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In Israel war es drei Stunden früher als in der Schweiz. Von Regen und Schnee gab es hier keine Spur, stattdessen brannte unerbittlich die Sonne vom Himmel. Das Quecksilber näherte sich der Jahrhundertmarke, während die Küstenstriche des östlichen Mittelmeeres zu Beginn des Frühlings unter einer Hitzewelle fast verschmachteten.
Fünfzehn Kilometer nördlich von Tel Aviv, im felsigen Küstenstädtchen Herzlia, war im zweiten Stock des »Institutes für Aufklärung und besondere Aufgaben« - besser bekannt als Mossad - eine Sondersitzung einberufen worden. Anwesend waren die Leiter der wichtigsten Abteilungen des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Es waren dies die Sammlungsabteilung, die sämtliche Spionageaktionen leitete, die Abteilung für politische Aktionen und Zusammenarbeit, welche die Arbeit mit ausländischen Geheimdiensten koordinierte, und die Abteilung für spezielle Operationen - auch Metsada genannt -, die all das erledigte, was in diesem Geschäft auf höchster Geheimhaltungsstufe ablaufen musste, wie etwa Auftragsmord, Sabotage und Entführungen.
»Seit wann haben sie eine Aufbereitungsanlage in Chalus?«, wollte ein fetter, auffallend unattraktiver Mann wissen, der am Kopfende des Raumes ruhelos hin und her lief. »Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie ihre Anreicherungsversuche ausschließlich in der Provinz Esfahan durchgeführt haben.« Mit dem kurzärmeligen Hemd, dem schütteren schwarzen Haar, dem faltenlosen Gesicht und den hervorstehenden Reptilienaugen hätte er um die vierzig oder aber auch siebzig sein können. Seine Aura aus wilder Entschlossenheit jedoch war unverkennbar. Der Mann hieß Zvi Hirsch und war seit sieben Jahren Chef des Mossad.
»Wir können keinerlei Hinweise finden. Keine Satellitenbilder. Nichts«, sagte der Leiter der Sammlungsabteilung. »Sie sind sehr geschickt vorgegangen. Es ist ihnen offenbar gelungen, den Bau der Aufbereitungsanlage geheim zu halten.«
»Das kann man wohl sagen!«, rief Zvi Hirsch. »Wie viele Zentrifugen braucht man, um diese Menge an Uran anzureichern? Wir sprechen über einhundert Kilogramm in weniger als zwei Jahren.«
»In so kurzer Zeit? Mindestens fünfzigtausend.«
»Und wie viele Firmen stellen Zentrifugen her, die für diese Art der Nutzung geeignet sind?«
»Weniger als hundert«, sagte der Leiter der Sammlungsabteilung. »Der Export wird streng kontrolliert und überwacht.«
»Das hat man ja gesehen«, erwiderte Hirsch trocken.
»Sie haben ihre Zentrifugen ohne jede Frage über eine andere Quelle bezogen«, sagte der Leiter von Metsada. Er war dunkelhäutig und dürr wie eine Bohnenstange. Mit seiner sanften Stimme erweckte er den Eindruck, er könne keiner Fliege etwas zuleide tun. »Höchstwahrscheinlich von einer Firma, die Dual-Use-Equipment herstellt.«
»Und jetzt noch mal auf Hebräisch, bitte.«
»Das sind technische Geräte für zivile Einsatzwecke, die aber auch militärisch genutzt werden können. In diesem Fall wahrscheinlich Teile, die zur Anreicherung von Kraftstoff gebraucht werden. Hochgeschwindigkeitszentrifugen, die zur Herstellung von Joghurtkulturen an Molkereien verkauft werden, aber auch dazu verwendet werden können, Hexafloridgas zu gewinnen. Oder Luftkühler für Stahlwerke, die ebenso zur Reaktorkühlung verwendet werden können. Diese Waren unterliegen keiner Exportbeschränkung und benötigen auch keine amtliche Bescheinigung vom Endabnehmer. Sie müssen es sich als eine Operation unter falscher Flagge vorstellen.«
»Falsche Flagge? Ich ging davon aus, dass wir den Markt in diesem Bereich fest unter Kontrolle haben.« Hirsch verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. »Okay, sie sind also irgendwie an das Zeug herangekommen. Können sie die Atomraketen auf uns abfeuern?«
»Sie haben vor sechzig Tagen mit Erfolg die Shahab-4-Langstreckenrakete getestet«, sagte der Leiter der Sammlungsabteilung.
