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Milli Brandt konnte nicht schlafen. In Josefstadt, einem angesagten Stadtbezirk in Wien, warf sie sich in ihrem Bett hin und her, unfähig, an etwas anderes zu denken als an den verflixten Bericht, den Mohammed el-Baradei während der eilig anberaumten Konferenz vor sechs Stunden vorgelesen hatte. »Konzentration von sechsundneunzig Prozent … einhundert Kilogramm … ausreichend für vier oder fünf Bomben.« Die Worte verfolgten sie wie die Erinnerung an einen schlimmen Unfall. Aber der Ausdruck auf el-Baradeis Gesicht war noch schlimmer gewesen - Pein und Ärger und Frustration überlagerten das, was sie für Kapitulation hielt. Die Würfel waren gefallen. Die Welt würde erneut in Krieg und Chaos versinken.
Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Ihr Atem ging schnell, und sie musste die Luft anhalten, bevor sie das Glas Wasser neben ihrem Bett hastig hinunterstürzte. Leise stand sie auf und schlich den Flur zu ihrem Arbeitszimmer hinunter. Drinnen schloss sie die Tür hinter sich und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ein Gefühl von Entschlossenheit breitete sich in ihr aus. Sie zerbrach sich nicht länger den Kopf, sondern handelte. Ich tue das aus Pflichtbewusstsein, sagte sie sich.
Mit ruhiger Hand hob sie den Telefonhörer. Erstaunlicherweise erinnerte sie sich an die Nummer, die sie vor all den Jahren für den Notfall bekommen hatte und die sie damals auswendig lernen musste. Das Telefon klingelte einmal, zweimal. Während sie wartete, wurde ihr klar, dass ihr Leben gerade eine drastische Wendung nahm und nicht länger das sein würde, was es noch vor einer Minute gewesen war. Sie war nicht länger die Vizedirektorin des Ressorts Technische Zusammenarbeit bei der internationalen Atomenergiebehörde. In diesem Augenblick war sie nur noch Patriotin und zu einem kleinen Teil auch eine Spionin. Nie im Leben war sie so von einer Sache überzeugt gewesen.
»Ja«, ertönte eine Stimme in einem brüsken, fordernden Tonfall.
»Hier ist Millicent Brandt. Ich muss mit Hans über die Königlichen Lipizzaner sprechen.«
»Bleiben Sie am Apparat.« Sie konnte praktisch hören, wie der Mann am anderen Ende der Leitung seine Akten oder Protokolle checkte, oder was auch immer der Geheimdienst tat, wenn er einen Anruf von einem seiner Agenten bekam.
»Agent« war natürlich nicht das passende Wort. Aber schließlich war auch Millicent Brandt nicht ihr richtiger Name. Ihr Geburtsname lautete Ludmilla Nilskova. Sie stammte aus Kiew und war die dritte Tochter eines sehr liberalen jüdischen Apothekers, eines Verweigerers, der vor mehr als dreißig Jahren zunächst nach Jerusalem und dann nach Österreich immigriert war. Obwohl sie mit der deutschen Sprache groß geworden war, österreichische Schulen besucht hatte und einen österreichischen Pass besaß, hatte sie nie das Land vergessen, das ihre Familie aus der Sowjetunion gerettet hatte. Kurz nachdem sie bei der IAEA angefangen hatte, hatte sie einen Anruf von einem Mann erhalten, der behauptete, ein alter Bekannter der Familie zu sein. Sie hatte zwar nicht den Namen, aber den Akzent wiedererkannt.
Sie trafen sich in einem diskreten Restaurant in der Nähe von Belvedere, weit weg von ihrem Arbeitsplatz, am anderen Ende der Stadt. Es war eine recht ungezwungene Konversation gewesen, und sie hatten über viele Themen gesprochen. Ein bisschen Politik, ein bisschen Kultur. Interessanterweise wusste der Bekannte (den sie in der Tat nie zuvor gesehen hatte) alles über ihre Liebe zum Reiten, zu Mozart und sogar über ihre monatlichen Besuche des Bibelkreises.
Kurz vor Ende des Essens fragte er sie, ob sie ihm vielleicht einen Gefallen tun würde. Sofort begannen ihre Alarmglocken zu läuten. Er berührte leicht ihren Arm, um ihre Sorgen zu zerstreuen. Sie sollte ihn nicht falsch verstehen. Er wollte nichts Überstürztes. Nichts Unangemessenes. Natürlich auch nichts, womit sie ihre Arbeit riskierte. Im Gegenteil, es war absolut notwendig, dass sie ihren Job behielt. Alles, worum er sie bat, war, dass sie zu ihrem gemeinsamen Wohl wachsam blieb. Und er nahm ihr das Versprechen ab, ihn in Kenntnis zu setzen, falls sie etwas herausfinden würde, das vielleicht die Sicherheit ihres Wahlheimatlandes gefährden könnte.
Er nannte ihr eine Telefonnummer und den Satz, den sie sagen sollte, falls sie jemals die Notwendigkeit sah, ihn anzurufen. Er bat sie, sich beides einzuprägen und bestand darauf, sie so lange abzufragen, bis sie die zehnstellige Nummer und die Parole fehlerfrei aufsagen konnte. Nachdem er den geschäftlichen Teil erledigt hatte, nahm er seine ungezwungene Haltung wieder an, umarmte sie und sprach ihr seinen herzlichsten Dank aus.
Als sie in das Taxi stieg, das sie nach Hause bringen sollte, fühlte Ludmilla Nilskova alias Millicent Brandt eine unvertraute Regung in ihrer Brust. Eine Mischung aus Angst, Abscheu und Nervenkitzel. Sie gehörte nun zum Kreis der zahllosen Verbündeten - Manager, Würdenträger, Bürokraten und Fachleute aus allen Lebensbereichen -, die dem Staat Israel die Treue geschworen und versprochen hatten, dem Land auf jede erdenkliche Art und Weise zu helfen.
Die kurz angebundene Stimme am Telefon meldete sich zurück. »Hans wird Sie um zehn Uhr morgens in der Gloriette beim Schloss Schönbrunn treffen. Halten Sie eine Ausgabe des Wiener Tagblattes in der Hand, und achten Sie darauf, dass das Impressum sichtbar ist.«
»Ja«, sagte sie. »Selbstverständlich.« Doch die Verbindung war bereits unterbrochen.
Milli Brandt hängte auf. Sie hatte es getan. Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Sie war nun ganz offiziell eine sayyan.
Eine Freundin.