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»Ist er es?«
Von Daeniken verglich das Foto, auf dem Gottfried Blitz neben der Drohne stand, mit dem entstellten Gesicht zu seinen Füßen. »Sag du es mir.« Er drückte Kurt Meyer das Foto in die Hand und drehte sich weg, bevor ihm die Übelkeit bis in die Kehle steigen konnte.
»Gleicher Pulli. Gleiche Augen. Er ist es.« Auf dem Teppich kauernd betrachtete Meyer den Leichnam mit den wissbegierigen Augen des Experten. »Er wurde auf dem Stuhl sitzend ermordet und anschließend auf den Boden gelegt. Der Schuss muss aus Hüfthöhe heraus abgefeuert worden sein … mit nach unten gerichtetem Lauf, sodass sich das Gehirn von Blitz über Schreibtisch und Wand verteilte.«
Mit einem Füller deutete er auf die Schießpulverspuren, die sich in die Haut eingebrannt hatten. »Schau dir den Pulverkranz und die Wundmale an. Der Schütze stand nur dreißig Zentimeter vom Opfer entfernt, als er die Waffe abfeuerte. Blitz wusste vermutlich nicht mal, dass er dort war. Er hat bis zum letzten Moment an seinem Laptop gearbeitet.«
Doch von Daeniken interessierte sich mehr für etwas, das Meyer anfänglich erwähnt hatte. »Warte mal ‘ne Sekunde, Kurt. Was meinst du mit anschließend auf den Boden gelegt‹? Willst du damit sagen, der Mörder hat ihn erschossen und danach auf den Teppich gebettet? Hat er auch die Handtücher angeschleppt?«
»Na ja, irgendjemand hat’s getan. Und Herr Blitz war es jedenfalls nicht.« Meyer hielt prüfend eine Hand auf die neben der Leiche gestapelten Handtücher. »Noch warm.«
Die Männer wechselten einen beunruhigten Blick.
Auf der Straße ertönten erneut näher kommende Sirenen. Türen wurden zugeschlagen. Im Flur entstand Unruhe. Kurz darauf betraten zwei Rettungssanitäter das Arbeitszimmer.
»Das war wirklich schnell«, bemerkte Daeniken, als die Männer eintraten.
»Haben Sie uns angerufen?«, fragte einer der Sanitäter. »Die Zentrale meinte, es war ein Amerikaner.«
»Ein Amerikaner?« Von Daeniken wechselte erneut einen Blick mit Meyer. »Wie viel Zeit ist seit dem Anruf des Amerikaners vergangen?«, fragte er den Sanitäter.
»Zwölf Minuten. Der Anruf ging um sechs Minuten nach neun bei uns ein.«
»Das war er«, sagte Meyer. »Ransom.«
Von Daeniken nickte und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Während der Fahrt vom Hubschrauberlandeplatz hatte er Signor Orsini, den Bahnhofsleiter, angerufen und eine Beschreibung des Mannes erbeten, der am Morgen bei ihm aufgetaucht war, sich für einen Polizeibeamten ausgegeben und sich erkundigt hatte, wer zwei bestimmte Gepäckstücke nach Landquart aufgegeben hatte. Orsinis Beschreibung stimmte haargenau mit der eines Zeugen überein, der das Verbrechen in Landquart beobachtet hatte. Die Polizei hatte sogar einen Namen: Dr. Jonathan Ransom. Ein Amerikaner. Und es gab noch mehr: Ransoms Frau war vor zwei Tagen bei einem Unfall in den Bergen bei Davos ums Leben gekommen.
»Falls es Ransom war, der angerufen hat«, sagte er zu Meyer, »dann würde das die Handtücher erklären. Er ist Arzt.«
Leutnant Conti, der ihr Gespräch verfolgt hatte, warf den Kopf in den Nacken und hob in einer theatralischen Geste die Hände. »Aber warum sollte Ransom Blitz zuerst erschießen und dann den Krankenwagen rufen, um ihm das Leben zu retten?«
Wieder sah von Daeniken zu Meyer hinüber. Keiner der Männer wollte sich im Moment näher mit dieser Frage befassen.
Von Daeniken ging zum Schreibtisch und drückte ein paar Tasten auf dem Laptop. Auf dem Bildschirm waren nur verzerrte Farben zu erkennen. Auch so etwas, das ihn wurmte. Hatte Blitz an einem abgestürzten Computer gearbeitet, als er erschossen worden war? Oder hatte er die Daten vorsätzlich unbrauchbar gemacht, um zu verhindern, dass irgendjemand den Inhalt der Festplatte auslesen konnte?
