3

»Sie ist weg.«

Jonathan stand auf der Spitze einer Anhöhe zweihundert Meter vom Fuße der Romansschanze entfernt. Windböen heulten und fegten ihm um die Ohren, hüllten ihn im einen Moment in undurchdringliches Weiß und flauten im nächsten wieder ab. Er hielt sich ein Fernglas vor die Augen und konnte die gekreuzten Skier und die leuchtenden Buchstaben »H-I« auf der Rettungsdecke erkennen. Etwas weiter links entdeckte er auch die orangefarbene Sicherheitsschaufel. Doch von Emma fehlte jede Spur.

Jonathan ließ die drei Helfer der Davos Rettungseinheit stehen und kämpfte sich auf seinen Skiern das letzte Bergstück hinauf. Vier Stunden waren vergangen, seit er von hier aufgebrochen und zu Tal gefahren war, um Hilfe zu holen. Die gekreuzten Skier waren bis zu ihren Bindungen zugeschneit, doch auf ihrem Rucksack lag nur ein Finger breit Schnee. Er öffnete ihn und sah, dass die Sandwiches und Energieriegel fehlten. Die Thermosflasche war leer. Er ließ den Rucksack zu Boden fallen. Der Abdruck von Emmas Körper im Schnee war noch schwach zu erkennen. Sie konnte noch nicht lange weg sein.

Jonathan aktivierte das Lawinenverschütteten-Ortungsgerät, das um seine Brust gebunden war, und drehte sich im Kreis, um alle Punkte auf dem Kompass zu finden. Das System verfügte über eine Zielsuchvorrichtung mit einer Reichweite von einhundert Metern. Das Instrument gab einen langgezogenen Piepton von sich - ein Testsignal -, dann verstummte er. Aus der Ferne drang über den Berghang das Wumm Wumm des absinkenden Schnees zu ihm herüber wie die dumpfen Schläge indianischer Kriegstrommeln.

»Empfangen Sie ein Signal?«, fragte Sepp Steiner, der Leiter der Rettungstruppe, als er Jonathan erreicht hatte. Steiner war ein kleiner, schmächtiger Mann mit hohlen Wangen und zusammengekniffenen Augen.

»Nein, nichts.«

In diesem Moment entdeckte er etwas Rotes im Schnee. Jonathan beugte sich hinab und berührte den Blutstropfen, der die Form eines Blütenblattes besaß. Ein paar Zentimeter entfernt fand er einen weiteren, und nach ein paar Schritten noch einen. »Hier entlang«, sagte er und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.

»Sie sollten nicht weitergehen«, warnte Steiner. »Nur ein paar Meter vor Ihnen befindet sich eine Gletscherspalte.«

»Eine Gletscherspalte?«

»Eine ziemlich tiefe sogar. Sie reicht bis zum Boden des Gletschers.«

Jonathan kniff die Augen zusammen und versuchte die Kluft auszumachen, doch außer der undurchdringlichen weißen Schneewand konnte er nichts erkennen. »Sichern Sie mich mit Seilen.« Die beiden Männer schnallten ihre Skier ab. Dann legte Jonathan einen Sitzgurt an und befestigte das Seil um seine Taille.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Steiner, nachdem er Jonathan an seinem eigenen Gurt gesichert hatte. »Wir wollen Sie nicht auch noch verlieren.«

Jonathan drehte sich um und blickte dem kleineren Mann ins Gesicht. »Bis jetzt ist sie noch nicht verloren.«

Anfangs war es schwierig, die Tropfen zu entdecken, die kaum größer als Reißzwecken waren. Doch dann folgten sie in immer kürzeren Abständen, bis das Blut schließlich eine Punktlinie bildete, so als hätte jemand ein Loch in eine Grenadinedose gebohrt und den Inhalt im Gehen in den Schnee geträufelt. Nur dass die Sirupspur, der Jonathan folgte, die sauerstoffreiche rote Farbe des arteriellen Blutes besaß.

Wie lange es wohl her ist, dass Emma hier entlanggelaufen war?, fragte er sich. Fünf Minuten? Zehn? Er beugte sich erneut vor und konnte erkennen, wo sie ihren unverletzten Fuß aufgesetzt und wo sie den anderen hinter sich hergeschleift hatte. Ein paar Schritte weiter entdeckte er eine Mulde, und in deren Mitte ein gähnendes Loch.

