl von Hightech-Geräten, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie das Betätigungsfeld eines professionellen Ingenieurs vor sich hatten.
Auf einem nahestehenden Tisch lag ein Gefrierbeutel mit mehreren Reisepässen.
»Was haben wir denn hier?«, fragte von Daeniken.
»Die hat mein Kollege in der obersten Schublade gefunden.«
»Hat der darin nach Toilettenpapier gesucht, oder was?«
Widmer rümpfte die Nase und hob eine Augenbraue. Das war für von Daeniken Antwort genug. Der Beamte hatte eine schnelle und nicht ganz saubere Durchsuchung der Räume vorgenommen. Die Beweisstücke waren damit unzulässig, aber was machte das schon? Lammers würde ohnehin nicht mehr vor Gericht aussagen können.
»Holland. Belgien. Neuseeland.« Von Daeniken durchblätterte nacheinander alle Reisepässe. »Ein richtiger Weltenbummler, unser Herr Lammers, was? Hat Ihr Kollege zufällig noch mehr gefunden?«
»Unter dem Schrank«, erwiderte Widmer. »Sieht so aus, als ob Lammers sich durchaus darüber bewusst war, dass er ein paar Feinde hatte. Ach, und seien Sie vorsichtig. Sie ist geladen.«
Von Daeniken ging in die Hocke und steckte seinen Kopf in den Spalt unter der Werkbank. An der hinteren Wand war eine Uzi-Maschinenpistole befestigt. Er fühlte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Versuchen Sie rauszufinden, wer ihm die Waffe verkauft hat«, sagte er, während er wieder aufstand und die Pässe einsammelte. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich die an mich nehme.«
»Ich brauche aber einen Beleg von Ihnen«, sagte Widmer.
Von Daeniken quittierte ihm die Reisepässe und riss den Zettel aus seinem Notizheft. »Das sollte genügen. Jetzt haben Sie was, das Sie Frau Lammers fragen können. Sagen Sie ihr, dass wir sie und ihre Kinder in vierundzwanzig Stunden zum Verhör auf die Wache schaffen lassen, wenn sie uns nicht zufriedenstellend Auskunft darüber gibt, warum ihr Mann so viele verschiedene Identitäten besaß. Wir werden sehen, wie zugeknöpft sie sich dann noch gibt.«
»Ist das nicht ein bisschen hart?«, fragte Widmer. »Ich meine, schließlich war ihr Mann das Opfer.«
Von Daeniken knöpfte seinen Mantel zu und trat durch die Tür. »Das Opfer?« Seine Miene wurde steinhart. »Ein Mann mit drei Reisepässen und einer geladenen Uzi im Keller ist alles andere als ein Opfer. So einer ist entweder ein Krimineller oder ein Spion.«