Nacheinander zog er die Schreibtischschubladen heraus. Die beiden oberen waren leer, mit Ausnahme einiger Zettel, Gummibänder und Stifte. Die unterste Schublade war verschlossen, doch es sah so aus, als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht. Er blickte auf und bemerkte, dass vor einer der Wände ein paar Kartons standen. Er sah hinein, musste aber enttäuscht feststellen, dass sie ebenfalls leer waren.
In diesem Augenblick betraten die Leute von der Spurensicherung den Tatort und forderten alle auf, den Raum zu verlassen. Meyer schlüpfte nach von Daeniken in den Flur und raunte ihm zu, dass er den Gänseblümchenschnüffler holen würde. So nannte er den Sprengstoff- und Strahlendetektor.
Während sich die Leute von der Spurensicherung im Haus verteilten, ging von Daeniken nach oben und betrat das Schlafzimmer von Gottfried Blitz. Seine Gedanken kreisten nicht so sehr um das Opfer, sondern um den Mann, der ihn vielleicht getötet hatte. Und um die Frage, weshalb ein Polizistenmörder, dessen Frau bei einem Unfall in den Bergen ums Leben gekommen war, es so eilig gehabt hatte, Blitz einen Besuch abzustatten.
Die Durchsuchung vom Schlafzimmer half ihm nicht weiter. Auf dem Nachttisch lag ein Stapel deutscher Starmagazine, in der Kommode fanden sich ordentlich gefaltete Wäschestücke. Das Badezimmer war vollgestopft mit Eau de Cologne, Haarpflegeprodukten und einer großen Auswahl an verschreibungspflichtigen Medikamenten. Doch nirgends fand von Daeniken etwas, das Blitz mit der Drohne in Verbindung brachte oder einen Hinweis darauf liefern konnte, wofür sie eingesetzt werden sollte.
Von Daeniken setzte sich aufs Bett und starrte aus dem Fenster. Er hatte den Eindruck, dass es bei diesem Fall zwei Lager gab, die sich irgendwie bekämpften. Auf der einen Seite waren Lammers und Blitz gewesen, auf der anderen diejenigen, die ihren Tod wünschten. Die Art der Ermordung in Verbindung mit der Entdeckung der Drohne und dem RDX wiesen auf eine Geheimdienstoperation hin.
Die Vorstellung machte ihn wütend. Falls einer der Nachrichtendienste von einem geplanten Anschlag mit RDX und einer Drohne wusste - am Ende sogar genug, damit man Gegenmaßnahmen ergreifen konnte -, weshalb hatte man sie nicht darüber in Kenntnis gesetzt?
Seine Gedanken wanderten zu Dr. Jonathan Ransom, der offensichtlich den Rettungsdienst gerufen hatte. Dem Bahnhofsleiter zufolge war Ransom versessen darauf gewesen herauszufinden, wer die Gepäckstücke Anfang der Woche nach Landquart geschickt hatte. Demnach konnte Ransom Blitz nicht gekannt haben. Wie aber war er dann an die Gepäckscheine gekommen?
Falls man jedoch von der Annahme ausging, dass Ransom und Blitz zusammengearbeitet hatten - dass sie einander kannten -, ergaben die Vorfälle einen Sinn. Als er nach dem Abholen der Gepäckstücke von der Polizei angehalten wurde, hatte er Panik bekommen, den Polizisten, der ihn verhaften wollte, getötet und bei der überstürzten Flucht vom Tatort dessen Kollegen überfahren. Weil seine Tarnung aufgeflogen war, war Ransom nach Ascona geflohen, um Anweisungen von seinem Vorgesetzten einzuholen. Dass er die Adresse von Blitz nicht kannte, konnte mit einer Grundregel im Spionagegeschäft erklärt werden: die spärliche Lieferung von Informationen, oder anders ausgedrückt: Verrate nur das, was der andere unbedingt wissen muss. Deshalb hatte der Amerikaner auch mit Orsini sprechen müssen.
Und Ransoms Frau? Die Engländerin, die bei einem außergewöhnlichen Unfall in den Bergen ums Leben gekommen war? Hatte Ransom sie womöglich getötet, nachdem sie herausgefunden hatte, dass er ein Spion war?
Von Daeniken starrte finster ins Leere. Er fing langsam an zu verstehen. Aber das alles waren nur Hirngespinste. Er musste in Erfahrung bringen, was sich im Gepäck befunden hatte, was für Ransom so wichtig gewesen war, dass er dafür sogar tötete. Doch die Chancen standen schlecht, es herauszufinden, zumindest in näherer Zukunft. Der Polizist, den Ransom überfahren hatte, lag im Koma. Seine Genesungsaussichten waren alles andere als rosig.
Von Daenikens Handy riss ihn aus seinen Grübeleien.
Es war Meyer, und er klang besorgt. »In der Garage. Komm schnell.«