Jonathan ließ sich auf den Bauch fallen, kroch langsam vorwärts und leuchtete mit seiner Taschenlampe in das Loch hinein. Es war ein Stollen aus Eis und Gestein, zehn Meter breit und bodenlos. Er rollte sich zur Seite und überprüfte das Ortungsgerät. Auf der Digitalanzeige erschien die Nummer Achtundneunzig. Jonathan drehte sich der Magen um. Achtundneunzig Meter tief!

»Empfangen Sie ein Signal?«, fragte Steiner. »Ist sie dort drin?«

»Ja«, erwiderte Jonathan knapp. »Ich gehe da runter. Sicherheitsleine festmachen.«

»Sicherheitsleine ist befestigt«, bestätigte Steiner.

Jonathan vergrößerte das Loch mit seiner Axt. Ein Schneestück brach heraus, und unter ihm öffnete sich die Gletscherspalte. Er legte sich flach auf den Rücken, steckte seine Füße in das Loch und schob sich Stück für Stück in den Stollen hinein, bis die Schneedecke unter ihm einbrach. Wie ein Senklot stürzte er hinab in die Dunkelheit, dann krachte er gegen eine Eiswand, bevor sich die Leine spannte und seinen Fall bremste. »Ich bin drin.«

Er stieß sich von der Wand ab und ließ das Seil zwischen seinen Fingern hindurchgleiten, um sich tiefer in die Erdspalte hinunterzulassen. Im Licht der Taschenlampe tat sich eine unberührte und wilde Landschaft vor ihm auf, der ewige Eispalast einer Schneekönigin. Eine unwirkliche Welt. Gletscherspalten waren einem ständigen Wandel unterworfen, dehnten sich aus, verengten sich und waren den gewaltigen Kräften des unter ihnen liegenden, sich unaufhörlich verschiebenden Felsengesteins ausgeliefert.

Nach zehn Metern erblickte er auf einem Felsvorsprung ein schwarzweißes Stück Stoff. Es war Emmas Mütze. Er schwang sich wie ein Pendel vor und zurück und stieß sich von der Eiswand ab, bis er glaubte, den idealen Moment abgepasst zu haben. Beim dritten Anlauf brachte er seinen Körper in eine beinahe waagerechte Position, streckte den Arm aus und ergriff die Mütze.

Mit der Mütze in der Hand richtete er sich wieder auf und leuchtete mit der Taschenlampe den Felsvorsprung ab. Der Schnee dort war blutverschmiert. Keine kleine Fährte diesmal, sondern ein Fleck von der Größe einer Grapefruit. Er konnte nicht länger leugnen, was passiert war: Emma hatte versucht, den Berg hinunterzulaufen. Das hatte dazu geführt, dass ihr gesplitterter Knochen die Oberschenkelarterie durchbohrt hatte. Die Arterie war die Hauptschlagader für das Blut, das vom Herzen in die unteren Gliedmaßen, also Beine, Füße und Zehen, gepumpt wurde. Als Chirurg wusste er, was das bedeutete: Ohne eine Abschnürbinde würde man innerhalb weniger Minuten verbluten.

Er überprüfte das Ortungsgerät. Das Digitaldisplay zeigte immer noch achtundneunzig Meter. Der Pfeil wies nach unten. Er leuchtete mit seiner Lampe in die Richtung, in der er den Grund der Gletscherspalte vermutete. Doch vor seinen Augen gähnte nur ein unendliches Nichts.

»Tiefer«, sagte Jonathan.

»Ich kann Ihnen nur noch fünfundzwanzig Meter geben. Mehr Seil haben wir nicht.«

Jonathan warf einen Blick nach oben. Der Spalt, durch den er gekommen war, wirkte so grell wie ein Riss im Nachthimmel. Er wartete, bis das zweite Seil mit dem ersten verbunden war. Steiner zog an der Leine, und Jonathan ließ sich weiter hinunter. Er ging dabei sehr langsam vor und hielt etwa alle drei Meter an, um seine Umgebung auszuleuchten, Hindernisse zu erspähen und nach Emma Ausschau zu halten. Die Zahlen auf dem Ortungsgerät wurden kleiner. Das Licht der Oberwelt schwand. Die vereisten Wände leuchteten in einem gespenstischen Blau … 70 … 68 … 64 … Plötzlich spannte sich das Seil.