»Wie viel Zeit bliebe uns zwischen Zündung und Aufprall?«
»Höchstens eine Stunde.«
»Können wir sie abfangen?«, fragte Hirsch.
»In der Theorie sind wir so sicher, wie ein Baby im Arm seiner Mutter.«
Israel verließ sich auf ein zweistufiges Luftverteidigungssystem, um Langstreckenraketen über dem Land abzuschießen. Da war zum einen die Arrow-II-Boden-Luft-Rakete, und zum anderen das Patriot-Raketenabwehrsystem. Beide hatten denselben Schwachpunkt: Sie konnten erst gestartet werden, wenn die Angreiferrakete hundert Kilometer vom Zielort entfernt war - also nur wenige Minuten vor dem Einschlag. Und keines der Systeme war bislang in einem Krieg auf seine Wirksamkeit getestet worden.
»Was ist mit Waffen, die aufgrund ihrer geringen Hitzeemission nicht auf dem Radar zu erkennen sind? Besitzen sie irgendwelche Marschflugkörper?«
»Den Gerüchten nach schon, wenngleich uns nichts in dieser Richtung bekannt ist.«
»Hoffen wir, dass es nur Gerüchte sind«, sagte Hirsch. »Wie steht es um die Zielgenauigkeit der Shahab?«
Der Leiter der Abteilung für politische Aktionen und Zusammenarbeit meldete sich zu Wort. »Über die Zielgenauigkeit müssen sich Deutschland, Frankreich und die USA Sorgen machen. In unserem Fall tut es nichts zur Sache. Jeder Treffer im Umkreis von 80 Kilometern rund um das eigentliche Ziel wäre fatal. Wenn sie fünfzigtausend Zentrifugen direkt vor unserer Nase ins Land schmuggeln und eine hypermoderne Anlage bauen können, ohne dass irgendjemand es mitbekommt, würde es mich nicht überraschen, wenn sie auch in diesem Bereich Fortschritte gemacht haben.«
»Und nun?« Hirsch rieb sich seine dicken, unbehaarten Arme. »Sollen wir die Hände heben und uns ergeben? Ist es das, was unsere persischen Freunde von uns erwarten? Denken sie allen Ernstes, dass wir untätig herumsitzen, während sie ihre Raketen auf uns richten, deren Sprengköpfe unsere Städte auslöschen können?«
Als ehemaliger Generalmajor der israelischen Verteidigungsarmee konnte er sich ein Szenario nach einem Atomraketenangriff auf sein Land nur zu gut vorstellen. Israel erstreckte sich über eine Fläche von etwa vierhundertzwanzig Kilometern Länge und einhundertsechzehn Kilometern Breite. Doch neunzig Prozent der Bevölkerung lebte rund um Jerusalem und Tel Aviv, zwei Städte, die nur etwa fünfzig Kilometer voneinander entfernt lagen. Ein Nuklearangriff auf eine der beiden Städte würde nicht nur einen signifikanten Prozentsatz der Bevölkerung töten, sondern auch die Infrastruktur des Landes vernichten. Die radioaktive Verseuchung würde den gesamten Landstrich für Jahre unbewohnbar machen. Im Klartext hieße das, die Überlebenden könnten nirgendwohin fliehen und müssten das Land verlassen. Eine neue Diaspora.
Keiner seiner Abteilungsleiter antwortete ihm.