»Weiter geht’s nicht«, rief Steiner.

Jonathan leuchtete mit seiner Lampe nach vorne und nach hinten und warf einen gelben Lichtstrahl auf das Eis unter sich. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Rotes aufblitzen. Seine Bergwachtjacke? Er leuchtete ein wenig nach links und konnte etwas Rötlichbraunes erkennen. Emmas Haar? Sein Herz machte einen Sprung. »Ich brauche mehr Seil. Noch mal dieselbe Länge.«

»Wir haben aber nichts mehr.«

»Dann besorgen Sie was«, befahl er.

»Dafür haben wir keine Zeit. Hinter uns hat sich gerade eine kleine Lawine gelöst. Jeden Moment kann der Schnee auf dem gesamten Berg nachrutschen.«

Jonathan sah sich die beleuchtete Fläche genauer an. Er richtete sein Augenmerk wieder auf den roten Schemen, leuchtete um ihn herum. Ja, es war tatsächlich das Kreuz seiner Bergwachtjacke. Und das Rötlichbraune waren die Haare seiner Frau.

Emma … Das Wort blieb ihm im Halse stecken.

Und dann konnte er auch sie erkennen, zumindest die Umrisse ihres Körpers. Sie lag ausgestreckt auf dem Bauch und hatte einen Arm über den Kopf erhoben, als riefe sie um Hilfe. Doch etwas an dem Bild stimmte nicht … das Eis um sie herum war dunkel. Sie lag in einer Blutlache.

»Sie ist hier«, rief er nach oben. »Wir können an sie herankommen.«

»Sie ist knapp hundert Meter tief gestürzt«, entgegnete Steiner. »Das kann sie unmöglich überlebt haben. Sie müssen wieder raufkommen. Ich werde nicht das Leben von vier Männern aufs Spiel setzen.«

»Emma!«, rief Jonathan. »Ich bin’s. Jonathan. Wenn du mich hörst, beweg bitte deine Hand.«

Der Körper seiner Frau blieb reglos, während seine Stimme in der Erdspalte verhallte.

»Hören Sie auf zu schreien«, sagte Steiner mit unterdrücktem Ärger in der Stimme. »Sie werden uns noch alle umbringen.«

Das Seil machte einen Ruck. Jonathan wurde gegen die Wand geschleudert und ein Stück in die Höhe gerissen. Dann zog Steiner das Seil mitsamt seiner Last nach oben. Blind vor Wut rammte Jonathan die Spikes seiner Schuhspitzen ins Eis, zog sein Messer und bewegte die Klinge nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in Richtung Seil. Er hatte Steigeisen dabei. Er besaß eine Eisaxt. Er würde an der Wand zu ihr hinunterklettern …

Er starrte wieder hinab in die Tiefe und hielt die Augen fest auf ihre Umrisse gerichtet. Ihr Körper wirkte bereits kleiner und irgendwie fremd. Er konnte kein Lebenszeichen entdecken. Es spielte keine Rolle mehr, ob Steiner mit seiner Vermutung Recht hatte, ob sie zu tief gefallen oder ob ihr Sturz durch irgendwelche Hindernisse abgebremst worden war. Sie hatte inzwischen einfach zu viel Blut verloren.

Er zog die Hand mit dem Messer zurück und befreite die Steigeisen aus der Eiswand. Das Rettungsseil spannte sich erneut, dann wurde Jonathan einen weiteren Meter aus der Gletscherspalte nach oben gezogen. Erneut schwenkte er seine Lampe in Richtung des roten Schemens, doch er konnte ihn nicht mehr ausmachen. Er hatte seine Frau aus den Augen verloren.

»Emma!«, rief er, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Doch er erhielt keine Antwort. Nur seine eigene Stimme hallte in einem langgezogenen Echo von den Wänden wider.

Reich, Christopher
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