»Ich habe in einer Stunde ein Treffen mit dem Premierminister«, fuhr Hirsch fort. »Ich würde ihn gern davon überzeugen, dass man uns nicht mit unseren Schwänzen in der Hand erwischt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass ihn nur eine einzige Frage interessiert: Haben sie ernsthaft vor, ihre Raketen auf unser Land abzufeuern?«
Der Leiter der Sammlungsabteilung schürzte die Lippen. »Der iranische Präsident glaubt an die Apokalypse, wie sie im Koran beschrieben wird. Er betrachtet es als seine persönliche Aufgabe, die Wiederkunft des zwölften Imam mit Namen Mahdi, des rechtmäßigen Nachfolgers des Propheten Mohammed, zu beschleunigen. Es steht geschrieben, dass Mahdis Wiederkunft ein Konflikt zwischen den Mächten Gottes und denen Satans vorausgehen wird, der eine lange Zeit des Krieges, des politischen Umbruchs und des Blutvergießens nach sich ziehen wird. Am Ende dieses Gefechts wird der Imam Mahdi die Welt in ein Zeitalter des universellen Friedens führen. Aber zuerst muss er natürlich Israel zerstören.«
»Na wunderbar«, sagte Hirsch. »Erinnern Sie mich daran, mich besser nicht an Sie zu wenden, wenn es mal gute Nachrichten sein sollen.«
»Das ist noch nicht alles. Das Bestreben des Präsidenten, die Kontrolle an den Schalthebeln der Macht zu übernehmen, war bislang von großem Erfolg gekrönt. Er hat hunderte von einflussreichen Männern aus den Ressorts Bildung, Medizin und Diplomatie entlassen, die seine Überzeugungen nicht geteilt haben, und ihre Posten mit seinen Kumpanen aus der republikanischen Garde besetzt. Und was noch schlimmer ist, er hat einen seiner Männer zum religiösen Führer des Landes wählen lassen. Vor sechs Monaten hätten die obersten Geistlichen die ambitionierten Pläne des Präsidenten vielleicht noch bremsen können. Doch das hat sich inzwischen gründlich geändert. Dieser neue Mann, Ayatollah Razdi, ist unberechenbar und gebärdet sich wie das Sprachrohr Mohammeds. Er ist ganz sicher kein rational denkender Akteur in diesem Spiel.«
»Wenn Sie wissen wollen, ob er die Bombe hochgehen lassen würde«, sagte der Leiter von Metsada, »so kennen Sie nun also meine Antwort.«
Der Leiter der Sammlungsabteilung nickte. »Der Präsident führt den Iran zurück ins Zeitalter Mohammeds. Bei verschiedenen Anlässen hat er öffentlich erklärt, der Prophet selbst habe zu ihm gesprochen und ihm gesagt, dass die Gläubigen nur mehr zwei Jahre auf Seine Wiederkunft warten müssen. Kurz: In der einen Hand hält er den Koran und in der anderen die schussbereite Waffe.«
»Er kann sein Programm nicht ewig unter Verschluss halten.« Die Stimme des Leiters von Metsada hatte einen verächtlichen Tonfall angenommen. »Wenn die Nachricht nach außen dringt, weiß er, dass wir handeln werden.«
»Vorausgesetzt, er handelt nicht schneller.« Hirsch ließ sich ächzend auf seinen Stuhl fallen. »Das alles ist wie eine Neuauflage vom März 1936.«
»Was meinen Sie damit?«
»Als Hitler seine Wehrmacht ins Rheinland einmarschieren ließ, um die entmilitarisierte Zone zurückzuerobern, die Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg besetzt hatte. Seine Soldaten waren schlecht ausgebildet und erbärmlich ausgestattet. Einige hatten nicht mal Munition für ihre Gewehre. Der Kommandant hatte zwei Befehle in der Tasche. Einen für den Fall, dass die Franzosen sich wehren würden, und den anderen für den Fall, dass sie es nicht täten.«
»Die Franzosen ließen die Scheißdeutschen einfach einmarschieren und behandelten sie sogar wie Befreier. Der Kommandant öffnete den ersten Befehl. Er lautete: Besetzen Sie das Territorium, und verteilen Sie deutsche Fahnen an die Bevölkerung. Das Ereignis hatte Signalwirkung. Bis zu diesem Tag war Hitler nichts weiter als ein Großmaul und ein Aufschneider. Nachdem er jedoch das Rheinland zurückerobert hatte, fing er an, seinen Worten selbst Glauben zu schenken. Und so ging es auch dem Rest der Welt.«
»Entschuldigen Sie, Zvi«, unterbrach ihn der Leiter der Sammlungsabteilung. »Was stand in dem zweiten Befehl.«
»Im zweiten Befehl?« Zvi Hirsch lächelte wehmütig. »Falls sie unter Beschuss geraten würden, sollte der Kommandant sich sofort zurückziehen und die Soldaten wieder in ihre Baracken schicken. Im Wesentlichen also: Abbruch und Flucht beim geringsten Anzeichen von Gegenwehr. Eine Niederlage wäre für das Land zu groß gewesen, um sie zu ertragen. Die Regierung hätte vor dem Aus gestanden. Nur ein Schuss, und Hitler wäre aus dem Rheinland und seinem Amt vertrieben worden.«
»Wollen Sie damit sagen, dass wir dem Iran nur Paroli bieten müssen?«
Hirsch drehte sich um und starrte aus dem Fenster. »Ich fürchte, so einfach wird es dieses Mal nicht werden.«